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       # taz.de -- Ausstellung einer NS-verfolgten Malerin: Das Vermächtnis der Anita Suhr
       
       > In Hamburg ist eine Schau der Malerin Anita Suhr zu sehen. Die
       > NS-Verfolgte war durch KZ-Haft und Wiedergutmachungsverfahren doppelt
       > traumatisiert.
       
   IMG Bild: Lange nach dem Krieg traute sich Anita Suhr wieder zu malen: Selbstporträt, 1967
       
       Hamburg taz | Der Wächter steht vor einem Berg. Er ist ein KZ-Wachmann und
       der Berg bei näherem Hinsehen ein Zug Menschen, die aus einem Waggon in ein
       Gebäude – vielleicht ein Krematorium – ziehen. Zu einem einzigen Schwung
       hat Anita Suhr auf ihrer Kohlezeichnung die Laufrichtung der Gefangenen
       verdichtet, wie um deren Ausweglosigkeit zu illustrieren. Diese Gefühle
       kannte die NS-verfolgte Widerständlerin und Malerin Anita Suhr (1900–1991)
       aus eigenem Erleben in KZ wie [1][Fuhlsbüttel], Moringen, Lübeck-Lauerhof
       und dem berüchtigten Frauen-KZ Ravensbrück, aus dem kaum jemand heimkehrte.
       
       Durch Zufall hat die Künstlerin, der jetzt eine kleine Schau in Hamburg
       gilt, Schikanen und Einzelhaft überlebt, vorm Zellenfenster den zynischen
       Späßen der SS-Wachleute lauschend. Aber mit dem Überleben ist sie nicht
       froh geworden. Lange noch hat sie das von den Nazis verhängte Berufsverbot
       mit sich herumgetragen, es durch leidensbedingte Schaffenspausen in die
       Nachkriegszeit hinein verlängert.
       
       Erst Ende der 1950er-Jahre hat sie wieder zu malen begonnen und es bis ins
       hohe Alter getan. „Verfolgt, gebrochen und dennoch Kunst“ nannte der
       Kurator und Nachlassverwalter Joachim Künkel die Schau über jene Frau, die
       erst an der Hamburger Kunstgewerbeschule Modezeichnen studierte und ab 1922
       als freischaffende Künstlerin arbeitete. Sie muss anerkannt gewesen sein,
       hat unter anderem Räume für Künstlerfeste der avantgardistischen Hamburger
       Sezession mitgestaltet. Sezessionsmitglied Erich Hartmann, später selbst
       von den Nazis verfemt, war ein wichtiger Lehrer.
       
       Aber dann kamen die Selbstzweifel. Anita Suhr pausierte jahrelang. Später
       unterstütze sie ihren damaligen Verlobten, Rechtsanwalt Max Fink, den
       Ex-Seniorchef von Kurator Künkel, der Anita Suhr während ihrer letzten fünf
       Lebensjahre begleitete. In politischen Prozessen muss Fink damals
       „Missliebige“ vertreten haben, denn das NS-Regime entzog ihm bald nach der
       Machtübernahme 1933 die Approbation und inhaftierte ihn ein Jahr lang im KZ
       Fuhlsbüttel.
       
       ## Selbstzweifel und Opposition
       
       Anita Suhr machte weiter, nahm 1934 Kontakt zu einer Oppositionsgruppe auf.
       Auf ihre Verhaftung 1935 folgte eine sechsjährige Odyssee durch die
       erwähnten Zuchthäuser und KZ, wobei die [2][Gestapo] stets auf Einzelhaft
       bestand, weil sie laut Häftlingsakte „unverbesserliche Kommunistin ist, die
       in … verbissener Weise diese Ziele verfolgt und deshalb … eine Gefahr für
       die übrigen Häftlinge bedeutet, mit denen sie in Berührung kommt.“ Ihre
       Entlassung 1941 aus Ravensbrück war gekoppelt an ein Berufsverbot sowie an
       einen Hausarrest auf dem elterlichen Grundstück.
       
       Mit Kriegsende 1945 war das Leiden nicht vorbei: Jetzt begann der Kampf um
       Wiedergutmachung, mühsamer und demütigender als gedacht. Denn deutschen
       Ärzten war die in den USA bereits etablierte Traumaforschung fremd.
       
