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       # taz.de -- Berliner Bezirk als Konfliktzone: Schicksal Neukölln
       
       > Wie kaum ein anderer eignet sich der Bezirk als Projektionsfläche für
       > Kulturkämpfe. Nun hat ein CDU-Politiker ein kontroverses Buch vorgelegt.
       
   IMG Bild: Weil man in Neukölln hart im Nehmen sein muss? Boxhandschuhe als Werbung
       
       Herr Liecke, ist Neukölln ein Schicksal?“ Falko Liecke, 49, groß, schlank,
       kurzes graues Haar, guckt nachdenklich. „‚330.000 Menschen, die
       unterschiedlicher nicht sein könnten, und dennoch ein Schicksal teilen‘:
       Das sagen Sie in einem [1][Video zu Ihrem Buch].“ Liecke kommt in Fahrt:
       „Viele Leute hier kommen nicht aus ihren Kiezen raus – nehmen Sie die
       High-Deck-Siedlung: Da leben Menschen, die verbringen ihr Leben dort, haben
       nie das Meer gesehen, vielleicht mal den Zoo. Und die können sich selber
       nicht daraus befreien.“
       
       Ihnen will er helfen. Der CDU-Politiker war bis zur letzten Berlin-Wahl im
       September 2021 Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit, jetzt ist er
       Sozialstadtrat des Bezirks. Sein Buch heißt „Brennpunkt Deutschland. Armut,
       Gewalt, Verwahrlosung – Neukölln ist erst der Anfang“.
       
       Neukölln, das ist an diesem kalten Februartag ein sogenanntes Mischgebiet
       am Schifffahrtskanal. Zwischen Mietshäusern und Kleingärten ist hier, nah
       zum Nachbarbezirk Treptow, Gewerbe angesiedelt, eine Autowerkstatt, ein
       Verpackungsbetrieb, ein Hochzeitssaal. Und seit Kurzem: die Berliner Berg
       Brauerei. Hinter einem nagelneuen Zaun steht deren frisch erbaute
       dunkelgrüne Halle, vor dem Zaun steht Liecke und wirkt angespannt.
       
       Der einzige Christdemokrat unter den sechs Mitgliedern des Neuköllner
       Bezirksamts – [2][fünf Stadträt*innen und ein Bürgermeister] –, hat eine
       ganze Menge Probleme. Eins ist, dass er jetzt Sozialstadtrat ist: In den
       Bereichen Gesundheit und Jugend hatte sich Liecke in zwölf Jahren Amtszeit
       über Partei- und Bezirksgrenzen hinweg Anerkennung erworben, für sein
       Pandemie-Management und weil er sich für den Neubau eines Jugendzentrums
       und ein neues Treffs für queere Jugendliche eingesetzt hat.
       
       Dass er nun Sozialstadtrat sein muss, liegt am Abwärtstrend der CDU bei
       Wahlen im Bezirk. Auch der gehört zu seinen Problemen – Liecke ist
       Vorsitzender der CDU Neukölln. Vor allem aber hat er in seinem neuen
       Ressort den ganz großen Berg von Problemen des Bezirks auf dem Tisch – aber
       kaum Geld, ihn anzugehen.
       
       Bei dem Termin in der Brauerei spielt auch das eine Rolle. Nach einem Gang
       durch die neue Brauhalle sitzt Liecke im kleinen Schankraum des
       Unternehmens. Die Brauer*innen wollen ein soziales Projekt im Bezirk
       anstoßen: Aufsätze für öffentliche Abfalleimer, die Pfandsammler*innen
       ersparen, Flaschen aus dem Müll wühlen zu müssen. „Das ist weniger
       demütigend“, sagt Michéle Hengst, Mitte 30 und [3][Geschäftsführerin der
       Berliner Berg GmbH].
       
       ## Angesagte Destination
       
       Falko Liecke trägt ein blaues Sakko, trinkt Limo und ist interessiert.
       Hengsts Sakko ist schwarz, unter den Ärmeln lugen Tattoos bis zu den
       Handgelenken hervor. 16 Beschäftigte hat ihr Betrieb, rund vier Millionen
       Euro haben die Brauer*innen in den Standort investiert.
       
