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       # taz.de -- Prozessauftakt im Fall Maryam H.: Alles spricht für einen Femizid
       
       > Musste Maryam H. sterben, weil ihr Leben nicht den Vorstellungen ihrer
       > Brüder entsprach? Die Angeklagten schweigen beim Prozessauftakt.
       
   IMG Bild: Die Verteidigung plädiert im Fall von Seyed Mahdi H. auf Freispruch, so Sprecher Mirko Röder
       
       Berlin taz | Die Hauptverhandlung im Fall der getöteten Maryam H. beginnt
       am Mittwoch mit einer Schweigeminute für die Menschen in der Ukraine:
       „Frieden und Freiheit in der Welt sind das Wichtigste“, sagt der
       Vorsitzende Richter Thomas Gross. Es wird auch ein Appell in dem aktuellen
       Fall sein: Denn Maryam H. musste sterben, weil sie ein Leben in Freiheit
       führen wollte. Davon geht die [1][Berliner Staatsanwaltschaft] aus.
       
       Sie hat gegen die beiden afghanischen Brüder Sayed Yousuf H. (26) und Seyed
       Mahdi H. (22) Anklage wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen erhoben. Die
       beiden jungen Männer sitzen an diesem Mittwoch in einem Glaskasten im
       Gerichtssaal 522, ihre Mimik bleibt hinter FFP2-Masken verborgen. Während
       die Staatsanwältin die Anklage vorliest, schauen sie regungslos in ihre
       Richtung: Am 13. Juli 2021 sollen die beiden ihre Schwester, Maryam H.,
       unter einem Vorwand in eine Wohnung in Neukölln gelockt und dort durch
       Drosseln, Würgen und Aufschneiden der Kehle getötet haben.
       
       Anschließend sollen die beiden Männer die Leiche in einem Koffer mit dem
       Zug vom Südkreuz nach Bayern gebracht haben, um sie in der Nähe von
       Donau-Wörth, dem Wohnort von Sayed Yousuf H., zu verscharren. Am 3. August
       2021 wurden die Männer festgenommen, seitdem sitzen sie in
       Untersuchungshaft.
       
       Der Tod von Maryam H. hat bereits kurz nach dem Fund der Leiche für eine
       öffentliche Debatte gesorgt: „Es muss klar benannt werden, dass das nichts
       anderes ist als ein grausamer Ehrenmord“, [2][twittert Franziska Giffey],
       da noch SPD-Spitzenkandidatin. Elke Breitenbach (Linke), damals
       Integrationssenatorin in Berlin, [3][hielt dagegen] „Das war kein
       Ehrenmord, das war Femizid.“ Ganz egal wie man es nennen mag: Die
       Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass die beiden Brüder Maryam H. getötet
       haben, weil die damals 34-Jährige sich [4][nicht ihren Moralvorstellungen
       unterwerfen] wollte.
       
       ## Maryam H. wollte sich ihren Brüdern nicht beugen
       
       Maryam H. und ihre Brüder stammen aus Afghanistan. Mit 16 Jahren wurde sie
       zwangsverheiratet. Sie und Habib H. haben eine Tochter und einen Sohn, die
       beiden sind heute 10 und 14 Jahre alt. 2015 flieht die Familie nach Berlin.
       Laut Anklage ist Habib H. immer wieder gewalttätig. 2017 trennt sich Maryam
       H., ein Jahr später folgt die Scheidung.
       
       Das Jugendamt weist der 34-Jährigen einen Familienhelfer zu, Maryam H.
       verliebt sich in ihn, die beiden werden ein Paar. Ihre Brüder sollen in dem
       neuen Leben von Maryam H. ihr archaisches Verständnis von „Ehre“ verletzt
       gesehen und ihrer Schwester den Kontakt zu ihrem neuen Freund untersagt
       haben. Besonders der jüngere der beiden Brüder, der bis zu seiner Festnahme
       in Berlin gelebt hat, soll seiner Schwester immer wieder nachgestellt und
       sie unter Druck gesetzt haben. Doch Maryam H. habe sich den Vorschriften
       ihrer Brüder nicht beugen wollen: Sie soll den Kontakt zu ihrem neuen
       Freund gehalten und auch ihr Kopftuch abgelegt haben.
       
