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       # taz.de -- Der Krieg und die Kinder: Die Welt leuchtet gelb und blau
       
       > Letzte Woche hat die Autorin bei blau und gelb noch an Elche und
       > Zimtschnecken gedacht. Nun demonstriert in ihrem Kopf selbst Ikea gegen
       > Putin.
       
   IMG Bild: Derzeit die Farben schlechthin: die Farben der Ukraine
       
       Nun ist wieder Krieg in Europa. Also einer, den ich auch mitbekomme. Von
       dem ich Albträume kriege in meinem Bett, das 3.000 Euro gekostet hat.
       
       „Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei …“ In meinem Kopf spielt nur noch
       Rio Reiser.
       
       Ich musste im Schulatlas gucken, wo die Ukraine liegt. Gleich hinter Polen!
       Weiter als bis Warschau bin ich nie gekommen nach Osten. Weil ich die
       Sprache nicht verstehe. Als die Mauer fiel, war ich zehn, vierte Klasse.
       Ich bin der erste Jahrgang, der nicht mehr automatisch Russisch in der
       Schule hatte.
       
       Ich verfüge über keinen Orientierungssinn. Ich kann mir nur Orte
       vorstellen, an denen ich schon mal war (Düsterförde, Venedig,
       [1][Hiddensee]) oder die mir durch popkulturelle Vermittlung vertraut sind
       (New York). Zur Ukraine hatte ich gar keinen Bezug. Dachte ich.
       
       „Das ist doch Quatsch“, rief meine Mutter letzte Woche am Telefon aus Wien,
       wo ihr Ehemann lebt. „Die Streisands sind im 19. Jahrhundert aus der
       Westukraine nach Berlin gekommen. Galizische Juden.“
       
       Mein Schwiegervater ist als kleines Kind mit seiner Mutter aus der heutigen
       Ukraine geflohen. Russlanddeutsche. Zwei Geschwister auf der Flucht
       gestorben.
       
       Und trotzdem ist meine Weltsicht nicht nur eurozentristisch und
       deutschzentristisch. Ich lebe etwa tausend Meter von dem Ort entfernt, an
       dem ich geboren wurde, und bilde mir ein, ich sei eine Weltbürgerin, weil
       ich Freunde in Schweden habe und meine Haushaltshilfe aus Indien kommt.
       Weil angeblich jeder mal nach Berlin will.
       
       Letzten Samstag Familienfeier. Die Frau meines Onkels ist in Baku geboren.
       Sie hat nachgelesen, wenn die Atombombe einschlägt, soll man sich flach auf
       den Boden legen und nicht zum Pilz gucken. Mein Cousin und seine Frau
       überlegen, ob sie den Urlaub absagen oder gleich nach Südafrika auswandern.
       „Wenn der Atomkrieg kommt, braucht ihr auch keinen Urlaub mehr planen“,
       sage ich. Mein Onkel kichert mit dem ganzen Körper.
       
       Sonntagmorgen [2][erkläre ich meinem fast vierjährigen Sohn] vor dem
       aufgeschlagenen Atlas, warum wir demonstrieren gehen. „Weil der große Mann
       das kleine Land überfällt“, sage ich, „und das ist nicht okay. Wenn Kinder
       Quatsch machen, ist das nicht schlimm. Aber je größer und stärker man wird,
       desto schlimmer ist es, wenn man Quatsch macht. Deswegen gehen wir
       demonstrieren. Alle Menschen in ganz Europa. Und auf der ganzen Welt. Damit
       der Mann sieht, dass wir alle dagegen sind.“
       
       Das Kind nickt und erklärt: „Weißt du Mama, ich hab eine gute Idee. Ich geh
       bei Papa auf die Schulter, dann bin ich riesig und dann geh ich mit Papa
       ganz nach vorne zu dem Mann hin und rufe: Halt Stopp!“ Er streckt die
       erhobene Hand nach vorne. Wie er es in der Kita gelernt hat. Wenn man
       zeigen will, das jemand eine Grenze überschreitet.
       
       Ich küsse das Kind.
       
       „Igitt“, sagt mein Sohn.
       
       „Vielleicht malen wir vorher ein Bild“, schlage ich vor, „in Gelb und Blau.
       Das sind die Farben des kleinen Landes.“
       
       Letzte Woche habe ich bei den Farben noch an Elche und Zimtschnecken
       gedacht. Nun demonstriert in meinem Kopf selbst Ikea gegen Putin. Zusammen
       mit unseren Abwaschschwämmen. Und dem Cover meines neuen Romans, der
       nächste Woche erscheint! Die ganze Welt leuchtet gelb und blau.
       
       Mein Sohn nickt und hat eine andere Idee. „Ich male ein rotes Bild“,
       erklärt er. „Rot ist meine Lieblingsfarbe.“
       
       „Ähm, ja“, sage ich.
       
       In meinem Kopf singt Rio Reiser: „Der Krieg. Er ist nicht tot, der Krieg.“
       
       4 Mar 2022
       
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