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       # taz.de -- Die These: Wir brauchen eine Erasmus-Armee
       
       > „Der Russe“ als Feindbild ist zurück – und schon fordern manche in
       > Deutschland eine Rückkehr der Wehrpflicht. Besser wäre es, europäisch zu
       > denken.
       
   IMG Bild: Warum keine europäische Armee? Wehrpflichtige bei der Bundeswehr im April 1981
       
       Wäre Deutschland eigentlich „bereit, die Lebensform, die man sich aufgebaut
       hat, auch zu verteidigen“? Und: „Was bedeutet dann Verteidigung, wenn diese
       in Gefahr ist?“ Diese Fragen stellte zwei Tage vor dem Einmarsch Putins in
       die Ukraine der Osteuropa-Historiker [1][Karl Schlögel in dieser Zeitung].
       
       Seitdem haben sich die Ereignisse derart beschleunigt, dass es bereits
       einige Antworten auf diese zunächst noch rhetorischen Fragen gibt: Ein
       „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr
       [2][soll eingerichtet werden], und künftig sollen mehr als 2 Prozent der
       jährlichen Wirtschaftsleistung in die Verteidigung fließen. Waffen werden
       ins Krisengebiet Ukraine geliefert, auch mit Zustimmung der Grünen.
       
       Auf Twitter fragen sich derweil junge Menschen, [3][was sie eigentlich tun
       müssten], wenn es im eigenen Land Krieg gäbe. Und erste Abgeordnete im
       Bundestag [4][diskutieren bereits über die Wiedereinsetzung der
       Wehrpflicht], wenn auch in reformierter Form, nämlich in Gestalt eines
       „Gesellschaftsjahrs“. Nicht bloß Unionspolitiker argumentieren in diese
       Richtung, auch der Sicherheitsexperte der SPD-Fraktion, Wolfgang Hellmich,
       sagte gegenüber der Rheinischen Post: „Die Debatte über eine allgemeine
       Dienstpflicht müssen wir dringend führen. Denn dafür brauchen wir einen
       gesellschaftlichen Konsens.“
       
       ## Das Anschwellen des Wehrwillens
       
       In der Tat gibt es in der Gesellschaft gerade einiges auszuhandeln, wenn es
       um Krieg und Frieden geht, wie ein Blick in Kommentarspalten und soziale
       Medien ergibt. Dort kann man ein deutliches Anschwellen des Wehrwillens
       feststellen bis hin zur Beschäftigung mit Waffensystemen und der Frage, wie
       man Militärfahrzeuge mit Mitteln aus dem eigenen Haushalt außer Gefecht
       setzt.
       
       Zeitenwende oder bloß Coronakoller? Nach zwei Jahren der Verunsicherung und
       Frustration die Lust, mal einen Molotowcocktail auf einen Panzer zu werfen?
       Oder doch eher der konkreten Angst geschuldet, dass man gerade nicht weiß,
       an welcher Grenze die russischen Truppen Halt machen, denen man [5][laut
       Auskunft des eigenen Heeresinspekteurs] „ziemlich blank“ gegenübersteht.
       
       Interessant ist, dass dieses Land in Aufrüstung gerade von
       Zivildienstleistenden regiert wird, wie Olaf Scholz (Jahrgang 1958,
       Pflegeheim), Robert Habeck (Jahrgang 1969, arbeitete mit Menschen mit
       Behinderung) und Christian Lindner (Jahrgang 1979, Hausmeister in der
       Theodor-Heuss-Akademie), der es allerdings nach seiner rein pragmatischen
       Entscheidung, zugunsten seines Business zu verweigern, später als Reservist
       bis zum Major brachte.
       
       Zu Scholz’ Zeiten musste man zwecks Verweigerung oft noch vor einer
       Kommission antanzen, die einen fragte, was man denn zu tun gedenke, wenn
       „der Russe“ vor einem stehe mit einem Gewehr und drohe, die eigene
       Mutter/Frau/Freundin zu vergewaltigen. Zu „meiner Zeit“ konnte man schon
       schriftlich mit Textbausteinen aus dem C64 verweigern – und damals wäre es
       mir nun wirklich absolut undenkbar und sinnlos erschienen, Wehrdienst zu
       leisten: Der Zweite Weltkrieg steckt meiner Familie bis heute in den
       Knochen und der Kalte Krieg, mit dem ich aufgewachsen bin, war gerade erst
       vorüber.
       
       ## Eine unangenehme Zeitreise zurück ins 20. Jahrhundert
       
       Doch auch wenn man sich im Moment auf unangenehme Weise ins 20. Jahrhundert
       zurückversetzt fühlt, müssen die Antworten auf Bedrohungsszenarien nicht
       ebenso antiquiert sein: „Die Wehrpflicht, so wie wir sie noch kennen, ist
       in der jetzigen Situation nicht erforderlich“, sagte ebenfalls in dieser
       Woche der ranghöchste deutsche Soldat, Generalinspekteur Eberhard Zorn, den
       Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Bundeswehr und ihre Aufgaben hätten
       sich verändert: „Für den Kampf im Cyberraum, um nur ein Beispiel zu nennen,
       sind Wehrpflichtige absolut ungeeignet“, erklärte er. „Wir brauchen gut
       ausgebildetes, in Teilen sogar hochspezialisiertes Personal, um das gesamte
       Aufgabenspektrum abzudecken.“ Auch führende SPD-Mitglieder wie Kevin
       Kühnert sprachen sich gegen eine Wiedereinführung aus. Markus Söder (CSU)
       ist ebenfalls dagegen – Bodo Ramelow (Linkspartei) [6][hingegen dafür].
       
