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       # taz.de -- Mitgefühl auf Social Media: Das Leiden anderer betrachten
       
       > Wenn Leid im politischen Kontext steht, ist mehr als Empathie gefragt.
       > Sie muss in Taten übersetzt werden.
       
   IMG Bild: Protest und Solidarität mit der Ukraine am 24.2.2022, hier vor der russischen Botschaft in Madrid
       
       Es ist manchmal ein schmaler Grat, der zwischen Mitgefühl und Vereinnahmung
       verläuft. Ich spreche aus Erfahrung, als jemand, der den Tränen sehr
       schnell sehr nahe ist, wenn ich vom Leid anderer höre. Vielleicht
       überidentifiziere ich mich mit der sprechenden Person, vielleicht hallt in
       ihren Worten ein eigener Schmerz nach. Jedenfalls muss ich mich
       zusammenreißen, meine Tränen und Gefühle in solchen Momenten
       zurückzuhalten. Ich halte die Luft an, mein Blick geht nach oben. Nicht,
       weil ich mich für mein Geheule schäme, sondern weil es die Trauer der
       anderen Person zu übertönen droht. Und das ist respektlos, aus meiner
       Sicht.
       
       Wenn das Leid auch noch in einem politischen Kontext steht, wie etwa am
       vergangenen Wochenende in Hanau, oder aktuell im Ukraine-Krieg, dann ist
       weit mehr als Empathie gefragt. „Menschen können für Schrecken
       unempfindlich werden, weil sie den Eindruck gewinnen, dem Krieg – jedem
       Krieg – sei kein Ende zu machen. Mitgefühl ist eine instabile
       Gefühlsregung. Es muss in Handeln umgesetzt werden, sonst verdorrt es,“
       schreibt Susan Sontag in „Das Leiden anderer betrachten“. Handeln bedeutet
       in diesen Fällen solidarisch sein, den Angehörigen und Betroffenen Gehör zu
       verschaffen, ihnen beiseite zu stehen, politischen Druck zu erzeugen.
       
       Ich bin dankbar für jede Person, die am vergangenen Wochenende in Hessen
       oder woanders für die lückenlose Aufklärung des Anschlags vom 19. Februar
       2020 [1][demonstriert hat]. Ich bin genauso dankbar für alle, die in den
       vergangenen Tagen auf die Straßen gingen, um den russischen Angriff auf die
       Ukraine und die Untätigkeit des Westens zu protestieren. Allen, die
       Transpis gemalt, die Ansprachen der Angehörigen gefilmt und verbreitet
       haben, die dem kollektiven Wegsehen etwas entgegengesetzt haben.
       
       Wofür ich nicht dankbar bin, sind Wort- und Bildbeiträge von
       Nicht-Betroffenen auf Instagram und sonstwo, die ihre eigenen Gefühle zu
       diesen Ereignissen ins Zentrum stellen.
       
       ## Fragwürdiges Verständnis von Solidarität
       
       Betroffene. Das ist so ein Wort, das wir in den letzten Jahren zu häufig
       und zu willkürlich gebraucht haben. Ich zähle mich da selbst mit rein. Das
       Wort will ein Bewusstsein dafür schaffen, dass etwa Rassismus sehr viele
       unterschiedliche Menschen betrifft, was ja prinzipiell erst mal stimmt.
       Gleichzeitig ist der Anschlag in Hanau ein ganz konkretes Ereignis, von dem
       ganz konkrete Menschen betroffen waren. Sie haben [2][Familie und
       Freund_innen und Kolleg_innen und Nachbar_innen verloren], ihr Leid sollte
       nicht im Schatten der Gefühle anderer stehen.
       
       Was den Krieg in der Ukraine angeht, scheint es wiederum sehr viele
       Social-Media-Nutzer_innen zu beunruhigen, dass „jetzt ein Krieg in
       Europa!!!“ ausbricht, und wir in Deutschland potenzielle Betroffene sind.
       Auch das ist nicht völlig falsch, nur war die Ukraine schon 2014 im
       Kriegszustand aufgrund eines russischen Angriffs. Auf deutschen Straßen
       wurden zudem um dieselbe Zeit massiv IS-Kämpfer rekrutiert. Deutschland
       liefert Waffen, unter anderem in die Türkei und [3][nach Saudi-Arabien] –
       kurz: es gibt viele Kriege, die uns genauso betreffen.
       
       Jedes Mal, wenn eine Person auf Social Media ihre Gefühlswelt ausleuchtet,
       um vermeintlich auf eine politische Katastrophe hinzuweisen, suggeriert es,
       dass ihre Solidarität allein aus dem Umstand rührt, dass es sie genauso
       treffen könnte. Ganz unabhängig davon, ob das zutrifft oder nicht, ist das
       an sich ein sehr fragwürdiges Verständnis von Solidarität.
       
       Wir müssen nicht mitleiden, um das Leid unseres Gegenübers zu verstehen.
       Unsere Gefühle sind nichts wert, wenn wir sie bloß zur Schau stellen,
       [4][anstatt sie in Taten zu übersetzen]. Und zwar in Taten, die unser
       Gegenüber erst einmal sichtbar machen. Und seinem Leid etwas
       entgegensetzen.
       
       25 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Hanau-Gedenken-in-Berlin/!5835781
   DIR [2] /Zweiter-Jahrestag-des-Terrors-in-Hanau/!5833543
   DIR [3] https://www.spiegel.de/politik/saudi-arabien-deutscher-ruestungsexportstopp-sendet-ein-sehr-falsches-signal-a-c25a67dc-fb81-43d7-ad34-4926723e6bf2
   DIR [4] https://twitter.com/kattascha/status/1497166394114387968?s=20&t=SOvBGLLBO7pmXsImyc_ssA
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fatma Aydemir
       
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