       Daher war es hierzulande „für Verfolgte besonders schwierig, Entschädigung
       für die von ihnen erlittenen psychischen Schäden zu erhalten“, schreibt auf
       taz-Anfrage der Münchner Geschichtsprofessor Hans Günter Hockerts, der
       intensiv über [3][Wiedergutmachung] geforscht hat. „Erst recht wurden
       sogenannte Spätschäden, die sich erst im höheren Alter quälend bemerkbar
       machen, von psychiatrischen Gutachtern lange nicht anerkannt. Denn die in
       der Bundesrepublik herrschende Lehre der Psychiatrie ging von der
       Vorstellung aus, die menschliche Belastbarkeit sei fast grenzenlos.“ Das
       habe sich erst 1964 geändert, als der Psychiater William G.Niederland die
       „Theorie vom Überlebenden-Syndrom“ erstellte.
       
       Entsprechend kalt lesen sich die auf der [4][Anita-Suhr-Homepage] zitierten
       nervenärztlichen Gutachten: „Seelische Eindrücke, auch wenn sie sehr tief
       waren, gleichen sich, wenn man der Natur ungehindert ihren Lauf lässt,
       allmählich wieder aus. Bei Frl. S. hingegen besteht eine deutliche Neigung,
       jene schweren Eindrücke festzuhalten, indem sie sich immer wieder in die
       damaligen Erlebnisse hineinsteigert, was aber nicht nötig ist“, schrieb
       1951 Oberarzt Krauss aus Hamburg-Ochsenzoll. Das sei aber „altersbedingt
       und nicht Haftfolge“.
       
       Dabei konnte von gezieltem Hineinsteigern keine Rede sein, sagt Künkel.
       „Sie hat nie von sich aus über die Haftzeit gesprochen. Nur aus
       gelegentlichen Bemerkungen konnte ich schließen, wie es ihr ging.“ Sie
       könne nicht ausstellen, „da sind doch die Nazis noch, die erkennen mich …
       Ich habe Angst und erschrecke mich vor gestreifter Kleidung, ich schaffe es
       ja gerade noch in die Kunsthalle“, hat sie zum Beispiel gesagt.
       
       Und „die Angst vor Nazis“, sagt [5][Maike Bruhns], Hamburger
       Kunsthistorikerin und Sammlerin von Werken NS-verfolgter KünstlerInnen,
       „war berechtigt. Nach 1945 fanden sich in allen gesellschaftlichen
       Bereichen hochrangige einstige NS-Funktionäre, die alles daran setzten,
       nicht als Täter entlarvt zu werden.“
       
       Anita Suhr erhielt zwar in zweiter Instanz das Recht auf eine lebenslange
       Rente, aber sie stellte nie öffentlich aus – ein Grund dafür, dass sie so
       wenig bekannt ist. Dabei sind ihre Bilder, die künftig teils in der
       KZ-Gedenkstätte Neuengamme, teils in Maike Bruhns’ Sammlung weilen sollen,
       von hoher Qualität: Stark und markant sind die in expressiven
       Pinselstrichen und Farben gemalten Porträts eigenwillig blickender Frauen,
       die teils ins Abstrakte reichen. Oder die Stillleben aus Kessel, Teller,
       Flasche, halb noch gegenständlich, halb schon pure, sich mit dem Bildgrund
       verbindende Farbe.
       
       Die Kohlezeichnungen mit Motiven aus der Haft – unter anderem markante
       Porträts von WiderstandskämpferInnen – stehen gleichberechtigt neben diesem
       Aufbruch in die reine Farbe, sind integraler, aber nicht dominanter Teil
       ihres Werks: Die Haft hat Anita Suhr nicht gebrochen, die Kunst das Trauma
       aber auch nicht geheilt.
       
       Und ein Rest Unverstandenes, ein fragendes Vermächtnis bleibt: „Ohne Rinde
       ist Holz nicht geschützt“, schrieb Anita Suhr kurz vor ihrem Tod auf einen
       Zettel. „Ohne Selbsterkenntnis, ohne Menschenkenntnis ist Friede unter den
       Menschen nicht möglich. Warum?“
       
       18 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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