       Die Debatte geht weiter. Könnten denn Zwangsdienste tatsächlich eine
       glaubwürdige Antwort der Demokratie auf die Bedrohung durch autoritäre
       Mächte sein? Wären junge Menschen im Westen überhaupt bereit, sich [7][von
       Boomern zwangsweise in den Krieg schicken zu lassen]? Gleichzeitig scheinen
       sich derzeit viele junge Menschen tatsächlich [8][internationalen Brigaden]
       anzuschließen, die nun helfen sollen, die Ukraine gegen die russische Armee
       zu verteidigen.
       
       Zu Beginn dieser schrecklichen Woche spazierte ich abends auf der Grenze
       zwischen Slowenien und Italien am Meer entlang. Hier, wo einst der „Eiserne
       Vorhang“ verlief zwischen dem blockfreien Jugoslawien und Westeuropa, ist
       nun „Mitteleuropa“. In der Bucht vor Koper stauen sich die
       Containerschiffe, weil die internationale Logistik durch Corona
       durcheinandergekommen ist. Gegenüber, in einer der Werften des
       italienischen Triest, liegt unübersehbar die „Sailing Yacht A“ des
       russischen Oligarchen Andrei Melnitschenko im Dock, es wird rund um die Uhr
       an ihr gearbeitet, man hat es womöglich eilig. Auf der Autobahn sieht man
       derzeit viele Wagen mit ukrainischen Kennzeichen, noch mehr als sonst. Und
       hier, direkt am Meer, große Weinberge im Rücken, liegt eine Feriensiedlung
       der slowenischen Armee. Kleine Häuschen mit Spitzdach, man kann zu Fuß
       direkt zum Strand laufen; im Sommer machen die Soldat*innen hier Urlaub
       mit ihren Familien, jetzt ist alles verwaist.
       
       ## Deutschland, ein Militärbulle?
       
       Kann die Antwort auf die Frage, wie und ob wir bereit sind, Europa zu
       verteidigen, nicht einzig und allein Europa sein? Kann es denn wirklich das
       Ziel sein, dass Deutschland „eine der schlagkräftigsten Armeen Europas“
       bekommt, wie es der Ex-Zivildienstleistende und Reservemajor Lindner gerade
       formuliert hat und Deutschland so tatsächlich zu jenem „Militärbullen“
       mutiert, den Martin Schulz zu Recht verhindern wollte?
       
       Es fühlte sich eigenartig an, als im slowenischen Radio die Nachricht
       verlesen wurde, dass Deutschland 100 Milliarden Euro zusätzlich für seine
       Armee bereitstellen will. Dieses Land, das oft gar nicht begreift, welche
       Angst es seinen Nachbarn macht, dick und bräsig in der Mitte Europas.
       
       Was also, wenn man diese 100 Milliarden in eine europäische Berufsarmee
       investieren würde? Und mit ihnen die Milliarden der anderen EU-Staaten, die
       nun ebenfalls mehr in ihr Militär stecken. Was, wenn junge Menschen aus
       ganz Europa sich aussuchen könnten, in welchem Land sie untergebracht und
       ausgebildet werden? Es eine Art Erasmus-Programm für junge Militärs gäbe?
       Was, wenn man deren Ausbildung derart aufwerten würde, wie es an vielen
       Polizeiakademien längst geschehen ist? Was, wenn diese europäische Armee,
       die mit Ressourcen ausgestattet wurde, die eigentlich an anderer Stelle
       gebraucht würden, auch an diesen Stellen eingesetzt werden könnte? Also im
       Bereich des Klimaschutzes, der Wiederaufforstung, des Baus von Deichen?
       
       Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ im Jahr 1989 hat der EU den Euro gebracht
       und ihre Integration befördert. Vielleicht müssen wir lernen, auch die
       Wiedererrichtung des Vorhangs als Chance zu begreifen. Die Gründung einer
       europäischen Armee war bislang eher ein Thema für Sonntagsreden, etwas, das
       man in der Zukunft angehen sollte – auch weil es eben nicht so einfach ist.
       Aber bevor wir uns allesamt von der Gegenwart überrollen lassen, sollten
       wir versuchen, vernunftgeleitete Lösungen für die Zukunft zu entwickeln.
       
       4 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Osteuropa-Historiker-ueber-Putin/!5833567
   DIR [2] /Aufruestung-in-Deutschland/!5838517
   DIR [3] https://twitter.com/Lam3th/status/1498623959285260295
   DIR [4] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wehrpflicht-politiker-von-union-und-spd-fordern-reformierte-wiedereinfuehrung-a-42841684-2cbe-4b54-997e-c7479e0c2c8d
   DIR [5] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bundeswehr-heeres-inspekteur-kritisiert-ausstattung-17829613.html
   DIR [6] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bodo-ramelow-spricht-sich-fuer-allgemeine-wehrpflicht-aus-a-75f655e3-f8ba-4a97-8cac-97300007ac37
   DIR [7] https://twitter.com/elhotzo/status/1498640520981229571?s=20&t=NKn9i5RTybvAMmni37pJvA
   DIR [8] https://www.derstandard.de/story/2000133753411/internationales-freiwilligenheer-und-putins-soeldner-ziehen-in-den-krieg
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reichert
       
       ## TAGS
       
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