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       # taz.de -- Energieversorgung und Abhängigkeiten: Schneller raus aus Gas und Kohle
       
       > Es ist ein mögliches Szenario, dass Russland die Lieferung von Kohle, Gas
       > und Öl an die EU einstellt. Helfen sollen langfristig die Erneuerbaren.
       
   IMG Bild: Ganz ohne russisches Gas? Demonstration gegen den Krieg gegen die Ukraine in Berlin
       
       Dass Russland seine Energielieferungen nach Europa komplett einstellt, galt
       lange als undenkbar. Seit 1979 strömt Erdgas durch Pipelines von Russland
       nach Deutschland, weder der russische Einmarsch in Afghanistan noch der
       Nato-Doppelbeschluss haben daran etwas geändert. Schließlich sind nicht nur
       die Europäer auf die Energielieferungen angewiesen, sondern auch die
       Herrscher in Moskau auf die Deviseneinnahmen, die damit einhergehen.
       
       Doch die Gewissheit, dass das Energiegeschäft unabhängig von politischen
       Krisen weiterläuft, ist vorbei. Zwar sind beim [1][Ausschluss Russlands aus
       dem Banken-Kommunikationssystem Swift] extra Ausnahmen vereinbart worden,
       damit die Energielieferungen weiterhin bezahlt werden können. Doch vor
       allem mit dem angekündigten Einfrieren der gewaltigen Devisenreserven
       Russlands, die zu einem Großteil bei westlichen Banken liegen, haben EU und
       USA so weitreichende Wirtschaftssanktionen verhängt, dass viele Beobachter
       im Gegenzug einen Lieferstopp für russisches Gas für möglich halten.
       
       Die Auswirkungen eines solchen Schritts wären dramatisch. Denn Deutschland
       bezieht etwa 55 Prozent des verbrauchten Erdgases aus Russland, in der
       gesamten EU sind es knapp 40 Prozent. Weil der Gasbedarf im Sommer deutlich
       geringer ist als im Winter, droht zwar kurzfristig kein akuter Mangel, doch
       zu Beginn der nächsten Heizperiode im Winter würde es knapp werden. Denn
       die Förderung in der EU selbst sowie die Importe aus Norwegen können nur
       geringfügig gesteigert werden. Und die Pipeline aus Nordafrika, die in
       Spanien ankommt, ist nicht mit dem restlichen Erdgasnetz in Europa
       verbunden.
       
       Gesteigert werden könnte vor allem der Import von Flüssiggas, auch bekannt
       als LNG. Dies gelangt tiefgekühlt per Schiff vor allem aus den USA und aus
       Katar nach Europa. Die 36 Terminals waren in der Vergangenheit nicht mal
       zur Hälfte ausgelastet, weil LNG aufgrund des aufwendigen
       Verflüssigungsverfahrens und des Transports deutlich teurer ist als Gas,
       das durch Pipelines transportiert wird. Sofern die Terminals voll
       ausgelastet sind – und die Lieferanten die entsprechenden Mengen zur
       Verfügung stellen können –, könnte mehr als die Hälfte des EU-Gasbedarfs
       per Schiff gedeckt werden; ein kompletter Ersatz wäre derzeit allerdings
       nicht möglich.
       
       ## Der Plan der Regierung
       
       Die Bundesregierung arbeitet auf mehreren Ebenen daran, die
       Energieversorgung auch bei Lieferausfällen so weit wie möglich
       aufrechtzuerhalten. So plädiert jetzt auch Wirtschaftsminister Robert
       Habeck (Grüne) dafür, in Deutschland LNG-Terminals zu errichten.
       Kurzfristige Abhilfe würde das aber nicht schaffen. Denn selbst ein
       schwimmendes Terminal, das derzeit in Wilhelmshafen geplant ist, würde
       frühestens in 24 Monaten startbereit sein. Bei einer festen Anlage, die in
       Brunsbüttel entstehen könnte, wird die Planungs- und Bauzeit auf drei bis
       vier Jahre geschätzt.
       