       Es gibt Videoaufnahmen vom Bahnhof, die die Brüder mit dem Koffer zeigen,
       in dem sie die Leiche ihrer Schwester transportiert haben sollen. Auch
       Zeugenaussagen und DNA-Spuren belasten die beiden. Dennoch wollen sich
       Sayed Yousuf H. und Seyed Mahdi H. nach der Vorlesung nicht zu der Anklage
       äußern.
       
       Es sieht ganz danach aus, als würde sich das auch nicht mehr ändern. „Seyed
       Mahdi H. wird schweigen, wir verteidigen auf Freispruch“, so Mirko Röder,
       der Sprecher der Verteidiger des 22-Jährigen, am Rande der Verhandlung.
       Allenfalls die Zugfahrt mit der Leiche im Koffer könnte dem jüngeren der
       beiden Brüder unter Umständen nachgewiesen werden, „das ist dann Störung
       der Totenruhe, also sechs Monate Haft“.
       
       ## Verteidiger kritisieren mediale Vorverurteilung
       
       An Politik und Staatsanwaltschaft übte die Verteidigung deutliche Kritik:
       Röder sprach von einer „absurden Debatte“ im Vorfeld des Prozesses, für die
       Angeklagten hätte die „Gunst der Unschuldsvermutung“ nicht gegolten. Man
       behalte sich vor, auch Giffey und Breitenbach in den Zeugenstand zu laden,
       schließlich ließe die mediale „Vorverurteilung“ auf Sonderwissen der beiden
       Politikerinnen schließen.
       
       Insgesamt drei Anträge haben die Verteidiger am ersten Prozesstag gestellt.
       Bereits kurz nach Verhandlungsbeginn haben die Anwälte des jüngeren Bruders
       den Dolmetscher im Verfahren abgelehnt. Dieser sei nur für Farsi vereidigt
       und nicht für Dari, der Muttersprache des Angeklagten.
       
       Der Antrag wurde abgelehnt: Angeklagte hätten Anspruch auf einen
       Dolmetscher in einer ihnen verständlichen Sprache, das müsse nicht zwingend
       ihre Muttersprache sein. Farsi und Dari wiesen nur minimale Unterschiede
       auf, Verständigungsschwierigkeiten seien bisher nicht aufgetreten und auch
       weiterhin nicht zu befürchten, so der vorsitzende Richter.
       
       ## Am Freitag sollen erste Zeug*innen aussagen
       
       In einem zweiten Antrag forderten die Verteidiger, den Anwalt der
       Nebenklage vom Prozess auszuschließen. Die beiden Kinder der Getöteten
       vertritt Roland Weber, neben seiner Arbeit als Anwalt ist er ehrenamtlich
       [5][als Berliner Opferbeauftragter tätig]. Damit sei Weber, so die
       Verteidiger, kein unabhängiger Rechtsanwalt, sondern neben der
       Staatsanwältin ein weiterer Vertreter des Landes Berlin.
       
       Außerdem verlangten die Verteidiger in einem dritten Antrag, die Vernehmung
       des jüngeren Angeklagten als unzulässig einzustufen. Die
       Ermittler*innen hätten ihn zwar über seine Rechte als Beschuldigten in
       einem Mordfall informiert. Zuvor hätten sie ihn jedoch als Zeugen in einem
       Vermisstenfall eingeladen, „um den Überraschungseffekt zu nutzen“, so der
       Vorwurf. Am zweiten Prozesstag am Freitag sollen Staatsanwaltschaft und
       Nebenklage zu beiden Anträgen Stellung nehmen können. Außerdem sollen erste
       Zeug*innen aussagen. Wer geladen wird, ist noch nicht bekannt.
       
       2 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.berlin.de/generalstaatsanwaltschaft/presse/pressemitteilungen/2021/pressemitteilung.1161848.php
   DIR [2] https://twitter.com/franziskagiffey/status/1424450450519113739
   DIR [3] /Femizid-an-34-Jaehriger-Afghanin/!5787993
   DIR [4] /Femizid-in-Berlin/!5831937
   DIR [5] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/10/berlin-getoetete-afghanin-brueder-tatverdacht-nebenklage-opferbeauftragter.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johanna Jürgens
       
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