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       # taz.de -- Die Türkei und der Ukraine-Krieg: Zwischen den Fronten
       
       > Um russische Kriegsschiffe zu behindern, könnte die Türkei den Bosporus
       > sperren. Allein: Erdoğan würde damit einen weiteren Krieg riskieren.
       
   IMG Bild: Proteste gegen den russischen Angriffskrieg in Istanbul am Samstag
       
       Istanbul taz | Es ist ein jahrhundertealter Konflikt: Um die Kontrolle der
       Meerengen von Bosporus und Dardanellen, den einzigen Schifffahrtsweg vom
       Schwarzen Meer ins Mittelmeer, sind schon viele Kriege geführt worden.
       Nachdem es nun lange Jahre so schien, als sei mit einem internationalen
       Vertrag, den im Jahr 1936 alle Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres
       unterzeichneten, der Konflikt um die Meerengen ein für alle Mal geregelt,
       kehrt nun auch an diesem Hotspot der Weltgeschichte die Vergangenheit
       zurück.
       
       Die Ukraine fordert die türkische Regierung auf, die Meerengen für den
       Aggressorstaat Russland zu schließen, doch die türkische Regierung zögert,
       dem nachzukommen. Schließlich sind um just diese Meerengen bereits mehrere
       Kriege zwischen Russland und dem Osmanischen Reich, dem Vorläuferstaat der
       heutigen Türkei, geführt worden und der türkische Präsident Recep Tayyip
       Erdoğan hadert zu Recht, weil er die Türkei nicht in einen neuen Krieg mit
       Russland führen will.
       
       Der Kampf um die Meerengen zwischen Russland und dem Osmanischen Reich
       begann, nachdem die Osmanen 1453 Konstantinopel eroberten und dem
       Byzantinischen Reich damit den Todesstoß versetzten. Zu dem Zeitpunkt
       kontrollierten allerdings die Osmanen auch fast das gesamte Ufer des
       Schwarzen Meeres, einschließlich der Krim. Doch spätestens ab dem 17.
       Jahrhundert wurde das Zarenreich immer stärker und das Osmanische Imperium
       immer schwächer. Zuerst verloren die Osmanen den Kaukasus, dann ihre
       nördlichen Balkanprovinzen. Über das heutige Rumänien und Bulgarien griff
       die zaristische Armee im 18. und 19. Jahrhundert mehrmals an, um die
       Meerengen zu erobern, in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts standen sie
       schon einmal knapp vor Istanbul.
       
       Am Ende des Ersten Weltkrieges besetzten Briten und Franzosen Istanbul –
       die Russen waren nur deshalb nicht dabei, weil die Bolschewiken den Zaren
       schon zwei Jahre vorher entmachtet und mit den Osmanen und Deutschen einen
       Separatfrieden abgeschlossen hatten. Mit dem Sieg im türkischen
       Unabhängigkeitskrieg gewannen die Türken Istanbul und die Meerengen zurück,
       um anschließend im bereits genannten Vertrag von Montreux 1936 dann ein für
       alle Mal die Durchfahrtsregeln für die Meerengen festzulegen. Dachte man.
       Denn schon am Ende des Zweiten Weltkrieges stellte Stalin die türkische
       Hoheit über die Meerengen erneut in Frage, was der Hauptgrund war, warum
       die Türkei bereits 1952 Mitglied der Nato wurde und sich damit gegen die
       Sowjetunion in das westliche Bündnis integrierte.
       
       ## Erdoğans gemeinsame Sache mit Putin
       
       Die Frage der Meerengen ist deshalb für die Türkei höchst heikel. Nach dem
       besagten Vertrag von Montreux haben alle Schwarzmeer-Anrainerstaaten auch
       in Kriegszeiten das Recht, mindestens ihre Kriegsschiffe durch die
       Meerengen in ihre Heimathäfen zu holen. Die Türkei kann die Meerengen zwar
       sperren, muss aber russische Kriegsschiffe, die jetzt aus den Weltmeeren
       zurück ins Schwarze Meer wollen, passieren lassen. Darauf hat jüngst der
       türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu noch einmal hingewiesen. Deshalb
       korrigierte das türkische Außenministerium am Sonntag auch einen Tweet des
       ukrainischen Präsidenten Selenski. Der hatte nach einem Telefonat mit
       Erdoğan, bei dem der türkische Präsident ihm seine volle Solidarität
       zugesichert hatte, getwittert, Erdoğan habe die Sperrung der Meerengen
       versprochen.
       
       Zwar hat sich Erdoğan nach dem auch für die Türkei völlig überraschenden
       [1][russischen Angriff auf die Ukraine] mindestens verbal auf die Seite der
       Angegriffenen gestellt und alle mögliche Unterstützung zugesagt, doch die
       komplette Schließung der Meerengen auch für zurückkehrende russische
       Schiffe käme einer Kriegserklärung an Russland gleich. Schon eine
       eindeutige Parteinahme für die Ukraine auch jenseits der Meerengen-Frage
       kann Erdoğan sich eigentlich gar nicht leisten.
       
       Wohl kein anderer Nato-Staat hat in den letzten Jahren so eng mit Putin
       zusammengearbeitet wie die Türkei. Nach dem Putschversuch 2016 hat Erdoğan
       das hochmoderne russische Raketenabwehrsystem S-400 gekauft, das
       Konkurrenzsystem zum amerikanischen Patriot-System. Er hat in Syrien mit
       Putin und dem Iran gemeinsam das Land aufgeteilt und die USA aus dem
       Friedenprozess herausgedrängt. Genauso hat er sich mit Putin im letzten
       Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan arrangiert, wo Russland und die
       Türkei als Schutzmächte der beiden Kriegsparteien auftraten.
       
       Doch nicht nur außenpolitisch hat Erdoğan Putin hofiert, die Türkei ist
       auch [2][von russischem Gas und Öl mindestens so abhängig wie Deutschland].
       Obendrein baut eine russische Staatsfirma an dem ersten Atommeiler in der
       Türkei. Nicht zuletzt sichern russische Touristen einen großen Teil der
       türkischen Deviseneinnahmen.
       
       ## Ein möglicher Vermittler
       
       Erdoğan muss deshalb sehr genau darauf achten, mit seiner Solidarität für
       die Ukraine die roten Linien des Kreml nicht zu überschreiten. Schon als
       die Türkei lange vor Kriegsausbruch in der Ukraine ihre gefürchteten
       Kampfdrohnen Bayraktar 2 verkaufte, drohte Putin damit, das
       Stillhalteabkommen in Syrien aufzukündigen und Assad grünes Licht für einen
       neuen Angriff auf die unter türkischem Protektorat stehende Rebellenprovinz
       Idlib zu geben.
       
       Schon sehr früh hat Erdoğan sich deshalb für eine Verhandlungslösung
       zwischen Russland und der Ukraine eingesetzt und seine Vermittlung
       angeboten. Auch jetzt hat er Selenski erneut versprochen, sich bei Putin
       für Verhandlungen einzusetzen. Gemeinsam mit dem aserbaidschanischen
       Präsidenten Ilham Alijew bietet er einen Ort und Rahmen für Gespräche
       zwischen der Ukraine und Russland an. Selenski hat dieses Angebot bereits
       als höchst willkommen begrüßt. Am Sonntagnachmittag erklärte die Ukraine
       sich bereit zu Verhandlungen mit Russland, allerdings an der Grenze zu
       Belarus. Kiew stimmte der Vermittlung durch den belarussischen Machthaber
       Alexander Lukaschenko zu.
       
       27 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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