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       # taz.de -- US-Journalisten in der NS-Zeit: Auf der Sofakante der Nazis
       
       > Sie waren mutig und wurden benutzt. Norman Domeier beleuchtet das
       > Verhalten von US-Auslandskorrespondenten in Berlin von 1933 bis 1940.
       
   IMG Bild: Mussolini, Hitler, sein Dolmetscher und Chamberlain am 30. September in 1938 in München
       
       Es war ein Scoop sondergleichen. Die [1][Münchner Konferenz über die
       Zukunft der Tschechoslowakei] elektrisierte die Medien weltweit. Beim
       Verlassen des Hotels „Vier Jahreszeiten“ gelang es Max Jordan, dem
       Berlin-Korrespondenten von NBC, eine Kopie des Münchner Abkommens aus der
       Hand eines britischen Delegationsmitglieds zu erhalten. Fünf Minuten später
       lief der gesamte Text über das Abtreten des Sudetenlands an das Deutsche
       Reich über den Äther, noch bevor andere Diplomaten davon überhaupt Kenntnis
       erhielten.
       
       Diese Episode beschreibt eine Seite der Arbeit der Berliner
       Auslandskorrespondenten in Nazideutschland. Immer auf der Jagd nach
       Exklusivmeldungen, zapften die Kollegen keineswegs nur Quellen aus dem
       Lager der späteren Alliierten an. Ebenso machten sie sich die
       Eifersüchteleien innerhalb der Nazi-Elite zunutze. Berlin, das war damals
       für die Weltpresse eine allererste Adresse.
       
       Die Scoops sind längst vergessen. Geblieben aber ist die grundsätzliche
       Frage, wie sich Journalisten in einer Diktatur verhalten sollen und
       verhalten müssen. Norman Domeier gebührt das Verdienst, die erste
       umfassende Studie über die US-amerikanische Auslandspresse im „Dritten
       Reich“ vorgelegt zu haben.
       
       Er hat die Nachlässe der damaligen US-Auslandskorrespondenten aufgetrieben
       und vergleicht sie mit den Hinterlassenschaften von Nazideutschland. Einige
       seiner Ergebnisse sind nicht nur von historischem Wert, sondern berühren
       das Selbstverständnis und, das hehre Wort sei hier erlaubt, Grundsätze der
       Ethik des Journalismus bis heute.
       
       Als die Nazis 1933 die Macht erobert hatten, war ihr Verhalten gegenüber
       der Auslandspresse von tiefer Ablehnung geprägt. Das änderte sich bald,
       denn das Regime erkannte, dass gefestigte Beziehungen von Nutzen sein
       konnten. Tatsächlich verfügten die Korrespondenten über erstaunliche
       Freiheiten, die weit über das hinausgingen, was der NS-Staat seinen
       „Volksgenossen“ zubilligte: Sie durften ohne Strafandrohung ausländische
       Rundfunksender abhören sowie Zeitungen erwerben; das Regime bot ihnen
       kostenfreie Pressefahrten und Karten für Theater und Konzerte.
       
       ## Seiltanz ohne Sicherheitsnetz
       
       Auf der anderen Seite stand die Drohung einer Ausweisung bei unbotmäßiger
       Berichterstattung. Beständige, gar polemische Kritik endete nicht selten
       mit der zwangsweisen Entfernung. Für die Korrespondenten wurde ihre Arbeit
       so zu einem Seiltanz ohne Sicherheitsnetz. Die Folge war, auch ohne formale
       Vorzensur für die Print-Presse, eine Schere im Kopf.
       
       Manche Dinge konnten nicht berichtet werden, ohne Gefahr zu laufen, der
       Spionage bezichtigt zu werden. Das betraf etwa die Aufrüstungspolitik.
       Selbst geheime Informationen landeten auf den Redaktionstischen. Aber nicht
       immer wagte man es, diese auch weiterzugeben. Die geplante Besetzung des
       Rheinlands war einigen Journalisten schon Tage zuvor bekannt, ebenso
       diejenige Dänemarks. Berichte unterblieben auch deshalb, weil man sich nie
       sicher sein konnte, ob die vermeintlichen News die nächsten Tage überleben
       würden.
       
       Die Diskriminierungen gegenüber den Juden im Reich lagen in den 1930er
       Jahren offen zutage, Berichte waren in Grenzen möglich, solange sie
       sachlich und unkommentierend blieben. Ein großartiges Beispiel für die
       mutige Berichterstattung aus der Diktatur sind die Berichte der
       Auslandspresse über die [2][Pogromnacht vom November 1938]. Im Inland hatte
       die NS-Führung die Direktive ausgegeben, den angeblichen spontanen
       Volkszorn gegen die Juden nur kurz und im Innenteil der Blätter zu
       vermelden. Bei der Auslandspresse scheiterte diese Ansage.
       
       ## Schlagzeilen über Pogromnacht auf Befehl
       
       Die Nachrichten vom Pogrom auf Befehl höchster Stelle gingen in großen
       Schlagzeilen um die Welt. Korrespondenten berichteten on the spot von
       Bränden und Plünderungen. Associated Press gelang es sogar, aktuelle Fotos
       zu übermitteln. Und so mancher Kollege half danach privat bedrohten
       Jüdinnen und Juden in der Reichshauptstadt.
       
       Den NS-Gewaltigen lag daran, die US-Medien in ihren Sinne zu
       funktionalisieren. Die größte Chance dazu bot sich immer dann, wenn dabei
       ein Scoop angeboten wurde, also etwa ein Interview mit Adolf Hitler. Karl
       von Wiegand war langjähriger Berlin-Korrespondent für den reaktionären
       Hearst-Konzern. Im Juni 1940 bekam er das Angebot einer Unterredung mit dem
       „Führer“, passgenau zum Einmarsch der Wehrmacht in Paris.
       
