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       # taz.de -- Antisemitismus bei Coronaprotesten: Demokratie wird mit Füßen getreten
       
       > „Ungeimpft“-Sterne sind Geschichtsklitterung, sagt der
       > Zentralratspräsident der Juden. Die Bundesländer handeln unterschiedlich.
       
   IMG Bild: Absurder Vergleich: Die Coronamaßnahmen und der Holocaust
       
       Berlin taz | Bei Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden
       in Deutschland, hat sich eine Menge Wut angestaut gegen die
       „Querdenker“-Szene. Selbstverständlich müsse die Diskussion geführt werden,
       welche Einschränkungen der Grundrechte in der Pandemie gerechtfertigt sind,
       „das zeichnet einen Rechtsstaat und eine Demokratie aus“, meint er. Bei
       einer Veranstaltung im Rahmen des Festjahres „1.700 Jahre jüdisches Leben
       in Deutschland“ sagte Schuster am Donnerstagabend in Magdeburg aber auch:
       „Die Proteste, die neuerdings Spaziergänge heißen, von Coronaleugnern,
       Impfgegnern und sogenannten Querdenkern haben jedoch mit politischer
       Debatte oder gar politischer Kultur nichts mehr zu tun.“
       
       Die Demonstrant:innen würden eine angebliche „Coronadiktatur“ beklagen,
       sagte der Zentralratspräsident weiter. Aber wenn die freie Presse bei
       Demonstrationen angegriffen werde, müsse man sich fragen: „Wer greift denn
       hier zu Mitteln einer Diktatur? Es sind die [1][Coronaleugner selbs]t, die
       die Demokratie mit Füßen treten.“
       
       Eine „beängstigende Melange“ macht Schuster aus, „Esoteriker, christliche
       Fundamentalisten und Anthroposophen marschieren einträchtig mit AfDlern und
       anderen Rechtsextremisten“. Und: „In einer völlig vergifteten Atmosphäre
       blühen Verschwörungsnarrative, wird Hass geschürt, werden Feindbilder
       genährt und erhält auch der Antisemitismus kräftigen Aufwind.“
       
       Schuster begrüßt, dass die Justiz inzwischen zumindest in einigen
       Bundesländern aktiv wird, wenn sich Träger mit [2][nachgemachten
       „Judensternen“ mit der Aufschrift „ungeimpft“ mit Holocaust-Opfern]
       vergleichen. Er sei froh, wenn Staatsanwaltschaften dies als
       volksverhetzend einstufen, sagte er – und greift damit in die Debatte ein,
       ob solche Aktionen von „Querdenker:innen“ wirklich strafbar sind: „Ich
       hoffe, dass Polizei und Justiz bundesweit viel stärker gegen diese
       Geschichtsklitterung der Demonstranten vorgehen und sie juristisch zur
       Verantwortung ziehen.“
       
       ## Streit um Volksverhetzungs-Paragraphen 130
       
       Mit seinem starken Appell reagierte Schuster auch auf die Tatsache, dass
       die Justiz gegen Antisemitismus bei Coronaprotesten aktuell in den
       Bundesländern unterschiedlich vorgeht, wie vor wenigen Tagen eine Umfrage
       des Mediendienstes Integration bei den Justiz- und Innenministerien der
       Länder zeigte. Bei einem Pressegespräch des Mediendienstes hatte Matthias
       Jahn, Strafrechtsprofessor aus Frankfurt am Main, gewisses Verständnis
       dafür gezeigt, dass die Justiz zurückhaltend ist.
       
       Er begründete das mit einer aus seiner Sicht vorhandenen Lücke im
       Volksverhetzungs-Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches, Absatz vier. Dort
       drohen Freiheits- oder Geldstrafe jenem, der „die nationalsozialistische
       Gewalt- oder Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“.
       Nicht aber dem, der sie lediglich verharmlost. Die Verharmlosungs-Passage
       wiederum ist im Absatz drei des Paragraphen enthalten – dort aber explizit
       auf den Holocaust bezogen.
       
       Um die Auslegung des Gesetzes mit Blick auf Coronaproteste wird inzwischen
       heftig gestritten. In der Praxis führt das zu Auseinandersetzungen selbst
       unter den Justizbehörden eines Bundeslandes. In Nordrhein-Westfalen etwa
       lehnten Amtsgerichte in Köln und Gummersbach den von der Staatsanwaltschaft
       geforderten Erlass eines Strafbefehls ab. Mal ging es um einen
       „Ungeimpft“-Stern bei einer Demonstration, mal um in den sozialen Medien
       gepostete Fotos eines KZ-Eingangstors mit den Aufschriften „Impfen macht
       frei“ bzw. „Pfizer macht frei“.
       