       Bier hat Tradition im Bezirk. Die 2005 stillgelegte Kindl-Brauerei im
       Neuköllner Norden ist heute Kunst- und Kulturstandort. Berliner Berg
       bedient das Publikum, das solche Veränderungen in den Bezirk locken soll,
       als neue Anwohner*innen wie als Tourist*innen. In immer mehr Straßen
       reihen sich Cafés, Restaurants, Bars und Hostels aneinander, neu zugezogene
       Hipsterpärchen führen die gleichen handtaschengroßen Hunde Gassi wie
       alteingesessene Neuköllnerinnen. In der Sonnenallee, wegen ihrer vielen
       arabischen Läden „arabische Straße“ genannt, eröffnen Bio-Supermärkte neben
       Geschäften für islamische Bekleidung, alte Einwanderer aus der Türkei und
       dem Libanon rauchen neben jungen aus Spanien und den USA Shisha.
       
       Nord-Neukölln steht als hippe Destination in internationalen Reiseführern,
       alte Eckkneipen bieten ihr Logo als Souvenir auf T-Shirts an. In den
       Spätis, angesagte Treffs der Partyszene, kostet das Pils von Berliner Berg
       um die 1,90 Euro, dreimal mehr als das billigste.
       
       In Lieckes Buch kommen Gründer*innen wie Hengst und ihre Zielgruppe
       nicht vor, ebenso wenig wie andere Veränderungen Nord-Neuköllns. Um
       [4][fast 150 Prozent] stiegen die Wohnungsmieten bei Neuverträgen hier im
       letzten Jahrzehnt. Nicht nur für arme Leute, von denen es hier viele gibt –
       „fast jedes zweite Kind in Neukölln wächst in einem Hartz-IV-Haushalt auf“,
       schreibt Liecke –, ist Gentrifizierung ein Problem.
       
       Der Begriff taucht in seinem Buch nur ein Mal auf. Sieht er den
       Zusammenhang nicht? „Doch“, sagt Liecke, aber „das ist nicht mein
       fachlicher Schwerpunkt“ – also mal nicht sein Problem. Gentrifizierung
       bringt Geld in den Bezirk, etwa über Gewerbesteuern. Und um die
       Neu-Neuköllner*innen, die sich die hohen Mieten leisten können, muss sich
       sein Sozialamt nicht kümmern. Um die Obdachlosen schon. Die „Beendigung
       unfreiwilliger Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030“ hat sich Berlins
       rot-grün-roter Senat zum Ziel gesetzt und mit den Bezirken dazu
       Vereinbarungen geschlossen.
       
       1.018.845.600 Euro beträgt der Haushalt des Bezirks 2022. Der Amtsbereich
       Soziales bekommt davon viel: 461.364.000 Euro, 45,2 Prozent. Doch davon,
       rechnet die Pressestelle des Bezirks vor, sind „circa 460.842.800 Euro“
       „festgeschriebene gesetzliche Leistungen und Personalmittel“, ein Anteil
       von 99,88 Prozent. Gut eine halbe Million bleibt Liecke für andere
       Projekte, für Senior*innen oder Obdachlose etwa. Spielraum für eigene
       politische Zielsetzungen bleibt da kaum.
       
       „Ein Sozialstadtrat hat nicht viele Möglichkeiten“, sagt Bernd Szczepanski,
       Mitglied im Neuköllner Bezirksparlament und von 2011 bis 2016 selbst
       Sozialstadtrat. Der Grüne sieht „bei aller grundsätzlichen Kritik“ auch
       einen „positiven Ansatz“ bei Liecke: „Der [5][Podcast des Gesundheitsamts]
       mit Informationen zur Coronapandemie: Das war eine gute Sache, das muss ich
       anerkennen.“
       
       Neukölln habe die Pandemie im Vergleich zu anderen Bezirken ganz gut
       gemanagt, sagt auch die Grüne Anja Kofbinger. Sie saß bis September für den
       Neuköllner Norden – wo längst [6][Grün gewählt wird] – im Berliner
       Abgeordnetenhaus und hatte dort als Mitglied im Gesundheitsausschuss
       Einblick ins Coronamanagement der Bezirke. Sie ergänzt: „Liecke war eben so
       klug, auf seine Verwaltung zu hören!“
       
