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       # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Ohne Pass und ohne Perspektive
       
       > Es sind nicht nur Ukrainer, die flüchten. Naveed lebte in Charkiw und
       > Fatemas Familie flüchtete nach Ternopil. Alle sind aus Kabul und stecken
       > nun fest.
       
   IMG Bild: Etwas Ablenkung finden – in der Flüchtlingsaufnahme von Korczowa
       
       Korczowa taz | Naveed stammt ursprünglich aus Kabul. Vor 15 Jahren verließ
       er sein Land, um in der Ukraine zu studieren. Er suchte aber auch ein
       besseres und sicheres Leben, bekennt er. Nach dem Studium fand er eine
       Anstellung als Lagermanager, hatte ein stabiles Einkommen und ein gutes
       Leben. Die Ukraine sei zu seiner Heimat geworden. Er hat in Charkiw gelebt;
       der Stadt, deren Herz nun in Schutt und Asche liegt.
       
       Während des Gesprächs sitzt Naveed auf einem Feldbett mitten im Getümmel
       aus Helfern und Geflüchteten. In einer Halle des Handels- und
       Einkaufszentrums „Dolina“, acht Kilometer vom Grenzübergang Korzcowa
       entfernt, wurde eine provisorische Unterkunft eingerichtet. Mehr als 500
       Menschen können hier vorübergehend eine Bleibe finden.
       
       Neben Naveed sitzen zwei junge Frauen, eine davon eingewickelt in einer
       dicken Decke. Trotz der vielen Menschen ist es relativ kühl in dem Gebäude,
       das bis vor wenigen Tagen bis auf einen Supermarkt im hintersten Teil
       völlig leer stand. Nebenan im Flur hat sich eine Menschentraube gebildet.
       An einem kleinen Tisch sitzen zwei usbekische Konsulatsmitarbeiter und
       registrieren ihre Landsleute, damit sie zügig per Bus nach Warschau und
       weiter in die Heimat reisen können.
       
       ## Krieg ist überall Krieg
       
       Für Naveed und seine Familie gibt es keine so einfache Lösung. Noch weiß er
       nicht weiter. Ob es einen Unterschied zwischen der Flucht aus Afghanistan
       und der Flucht aus der Ukraine gegeben habe? Er muss nicht lange
       überlegen. „Es gibt keinen Unterschied“, sagt er. „Der einzige Unterschied
       ist, dass es ein anderes Land ist. Der Krieg hier ist wie Krieg dort.“ Die
       Angst sei dieselbe und die Gefahr auch. Und noch eine Gemeinsamkeit gebe
       es: „Ich habe beide Male meine Heimat verloren. Es war dasselbe Gefühl, als
       ich das Land verlassen habe.“
       
       Auch wenn er noch keine konkrete Perspektive hat, Naveed ist jedenfalls im
       sicheren Polen. Für die Familie von Fatema Hosseini sieht es ganz anders
       aus. Die afghanische Journalistin hat nach der Machtübernahme der Taliban
       ihre Heimat verlassen. Sie wurde in die USA evakuiert und hält sich heute
       dort auf. Am Telefon sagt sie: „Ich wollte nicht alleine gehen. Ich wusste,
       dass mein Vater gefährdeter ist als ich, weil er elf Jahre lang für das
       afghanische Militär gearbeitet hat.“
       
       Ihr damaliger Arbeitgeber drängte sie, Schutz in der Ukraine zu suchen.
       Ihre Familie, die Eltern, der 18-jährige Bruder und die zweijährige
       Schwester, durfte eine Woche später folgen. Dann begann das Chaos. Denn
       Fatemas Schwester lebte zu diesem Zeitpunkt bereits länger in Kanada. Sie
       wollten alle dorthin. Das Land schien der bessere Ort zu sein als die
       Ukraine. Alles war vorbereitet, sie hatten sogar eine Wohnung. Alles sah
       gut aus. Doch dann kam die finale Zusage doch nicht.
       
       ## Gefangen in Bürokratie
       
       Fatema Hosseini erzählt: „Es hieß, wir hätten einen Fragebogen per Mail
       bekommen und noch nicht beantwortet. Aber es gab keine Mail.“ Einen Monat
       habe es gedauert, bis die Mail auf mehrere Nachfragen hin dann doch endlich
       eingetrudelt sei. Es habe sich um Nachfragen zu ihrem Vater gehandelt, was
       genau dieser beim Militär getan habe, ob er Menschen getötet habe.
       
       „Zum Glück hat er das nie“, sagt Hosseini. Eigentlich sollte damit der
       Ausreise nichts mehr im Weg stehen. Nur noch zwei Wochen Bearbeitungszeit
       lagen vor der Familie. Und dann brach der Krieg aus. Die Familie sitzt nun
       in Ternopil fest, rund fünf Stunden mit dem Bus von der Grenze. Das heißt,
       wenn überhaupt noch einer fährt. Und ihre Pässe liegen auf dem „Migration
       Office“ in der Kanadischen Botschaft in Kiew.
       
       Fatema Hosseini sucht einen Weg, ihre Familie aus der Ukraine zu holen.
       „Kanada fühlt sich nicht zuständig“, klagt sie. „Sie sagten mir an der
       Notfallnummer der Botschaft, sie könnten nichts tun, da meine Familie
       keinen Aufenthaltstitel für Kanada hat.“ Hosseini ist ratlos. „Und dann
       sagten sie mir, eigentlich seien sie nur für kanadische Staatsbürger
       verantwortlich.“
       
       4 Mar 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lena Reiner
       
       ## TAGS
       
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