       Sehr viel kurzfristiger soll eine andere Maßnahme helfen: Die Regierung
       will die Betreiber der großen Gasspeicher verpflichten, diese im Verlauf
       des Sommers mit allem bis dahin verfügbarem Gas aufzufüllen, damit zur
       Heizperiode im Winter genug zur Verfügung steht. Die Eckpunkte für ein
       Gesetz, das im Mai in Kraft treten soll, sehen vor, dass die Speicher am 1.
       Oktober zu 80 Prozent und am 1. Dezember zu 90 Prozent gefüllt sein müssen.
       Damit könnte der deutsche Gesamtbedarf für zwei bis drei Wintermonate
       vollständig gedeckt werden, so das Bundeswirtschaftsministerium. Sofern die
       Betreiber dies nicht umsetzen, sollen die Speicher zwangsweise gefüllt
       werden.
       
       Ein kompletter [2][Lieferausfall Russlands] könnte aber auch durch die
       Speicher nicht kompensiert werden. In diesem Fall müsste der Verbrauch
       deutlich reduziert werden. Betroffen wäre davon aber zunächst die
       Industrie; wer seine Wohnung mit Gas heizt, muss keine Versorgungsengpässe
       fürchten. „Haushaltskunden sind besonders geschützt“, hatte die Präsidentin
       des Energiedachverbands BDEW, Marie-Luise Wolff, kürzlich im taz-Interview
       erklärt. Allerdings dürfte auch dort der Verbrauch sinken, wenn die
       Gaspreise deutlich steigen.
       
       ## „Ohne Denkverbote und Tabus“
       
       Diskutiert wird im Zusammenhang mit der drohenden Gaskrise, Atom- und
       Kohlekraftwerke länger am Netz zu lassen. Auch diesen Schritt müsse man
       „ohne Denkverbote und Tabus prüfen“, forderte der nordrhein-westfälische
       Wirtschaftsministers Andreas Pinkwart (FDP) am Montag. Im
       Bundeswirtschaftsministerium sieht man diese Forderung aber kritisch. Eine
       Vorprüfung habe ergeben, dass längere AKW-Laufzeiten nicht realistisch
       seien, sagte Habeck in der ARD. Die Vorbereitungen für die anstehenden
       Abschaltungen seien so weit fortgeschritten, dass die AKW „nur unter
       höchsten Sicherheitsbedenken und möglicherweise mit noch nicht gesicherten
       Brennstoffzulieferungen“ weiterbetrieben werden könnten, so der Minister.
       „Und das wollen wir sicher nicht.“
       
       Auch eine Verzögerung des [3][Kohleausstiegs] hält Habecks Ministerium
       nicht für sinnvoll, und zwar nicht nur aus Klimaschutzgründen, sondern auch
       weil die in Deutschland genutzte Steinkohle ebenfalls zu 50 Prozent aus
       Russland importiert wird. „Die beste mittelfristige Antwort auf die
       Importabhängigkeit ist der Ausstieg aus der Kohle, der schrittweise bis
       2030 erfolgt“, erklärt das Ministerium.
       
       Dafür will Habeck den [4][Ausbau der erneuerbaren Energien] deutlich
       beschleunigen. Schon bis 2035 soll der Stromsektor komplett
       treibhausgasneutral sein. Dazu wird der jährliche Zubau von Windanlagen in
       den nächsten Jahren vervierfacht und von Solaranlagen verdreifacht. Um die
       Genehmigungen zu erleichtern, gelten erneuerbare Energien künftig als
       „überragendes öffentliches Interesse“. Am Montag wurde ein entsprechender
       Gesetzentwurf in die Ressortabstimmung gegeben. Das war auch schon vor dem
       Krieg in der Ukraine geplant. Doch die Umsetzung der Pläne dürfte sich
       durch die neue Lage deutlich beschleunigen.
       
       Bisher war die Energiewende vor allem ein Projekt der Grünen, das diese
       teils gegen Widerstände aus der FDP vorantreiben mussten. Das hat sich
       durch den russischen Angriff auf die Ukraine grundlegend geändert: Für
       FDP-Chef Christian Lindner sind die Erneuerbaren jetzt „Freiheitsenergien“.
       Und Freiheit kann es für die FPD ja nie genug geben.
       
       28 Feb 2022
       
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