       Das zeichne einen guten Kommunalpolitiker ja gerade aus, heißt es dazu aus
       der Neuköllner Gesundheitsverwaltung. Auch politische Gegner im Bezirksamt
       bescheinigen Liecke, gebürtiger Berliner und Diplom-Verwaltungswirt, guten
       Umgang mit seinen Mitarbeiter*innen.
       
       Am Tag vor dem Besuch in der Brauerei hat Liecke aber „Mist gebaut“, wie er
       später in seinem Büro in Neuköllns Rathaus selbst sagt. Per Twitter hatte
       er der neuen Spitze der Bundesgrünen, Ricarda Lang und Omid Nouripor, ein
       „fröhliches ‚ALLAHU AKBAR‘“ gewünscht. „Das war vielleicht nicht so eine
       gute Idee“, sagt Liecke jetzt, und dass er den Tweet bald gelöscht und sich
       bei Nouripour entschuldigt habe.
       
       Der Grüne hatte 2018 bei einer Bundestagsdebatte über einen AfD-Antrag zur
       „Unvereinbarkeit von Islam, Scharia und Rechtsstaat“ gesagt: „[7][Unser Job
       hier ist, dafür zu sorgen, dass die Teile (der Scharia, die Red.), die mit
       dem Grundgesetz vereinbar sind, auch angewendet werden können, aber
       diejenigen nicht, die dies nicht sind].“ Das wurde in rechten Kreisen
       schnell zu: Nouripour wolle in Deutschland die Scharia, also islamisches
       Recht, einführen.
       
       Liecke als Islamfeind: Das sehen einige in Neukölln so. 20 Prozent hier
       sind Menschen, die oder deren Vorfahren aus mehrheitlich islamischen
       Ländern stammen, was nichts über ihre Verbundenheit zum Islam aussagt.
       Liecke kämpft gegen eine [8][Moschee im Bezirk], die wegen vermuteter
       Verbindungen zur islamistischen Muslimbruderschaft im Berliner
       Verfassungsschutzbericht genannt wurde, dagegen aber erfolgreich geklagt
       hat.
       
       Und er kämpft für das Berliner Neutralitätsgesetz, das Beschäftigten im
       Staatsdienst das sichtbare Tragen religiöser Symbole verbietet – etwa das
       Kopftuch, weshalb vor allem [9][muslimische Lehrerinnen dagegen klagen].
       „Nicht unter jedem Kopftuch steckt eine Islamistin“, schreibt Liecke: „Aber
       wer als Kopftuchaktivistin auftritt, vertritt einen fundamentalen,
       antifeministischen und politischen Islam, der im Widerspruch zu unserer
       freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.“
       
       Liecke selbst sieht sich damit als Verteidiger eines „auf unserer
       Verfassung fußenden“ Rechtsstaats, zu dessen Grundlagen für ihn
       „unverhandelbar“ Neutralität gehört. Ein Berufsverbot für muslimische
       Lehrerinnen sei das Kopftuchverbot nicht: „Sie können es ja ablegen und
       ihren Beruf dann ausüben“, sagt der Christdemokrat.
       
       Er ist damit auf einer Linie mit der Berliner SPD, die das Gesetz 2005
       einführte und seither verteidigt – damals in einer Koalition mit der
       Linken, die es heute kritisch sieht. Auch in anderen Punkten geht der
       CDUler konform mit Sozialdemokrat*innen: etwa bei der Bekämpfung
       sogenannter Clankriminalität, bei der vor allem Familien arabischer
       Herkunft im Fokus stehen. Und die in Neukölln bis zur letzten Wahl mit
       Razzien in Shisha-Bars durchgeführt wurde, mit großem Polizeiaufgebot und
       teils begleitet von Bezirksbürgermeister Martin Hikel, SPD.
       
