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       # taz.de -- Die Leben dahinter
       
       > Thomas Sparr zeichnet die Fluchtlinie Budapest–Berlin entlang der
       > historischen Umbrüche als deutsch-jüdische Geistesgeschichte nach
       
       Von Jörg Später
       
       Franz Fühmann stellte einmal fest, das intellektuelle Ungarn, vor allem
       Budapest, habe immer eine Affinität zu Berlin verspürt, nicht zu Wien – zum
       kritischen Geist der Stadt, zur künstlerischen Gnadenlosigkeit. Berlin war
       ab den 1920ern wie zuvor Paris der lockende Westen – das sagt nun Thomas
       Sparr, Editor-at-large im Suhrkamp Verlag.
       
       Sparr entdeckte 1978 als Student Peter Szondis „Theorie des modernen
       Dramas“ und lernte ein Jahr später Ivan Nagel kennen, der damals Intendant
       des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg war. Beide stammten aus Budapest.
       Nagel erzählte ihm, wie er und Szondi im Frühsommer 1944 nach dem Einmarsch
       der Deutschen kurzzeitig verhaftet worden waren. Und dass er den Freitod
       des Freundes 1971 nicht verkraften könne. Dass zwischen beiden Ereignissen,
       Verhaftung und Suizid, ein Zusammenhang besteht, ist Sparr erst viel später
       bewusst geworden. Das mag ein Anlass für dieses Buch über die
       ungarisch-deutsche Connection in Sachen Kultur und Literatur gewesen sein.
       
       Neben Nagel und Szondi gibt es weitere illustre Hauptdarsteller. Allen
       voran natürlich Georg Lukács und die anderen aus dem berühmt-berüchtigten
       Budapester Sonntagskreis, die nach dem Zusammenbruch der Räterepublik Stadt
       und Land fluchtartig verließen: der Dichter und Pionier der Filmtheorie
       Béla Balász, die Psychoanalytikerin Edit Gyömrői, der freischwebende
       Soziologe Karl Mannheim, der vergessene Sozialhistoriker von Kunst und
       Literatur Arnold Hauser. Die Intellektuellen um Lukács, meist mit jüdischem
       Familienhintergrund, waren Metaphysiker, die wissen wollten, was in der
       Welt schiefläuft. Der Sonntagskreis bildet das Zentrum des ersten Teils des
       Buches. In Budapest zerbrach mit der Flucht ein Krug, dessen Scherben sich
       europaweit verteilten, vorwiegend aber in Berlin konzentrierten. Nach den
       Russen bildeten die Ungarn dort die zweitgrößte Emigrantenschar der 1920er
       Jahre.
       
       Der zweite Teil ist denen gewidmet, die den deutschen Einmarsch in Budapest
       am 19. März 1944 überlebten, obwohl innerhalb von zwei Monaten 450.000
       Juden und Jüdinnen nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Die
       Philosophin und Lukács-Schülerin Ágnes Heller gehört dazu, der
       Schriftsteller György Konrad. Szondi konnte mit dem sogenannten
       Kasztner-Zug entkommen, nachdem Rezső Kasztner die SS bestochen hatte.
       Nagel gelang es, mit falschem Namen unterzutauchen. Er verließ Budapest
       erst 1948 wegen der Stalinisierung der Kommunisten unter Rákosi. Heller
       kehrte zurück, floh jedoch 1977.
       
       Im Jahr 1956 nach der Niederschlagung des Aufstands folgte dann die dritte
       Fluchtwelle aus Budapest. Währenddessen gingen Nagel und Szondi ihren von
       Adorno unterstützten Weg in Westdeutschland – durchaus erfolgreich, bis
       Szondi, der sich als „self-displaced-person“ bezeichnete, das Überleben
       nicht mehr aushielt und sich 1971 im Berliner Halensee tötete. Sparrs
       Porträt dieser beiden Juden aus Budapest ist besonders liebevoll geraten
       und voller Bewunderung.
       
       Nach 1989, nachdem Ungarn als erstes Land des Ostblocks seine Grenzen
       geöffnet hatte, waren die Reisen von Budapest nach Berlin dann zwanglos.
       Imre Kertész wurde Wahl-Berliner, denn heimatlos zu sein sei in der Fremde
       weniger schlimm als zu Hause. Überhaupt legten gerne Schriftsteller die
       Zugstrecke von 687 km zurück: Péter Nadas, Péter Esterhazy, György Konrad,
       György Dalos, Terézia Mora und viele mehr. Der Abspann des Films Budapest
       Berlin dauert lang. Die Tradition sorgt für immer neue Zuwanderung.
       
       Thomas Sparr hat ein Gespür für die kleinen und großen Dramen der
       deutsch-jüdischen Geistesgeschichte. Mit leichter Hand rekonstruiert er
       sie. Ob es die Grunewalder Intelligenz in Jerusalem ist, die „Biographie“
       von Celans „Todesfuge“ oder wie hier die Lebens- und Todesgeschichten der
       Budapester Juden – er erzählt bedächtig, sorgfältig, feinsinnig. Sparr
       präsentiert keine Konstellationen, die dem Material eine Erkenntnis
       herauspressen, sondern lose, wenngleich stringente Impressionen, die
       Schlaglichter auf Literatur und Leid, Kunst und Verbrechen, Philosophie und
       Soziologie inmitten der mörderischen deutschen Geschichte des 20.
       Jahrhunderts werfen – hier aus dem Blickwinkel der
       Budapest-Berlin-Connection. Ein beeindruckender Essay, eine Hungarian
       Rhapsody!
       
       18 Feb 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörg Später
       
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