       Tatsächlich bediente Hitler mit seinem Kernsatz „Europa den Europäern,
       Amerika den Amerikanern“ die Isolationisten in den USA, die eine Parteiname
       im Krieg ablehnten. Das Gespräch schaffte es in Amerika bis auf die
       Titelseiten. Es spielte den Nazis in die Hände und wurde im Völkischen
       Beobachter nachgedruckt. Der Scoop war gelungen, aber auf Kosten der
       demokratischen Welt.
       
       ## Goebbels plante die Journalistenreise
       
       Noch drastischer waren die Konsequenzen, als AP-Chefkorrespondent Louis
       Lochner im September 1939 einer Einladung zum Besuch der besetzten Gebiete
       Polens folgte. Seine Reise war von Joseph Goebbels sorgfältig geplant
       worden. Der Journalist sollte die Schwarze Madonna von Tschenstochau in
       Augenschein nehmen, von der behauptet worden war, sie sei beim Angriff der
       Hitler-Truppen zerstört worden. Tatsächlich konnte Lochner dieses Symbol
       Polens unversehrt in Augenschein nehmen, entsprechend berichten und so die
       polnische Propaganda Lügen strafen.
       
       So war die größte Nachrichtenagentur der Welt zum Propagandainstrument der
       Nazis geworden. Schlimmer noch: Die NS-Machthaber hatten die Lüge von der
       zerstörten Madonna offenbar zuvor selbst in die Welt gesetzt, um diese
       durch die Augen einer über jeden Zweifel erhabenen Quelle dementieren zu
       lassen.
       
       Nein, dies war keine Kollaboration. Aber so dienten Journalisten den
       Interessen des Feindes der Demokratie. In den letzten Monaten ihrer Arbeit
       in Berlin bis zur Ausweisung infolge des Kriegseintritts der USA im
       Dezember 1940 blieben die Boten der freien Welt weitgehend von allen
       unabhängigen Informationen abgeschnitten, verdammt zum Wiederholen der
       NS-Propaganda. Der CBC-Korrespondent William Shirer zog daraus schon vor
       dem Ende den Schluss, dass es das Beste wäre, wenn man Berlin verließe.
       
       Wirklich beendet war der Job in Berlin auch nach der Ausweisung nicht,
       zumindest was Associated Press betraf. Denn die Agentur begründete zusammen
       mit reichsdeutschen Stellen einen Bildertausch, der NS-Nachrichtenbilder
       fortan bis 1945 via Lissabon und Stockholm druckfrisch in den Westen
       brachte, wo sie, mit neuen Bildunterschriften versehen, den Interessen der
       Nazis im Nachrichtenkrieg dienten. Es fällt schwer, dies nicht als
       Kollaboration zu bewerten, auch wenn es vom US-Präsidenten abgesegnet war.
       
       So detailreich und spannend Domeiers Ausführungen zur Arbeit der
       US-Journalisten in Berlin ausgefallen sind – weniger überzeugend erscheint
       sein Kapitel zur Berichterstattung über den Holocaust. Zu Recht
       diagnostiziert der Autor, dass dieses Thema, von Ausnahmen abgesehen,
       extrem unterbelichtet blieb. Kurze Berichte über Massenmorde versteckten
       sich meist in den Innenseiten der Tageszeitungen in den alliierten Ländern.
       
       ## Massenmord unterbelichtet
       
       Noch bis zur Befreiung der Konzentrationslager war der Massenmord an
       Millionen Menschen eines unter vielen Themen. Dafür jedoch den Berliner
       US-Korrespondenten eine Mitschuld zu geben, ist mehr als wagemutig. Die
       Frauen und Männer erhielten generell keine Genehmigungen zu eigenen Reisen
       in das besetzte Polen oder in die eroberten Gebiete der Sowjetunion, eine
       Recherche vor Ort war unmöglich. Die allgemeinen Aussagen von Hitler und
       Goebbels über eine Vernichtung der Juden waren einigen Korrespondenten zwar
       bekannt. Aber allein auf diesen Propagandareden ließ sich keine seriöse
       Berichterstattung aufbauen. Schon gar nicht wäre es den US-Medien „ein
       Leichtes“ gewesen, mithilfe von Kollegen im neutralen Ausland Näheres zu
       recherchieren.
       
       Erste Details über den Holocaust erreichten die westliche Welt über drei
       Quellen: Der deutsche Industrielle Eduard Schulte informierte den Jüdischen
       Weltkongress in Genf, der den Bericht an die Alliierten weitergab.
       Polnische Juden gaben Details zum Mord durch Giftgas an die polnische
       Exilregierung in London weiter, die die Briten informierten. Und
       polnisch-jüdische Angehörige eines Austauschs von Zivilisten aus von
       Deutschland beherrschten Ländern und Palästina berichteten von den
       furchtbaren „Aktionen“ der SS in ihrer Heimat und von den Zügen in die
       Lager.
       
       Die Informationen stießen im Westen auf Unglauben und Skepsis. Entsprechend
       blieb ein öffentlicher Aufschrei aus, das ist im Nachhinein ein
       unverzeihlicher Fehler. Aber alle drei Quellen, die von Domeier nicht
       genannt werden, taten sich erst im Jahr 1942 auf – zu einem Zeitpunkt also,
       als die letzten Amerikaner das Deutsche Reich verlassen hatten.
       
       16 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hillenbrand
       
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