       Tatsächlich hat in Neukölln eine Familie einen Wohnsitz, der mehrere Männer
       angehören, die wegen des Raubs einer Goldmünze aus dem Bode-Museum
       [10][verurteilt und beim Juwelendiebstahl im Dresdner Grünen Gewölbe
       tatverdächtig sind]. Wenn Liecke solche schweren Straftaten mit teuren
       Uhren und Autos und sonstigem „archaischem Geltungsdrang“ arabischer Männer
       in einen Topf wirft, ist er ebenfalls nicht allein: Auch Polizeipräsidentin
       Barbara Slowik verwies bei der Vorstellung des „Lagebilds Organisierte
       Kriminalität Berlin 2018“, in dem „Clankriminalität“ erstmals auftauchte,
       auf Rolex-Uhren und Zweite-Reihe-Parken: Das sei zwar nicht kriminell, aber
       „[11][da fängt es an]“. Liecke erregte 2018 viel Aufsehen mit dem
       Vorschlag, kriminellen „Clans“ die [12][Kinder wegzunehmen].
       
       ## Im Käfig aus Bildungsferne
       
       Der Stadtrat erzählt von Neuköllner Jungen, „die mir sagen: Das wollen wir
       auch!“ Dass es viele Menschen arabischer und türkischer Herkunft gibt, die
       ihr Geld ehrlich verdienen, weiß er. Aber auch die kommen in seinem Buch
       kaum vor: Lieckes Blick gilt jenen, die das aufgrund ihrer Herkunft nicht
       schaffen. Über muslimische Frauen in einem Elterncafé schreibt er: „Ihr
       Käfig ist geschaffen aus Bildungsferne, pseudoreligiösen archaischen Riten
       und Gebräuchen sowie anerzogener und teils brutal durchgesetzter
       Unterdrückung. Wo sie herkommen, ist das normal.“ Briefe aus der Schule
       müssten ihnen „von der zweitjüngsten Tochter übersetzt“ werden, „die
       älteren Kinder haben Ärger im Jugendklub, und der Mann ist – wenn überhaupt
       – nur dann zu Hause, wenn gegen Monatsmitte das Geld für den Spielautomaten
       fehlt“.
       
       Das gibt es in Neukölln. Der frühere Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky
       hat es vor zehn Jahren in seinem Buch „Neukölln ist überall“ beschrieben.
       „Parallelgesellschaft“ nannte das der Sozialdemokrat, auf den Liecke in
       seinem Buch fast ehrfürchtig Bezug nimmt. Buschkowskys Begriff benutzt er
       nicht. Und doch gleicht das Neukölln, dass der CDU-Mann beschreibt, dem des
       SPDlers – als habe sich seither nichts verändert.
       
       „Es ist schlimm, wenn wir alle immer so in einen Topf geworfen werden“,
       sagt ein Bewohner, der im Café in der High-Deck-Siedlung nicht weit südlich
       der Berliner Berg Brauerei Tee trinkt. Er wohne seit der Kindheit hier, nun
       wüchsen seine Kinder hier auf, sagt der Enddreißiger palästinensischer
       Herkunft. Dass es Probleme gibt, wolle er nicht leugnen: Schlägereien
       zwischen Jugendlichen, Drogen. „Aber es gibt viele Bewohner, die sich hier
       engagieren.“
       
       „Schule des Verbrechens“ heißt Lieckes Kapitel über die High-Deck-Siedlung,
       in der „selbst Polizistinnen in Zivil nur dann ungestört ihrer Arbeit
       nachgehen können, wenn sie sich ein Kopftuch überziehen“. Nader Khalil
       seufzt, als er das hört, und schweigt dann lange. Der Leiter des
       Deutsch-Arabischen Zentrums für Bildung und Integration, kurz DAZ, das
       weiter nördlich in Neukölln angesiedelt ist, sitzt in seinem Büro in der
       Siedlung, die in den 1980er Jahren fertiggestellt wurde. Für manche ist sie
       ein [13][architektonisches Juwel], für andere ein Neuköllner Schandfleck.
       Auf Bodenhöhe befinden sich Parkplätze und Müllräume, eine Etage höher, auf
       den „High Decks“, verbinden Fußwege die zwei- bis fünfgeschossigen
       Wohnhäuser. Grünflächen liegen zwischen den Blöcken, einige Wohnungen haben
       Gärten. Oben ist es freundlich und hell, unten sammelt sich Müll in dunklen
       Ecken.
       
