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       # taz.de -- Forum zu Rassismus und Antisemitismus: Tücken globaler Erinnerung
       
       > Debatten über Rassismus und Antisemitismus werden oft überhitzt geführt.
       > In Bielefeld war man nun versucht, nüchtern Differenzen auszuloten.
       
   IMG Bild: Klingt einfach, ist aber schwer: Wer definiert, was antisemitisch ist?
       
       Whoopi Goldberg hat kürzlich in den USA einen kleinen Skandal ausgelöst.
       Der Holocaust sei kein rassistisches Verbrechen gewesen – von Rassismus
       konnte in ihrer Vorstellungswelt nur die Rede sein, wenn Weiße Schwarze
       ausgrenzen, verfolgen, töten. Goldberg [1][entschuldigte sich umgehend].
       Die Vernichtung der Juden war ein rassistisch motiviertes Verbrechen.
       
       Die Affäre erhellte schlaglichthaft jenes verwirrende Knäuel von
       Erinnerungskonkurrenzen, in dem postkoloniale Geltungsansprüche und die
       Fixierung auf den Holocaust als einzigartigem Genozid rivalisieren. In der
       Debatte purzeln historische Fakten und oft mit Verdachtsrhetorik
       aufgeladene Kämpfe, wer mitreden darf, munter durcheinander.
       
       Die identitätspolitische Aufladung macht den Diskurs noch schwieriger. Seit
       die Debatten, anders als vor 20 Jahren, global geführt werden, gibt es noch
       eine weitere für Missverständnisse anfällige Ebene. Black Live Matters
       scheint die deutsche Rassismusdebatte mehr geprägt zu haben als die
       NSU-Morde. Das ist eine Verwechslung, weil antischwarzer Rassismus
       hierzulande eine kleinere Rolle als in den USA spielt. Es ist kompliziert.
       
       „[2][Antisemitismus und Rassismus. Konjunkturen und Kontroversen seit
       1945]“ lautet der erfreulich kühle Titel einer zeithistorischen Debatte am
       Freitag in Bielefeld, die geschichtliche Tiefenbohrungen mit Aktuellem zu
       verschränken versprach.
       
       Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum, Leiterin des [3][Zentrums für
       Antisemitismusforschung] an der TU Berlin, nahm erst mal die eigene Branche
       unter Beschuss und sah eine doppelte Engführung. Die Auseinandersetzung mit
       der NS-Zeit sei vor allem eine innerdeutsche gewesen, die nach 1945
       displaced persons, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ausklammerte. Noch 2022
       seien die Geschichtswissenschaften ein „ziemlich autochthones Gebiet“. Soll
       heißen: weiß, deutsch, zu wenig divers. Eine Stoßlüftung durch die
       globalisierte Erinnerungskultur ist da offenbar mal nötig.
       
       [4][Ulrich Herbert, einer der kundigsten NS-Historiker], umschiffte
       großformatige Urteile und stellte die Etappen im Umgang mit Antisemitismus
       nach 1945 dar. In der Bundesrepublik machten die NS-Eliten rasante
       Karrieren – dafür passten sie sich an. In diesem Deal wurde Antisemitismus
       tabuisiert. „Noch nicht mal die höchsten Nazis wollten Antisemiten sein“,
       so Herbert.
       
       ## Totaler Vernichtungswille
       
       Rassismus und Antisemitismus, so die Einschätzung unisono, seien nicht das
       Gleiche. Rassismus sei eine „Essentialisierung sozialer Differenzen“, so
       Schüler-Springorum. Die Judenverfolgung war rassistisch – und mehr. Die
       Nazis imaginierten die Juden als allmächtig. Der Antisemitismus sei, über
       den Rassismus hinaus, somit die Verschwörungstheorie der Moderne. Die
       Phantasie der omnipotenten Juden motivierte den totalen Vernichtungswillen
       der Nazis.
       
       Herbert warnte davor, Antisemitismus begrifflich zu entgrenzen und mit
       immer-mehr-Rhetorik zu versehen. Studien zeigten, dass in der
       Bundesrepublik seit 50 Jahren stabil etwa 15 Prozent antisemitisch und
       rechtsextrem eingestellt sind. Zudem führe auch ein politisch überdehnter
       Antisemitismusbegriff, der Kritik am israelischen Besatzungsregime
       diffamiere, in die Irre.
       