       Die Staatsanwaltschaft Köln legte inzwischen Beschwerde gegen diese aus
       ihrer Sicht „rechtsfehlerhaften“ Entscheidungen ein. Die Argumentation der
       Anklagebehörde: Absatz vier im Volksverhetzungs-Paragraphen kennt kein
       Verharmlosen und spiele für die zu entscheidenden Fälle keine Rolle. Sehr
       wohl könne Absatz drei berücksichtigt werden, weil in allen drei Fällen an
       „den durch Judensternstigmatisierung vorbereiteten und in den NS-KZs
       durchgeführten Völkermord des Holocaust angeknüpft wird“, wie
       Behördensprecher Ulf Willuhn berichtet. Nun wird voraussichtlich das
       Landgericht Köln entscheiden.
       
       Die Antisemitismus-Beauftragte der Berliner Staatsanwaltschaft, Claudia
       Vanoni, teilt die Haltung der Kölner Anklagebehörde. Sie sagt der taz, zwar
       müsse jeder Einzelfall gesondert betrachtet werden. Die in Rede stehenden
       Fälle im Zusammenhang mit den zum Teil gewalttätigen Coronaprotesten aber
       „verharmlosen das unfassbare Leid, das Jüdinnen und Juden angetan wurde“.
       Die Berliner Staatsanwaltschaft gehe inzwischen „in der Regel“ von einer
       Strafbarkeit von Vergleichen aus, die auf den Holocaust rekurrierten,
       darunter auch die gelben „Ungeimpft“-Sterne. „Jede Person, die öffentlich
       den Holocaust verharmlost, muss damit rechnen, dass die Berliner
       Staatsanwaltschaft dies mit allem Nachdruck verfolgt.“
       
       ## Volker Beck zeigt Neonazi Sven Liebich an
       
       Sicher ist: Der Druck auf die Justiz, die Möglichkeiten zur Strafbarkeit
       unbedingt auszuloten, wächst. Die Holocaust-Überlebende Inge Auerbacher,
       die am 27. Januar die Gedenkrede im Deutschen Bundestag gehalten hatte,
       sagte in einem Interview mit der Initiative „Gesichter der Demokratie“ auf
       die Frage, was sie denen sagen möchte, die bei „Querdenker“-Demos
       wissentlich mit Nazis mitlaufen und den Holocaust relativieren: „Für mich
       ist das ein großer Blödsinn. Wie kann man die Coronamaßnahmen mit der
       Geschichte des Holocausts vergleichen – das ist verrückt. Die Menschen
       spinnen.“
       
       Der Grünen-Politiker Volker Beck zeigte den Hallenser Neonazi Sven Liebich,
       der die „Ungeimpft“-Sterne in seinem Shop vertreibt, wegen Verharmlosung
       des Holocaust an. Liebichs verlogene Produktbeschreibung: „Dieser Stern
       spielt mitnichten auf den Holocaust an. Sondern auf die Stigmatisierung von
       Menschengruppen, welche mit Zeichen versehen wurden, um sie auszugrenzen.“
       Die Dresdner Rechtsanwältin Kati Lang fordert, Ausflüchte dieser Art nicht
       gelten zu lassen: „Es gibt keine Auslegung, die,zugunsten des Angeklagten'
       dazu führt, dass etwas anderes ausgedrückt werden sollte als eine
       Relativierung der Shoah.“ Die juristische Betrachtung habe aus der
       Jetzt-Perspektive zu erfolgen, wonach die Verbrechen des
       Nationalsozialismus „nicht künstlich aufgesplittet werden können“.
       
       Der Beauftragte der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus,
       Felix Klein, sagte der taz, er halte es „für infam und zugleich für eine
       strafbare Volksverhetzung, wenn sich Menschen auf Demonstrationen
       Davidsterne mit der Aufschrift,ungeimpft' anheften, um auf diese Weise
       Aufmerksamkeit für ihre Botschaften zu erlangen“. Der Vergleich der
       staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit der systematischen
       Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus verharmlose den Völkermord
       an den Juden in Deutschland und Europa, „dies hat der Gesetzgeber zu Recht
       unter Strafe gestellt“. Er begrüße, dass einige Gerichte diese Entscheidung
       teilen: „Es wäre jedoch wichtig, wenn diese Frage höchstrichterlich geklärt
       würde.“
       
       10 Mar 2022
       
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