       „Wir haben das DAZ hierher geholt, weil wir Ansprache und Beratung in
       arabischer Sprache brauchen“, sagt Ines Müller. Geschätzt 2.000 der etwa
       5.000 Bewohner*innen seien arabischer Herkunft, Müller sagt „Menschen
       mit arabischer Migrationskompetenz“. Seit 20 Jahren ist sie
       Quartiersmanagerin in der Siedlung: „Wir sehen, dass immer mehr junge Leute
       hier eine Ausbildung machen oder zur Uni gehen.“ Ihre Idee:
       Arabisch-Unterricht als Zweit- oder Drittsprache an umliegenden Schulen.
       Viele junge Leute im Bezirk sprächen perfekt Arabisch, „aber lesen und
       schreiben können sie es nicht“, sagt Müller: „Dabei ist das doch eine
       Kompetenz, die sie gebrauchen können!“
       
       Nein, neu Zugezogene seien es nicht, die Beratung in arabischer Sprache
       bräuchten, sagt Nader Khalil: „Das sind Leute, die lange hier sind, viele
       aus dem Libanon.“ Anders als heute, wo Asylsuchende kostenlos Deutsch- und
       Integrationskurse und schnell Arbeitserlaubnisse bekommen, wurden
       Flüchtende vor den libanesischen Bürgerkriegen in den 1970er und 80er
       Jahren ohne solche Integrationshilfen empfangen. „Viele leben immer noch
       mit Duldung“, sagt Khalil – ein Aufenthaltsstatus, der alle sechs Monate
       verlängert werden muss.
       
       Falko Liecke verweist in seinem Buch auf sogenannte Altfallregelungen des
       Bundes, die Betroffenen ermöglichten, aus solchen Kettenduldungen
       herauszukommen und so „Integrationsperspektiven eröffnet“ hätten. Was
       Liecke nicht erwähnt, erklärt Khalil: Diese Chance war an Bedingungen
       geknüpft, etwa die, sein Geld überwiegend selbst zu verdienen – nicht
       leicht ohne Deutschkenntnisse und, bei Menschen aus libanesischen
       Flüchtlingslagern, oft ohne Zugang zu Schulbildung.
       
       Dass er nun wieder seufzt, hat aber einen anderen Grund. Auch Khalil ist in
       der CDU und findet gerade keine Antwort auf die Frage, warum. 2006 konnte
       er es [14][im taz-Interview] noch erklären: „Ich bin ein Wertemensch, ein
       Familienmensch“, sagt er damals, und „die christlichen Grundwerte sind ja
       dieselben wie die islamischen“. Ihn störe etwa der offene Drogenhandel im
       Bezirk: „Es muss eine gewisse Härte des Gesetzes da sein.“ 2009 war er
       CDU-Kandidat bei der Bundestagswahl. Dass Perspektiven wie die Lieckes
       arabischstämmige Wähler*innen verprellen, ist eine Vermutung, die er
       teilt. Aber, sagt Khalil: „Das wird in der CDU nicht gesehen.“
       
       ## Rechte Anschläge im Süden
       
       Tief im Süden Neuköllns sitzt Heinz Ostermann in seinem Buchladen
       Leporello, Beate Dirschauer ist auch da, die [15][örtliche Pfarrerin]. Hier
       in Rudow säumen Lindenbäume alte Pflasterstraßen mit Einfamilienhäusern,
       der Norden des Bezirks heißt hier „Downtown Neukölln“. Ostermann engagiert
       sich gegen rechts, hier in Rudow wurde zweimal sein Auto angezündet, die
       Scheiben seines Geschäfts wurden eingeworfen. Hier haben Dirschauer und er
       2018 die Initiative „[16][Rudow empört sich]“ ins Leben gerufen: als
       Reaktion auf solche rechten Anschläge im Stadtteil.
       