       Seit gut zehn Jahren werden die Opfer-Erinnerungskulturen, vor allem um
       Judenmord und Kolonialismus, globalisiert. Das hat etwas Öffnendes, aber
       wie jede Globalisierung auch sinistre Seiten. In den USA existieren 22
       Holocaust-Museen. Dort hätten manche den Eindruck, so Herbert, dass die
       Erinnerung an den Holocaust „wichtiger sei als die an die Sklaverei“. Das
       macht Whoopi Goldbergs Fehleinschätzung des Holocausts nicht plausibel,
       aber verständlicher.
       
       ## Ist Rassismus überall?
       
       Umgekehrt erleben wir einen Transfer von postkolonialen Diskursen und
       Antirassismus aus den USA nach Deutschland. Auch das sei zwiespältig,
       befand Herbert. Im Land der Massenmörder sei die Erinnerung
       verständlicherweise und erst seit 20 Jahren auf den Holocaust fixiert. Die
       globalisierte Erinnerungskultur katalysiert Konkurrenzen. Es geht hier
       immer um handfeste politische und moralische Geltungsansprüche.
       
       Im zweiten, aktuellen Teil debattierten die Soziologin Teresa Koloma Beck
       und [5][Max Czollek] begrifflich weniger präzise. Czollek wiederholte im
       eher assoziativen Plauderton seine scharfe Kritik an der deutschen
       Vergangenheitsbewältigung. Die sei dem Motto gefolgt, „lieber drei
       Denkmäler zu bauen, als dass Opa für die Ermordung von Juden in den Knast
       muss“. Zudem wolle Czollek en passant in Sachen Rassismus und
       Antisemitismus wissenschaftliche Objektivität vom Sockel stürzen.
       
       Eine ähnliche Melodie schlug auch Koloma Beck an, Professorin in Hamburg,
       (die in der Zeit einen [6][hellsichtigen Text über Macht und Hautfarbe]
       verfasst hatte). Ihre zentrale These: Rassismus und Antisemitismus sind
       allgegenwärtig und weit mehr als absichtliche Diskriminierung. Man kann
       also auch, ohne direkt diskriminiert zu werden, von Rassismus betroffen
       sein. Vom soziologischen Lehrbuch über wissenschaftliche Methodik bis zur
       Infrastruktur sei, so Koloma Beck, alles von dominanter Herrschaft
       infiziert.
       
       „In der Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte der Moderne gibt es
       keine Zuschauertribüne“, so Koloma Beck. Deshalb müsse auch die
       Wissenschaft subjektiviert werden. Alle sollten dort erst mal „über ihre
       Verstrickungen Auskunft geben“. Von da ist es nicht mehr weit von der
       Verwandlung des Oberseminars in einen Stuhlkreis.
       
       Diese aktivistische Wissenschaft, der Reflexion der Sprecherposition
       wichtiger als Objektivität ist, ist das exakte Gegenteil der
       professionellen Zurückhaltung und des „Pathos der Nüchternheit“, das
       Herbert für die HistorikerInnen fordert. Dort ist die kalte Wissenschaft
       und die präzise, quellengestützte Studie eher Schutzhaut vor
       moralgetriebenen, medialen Aufregungswellen und politischen Indienstnahmen.
       Ob Wissenschaft, die den Anspruch auf Objektivität verabschiedet, noch der
       Aufklärung dient, ist in der Tat fraglich.
       
       Entsprechend kritisierte Herbert einen „konturlosen Rassismusbegriff“, der
       auf dem Vormarsch sei. Czollek hingegen forderte einen entgrenzten
       Rassismusbegriff. Das ist folgerichtig, wenn man Rassismus für ein
       umfassendes Phänomen hält, das zur Moderne gehört wie Copy zu Paste oder
       die Besoldungsgruppe W 3 zur Professur. Bei einem Rassismusbegriff, der vom
       Pogrom bis zur kritikwürdig scheinenden soziologischen Methode alles meint,
       werden alle Katzen grau.
       
       13 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=lQvBlKmZBvU
   DIR [2] https://www.hsozkult.de/event/id/event-115365
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Zentrum_f%C3%BCr_Antisemitismusforschung
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Herbert
   DIR [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Czollek
   DIR [6] https://www.zeit.de/kultur/2020-03/diskriminierende-sprache-stigmatisierung-rassismus-begriffe-linguistik-10nach8?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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