       Und hier im Süden hat die SPD der CDU im September noch den letzten
       Wahlkreis in Neukölln abgenommen. Franziska Giffey, sagt Ostermann, sei ja
       auch „vielleicht kein schlechter CDU-Ersatz“.
       
       Die neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin hat ihre Karriere in
       Neukölln begonnen. Als Bildungsstadträtin baute sie die Rütli-Hauptschule,
       nach einem Hilferuf der Lehrkräfte 2006 Symbol gescheiterter
       Bildungspolitik, zur Gemeinschaftsschule mit Kita, Grundschule und
       gymnasialer Oberstufe um. Der „[17][Campus Rütli]“ hat seither mehr
       Anmeldungen als Plätze, der Anteil von Schüler*innen nichtdeutscher
       Herkunftssprache sank von 83 auf 68 Prozent – was auch mit der
       Gentrifizierung im Nordneuköllner Einzugsbereich der Schule zu tun haben
       dürfte.
       
       Bei der Integration von Roma-Familien, die im vergangenen Jahrzehnt
       verstärkt nach Neukölln einwanderten, enthielt sich die spätere
       Nachfolgerin von Bürgermeister Buschkowsky wertender Äußerungen: Diese
       Neu-Neuköllner hätten als EU-Bürger Rechte, die umzusetzen seien, [18][so
       Giffeys Tenor]. Rudow ist ihr Wahlkreis. Die Initiative „Rudow empört sich“
       erfahre durch die SPD Unterstützung, sagt Buchhändler Ostermann.
       Bezirkspolitiker, auch Giffey, ließen sich bei der Menschenkette gegen
       rechts am Internationalen Tag gegen Rassismus im März 2021 sehen – wie auch
       Linke und Grüne.
       
       Aber auch das Leben des Stadtteils ändere sich und werde vielfältiger, sagt
       Pfarrerin Dirschauer. Zusehends zögen Familien mit ganz unterschiedlichen
       Migrationsgeschichten hierher. Am Rudower Gymnasium liegt der Anteil von
       Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache bei fast 50 Prozent.
       
       All diese Veränderungen im Bezirk bilden sich auch politisch ab: Ins
       Landesparlament wählte Neukölln 2021 drei Abgeordnete mit
       Migrationshintergrund: ein Linker, zwei von der SPD (Interview 50, 51). Das
       Bundestagsmandat errang der Sozialdemokrat Hakan Demir. Die AfD bekam 2016
       im Bezirk 12,7 Prozent der Stimmen, 2021 noch 7,1. Der bisher einzige
       AfD-Stadtrat wechselte noch im Amt zur CDU, später zu den Freien Wählern.
       Im Bezirksparlament sitzen unter 55 Mitgliedern acht mit
       Einwanderungsgeschichte, keine*r davon Christdemokrat*in.
       
       „Herr Liecke, hat die CDU etwas verschlafen, was die SPD verstanden hat?“
       Falko Liecke sieht das andersherum: „Franziska Giffey hat von uns
       abgekupfert und die Leute damit eingelullt.“ Warum hat er sein Buch nicht
       vor der Wahl veröffentlicht? „Ich wollte mit dem Buch keine Wahlen
       gewinnen“, sagt Liecke und guckt wieder nachdenklich. „Ich will den Bezirk
       nach vorne bringen. Neukölln trägt man im Herzen.“ 2011 war er in Berlins
       Landesparlament gewählt worden – 38,3 Prozent bekam Liecke damals in seinem
       Wahlkreis im Rudower Nachbarstadtteil Buckow. Er blieb lieber Stadtrat in
       Neukölln.
       
       9 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=miMpGuuaiNY
   DIR [2] https://www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/bezirksamt/
   DIR [3] /Junge-Berliner-Brauereien/!5792269
   DIR [4] https://www.tagesspiegel.de/berlin/langzeitstudie-zum-berliner-mietenmarkt-mieten-in-neukoelln-in-zehn-jahren-um-146-prozent-gestiegen/24312280.html
   DIR [5] https://gesundheitsamtneukoelln.podigee.io/
   DIR [6] https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/Be2021/AFSPRAES/index.html
   DIR [7] https://dserver.bundestag.de/btp/19/19055.pdf#P.5893
   DIR [8] https://www.nbs-ev.de/
   DIR [9] /Kopftuch-Streit-vor-Gericht/!5710379
   DIR [10] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/einbruch-ins-gruene-gewoelbe-remmo-clan-mitglied-war-verurteilt-aber-frei-a-a48bfbca-807c-4e39-97b2-6326970f07fe
   DIR [11] /Organisierte-Kriminalitaet-in-Berlin/!5645824
   DIR [12] https://www.tagesspiegel.de/berlin/arabische-grossfamilien-in-berlin-kann-der-staat-kriminellen-clans-die-kinder-wegnehmen/23107458.html
   DIR [13] https://www.berlin.de/landesdenkmalamt/aktuelles/kurzmeldungen/2021/digital-durchs-denkmal-die-highdeck-siedlung-in-berlin-neukoelln-1125136.php
   DIR [14] /!451218/
   DIR [15] https://www.kirche-rudow.de/
   DIR [16] https://www.buendnis-neukoelln.de/2018/rudow-empoert-sich/
   DIR [17] https://campusruetli.de/
   DIR [18] /Integration/!5085159
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
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       Für Flanierende gibt es auf den Straßen Neuköllns viel zu sehen. Manchmal
       kann das sogar etwas Schönes sein. Man muss halt über manches
       hinwegschauen.
       
   DIR Neuer Jugendstaatssekretär Falko Liecke: Vornamen-Abfrage kein Ausrutscher
       
       Die CDU will Neuköllns Stadtrat Falko Liecke zum Staatssekretär machen. Das
       bedient Ängste vor einer Partei, die Silvester rassistisch ausschlachtete.
       
   DIR Kopftuch für Lehrerinnen: Ende eines Kulturkampfs
       
       Als letztes Bundesland muss Berlin Lehrerinnen mit Kopftuch zulassen. Dass
       Gerichte das wiederholt einfordern mussten, ist peinlich für die Politik.
       
   DIR Studie zu Berufsbildung: Mit dem Abi zum Azubi
       
       Eine Lehre zu beginnen, wird bei Abiturienten immer beliebter. Für
       Hauptschüler wird die Suche nach einem Ausbildungsplatz hingegen schwerer.
       
   DIR Berichte aus der Nachbarschaft: Näher dran als die Zeitung
       
       Blogs wie neukoellner.net besetzten Nischen im Web und galten mal als
       Rettung des Lokaljournalismus. Nun drohen sie zu verschwinden.
       
   DIR Hässlicher Wahlkampf: Niedersachsens CDU schnorrt bei AfD
       
       Niedersachsens CDU wirbt mit rassistischer Hetze gegen „Clans“ für die
       Landtagswahl. Die Plakate sind jenen der Hamburger AfD zum Verwechseln
       ähnlich.
       
   DIR Offener Brief aus Neukölln: Geschäftsleute fordern faire Kontrollen
       
       Neuköllner Gewerbetreibende wehren sich gegen Razzien gegen
       „Clankriminalität“. Sie fordern Gewerbekontrollen ohne Diskriminierung.
       
   DIR Wohnen mit Mehrwert und Zukunft: Avantgarde am Stadtrand
       
       Vor hundert Jahren entstanden in Berlin wegweisende Wohnsiedlungen, die
       heute zum Welterbe der Unesco gehören.
       
   DIR Hindu-Tempel in Neukölln bald fertig: Im Tempel Heimat finden
       
       Seit zehn Jahren wird in der Hasenheide ein Hindu-Tempel gebaut. Noch fehlt
       das Dach. Doch im Herbst soll der Tempel eröffnet werden – so Corona will.
       
   DIR Berliner Punkrockklassiker Beton Combo: Zurück zum Beton
       
       Mit Songs wie „Nazis Raus!“ schrieb die Band Beton Combo
       Punkrockgeschichte. Jetzt ist ihr Debütalbum frisch gepresst wieder zu
       haben.