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       # taz.de -- Exodus von Sportlern aus Russland: Zurück in die neunziger Jahre
       
       > In den russischen Profisportligen verlassen ausländische Sportler als
       > Reaktion auf den Ukrainekrieg scharenweise das Land. Was bedeutet das?
       
   IMG Bild: Spielt nicht mehr für ZSKA Moskau: der in der Ukraine geborene Basketballspieler Joel Bolomboy
       
       Die Viertelfinal-Playoffs der russisch geführten Kontinentalen
       Eishockeyliga KHL laufen derzeit unter ungewöhnlichen Umständen ab. Da
       steht zum Beispiel ein Klub auf dem Spielplan, Jokerit Helsinki, der gar
       nicht mehr dabei ist. Jokerit hat sich im Zuge des Ukrainekriegs aus der
       KHL zurückgezogen. Auch Dinamo Riga hat die KHL verlassen. Und die
       russischen Klubs sind personell stark gerupft. Salawat Julajew Ufa spielt
       als erstes Team nur noch mit Russen. Der Klub verlor seinen finnischen
       Topspieler, Olympiasieger Markus Granlund, die Olympiasieger Sakari
       Manninen und Teemu Hartikainen sowie Geoff Platt, Juha Metsola und Philip
       Larsen. Vielen Topklubs ergeht es ähnlich.
       
       Infolge des Ukrainekriegs erlebt der russische Sport einen Massenexodus.
       Das gilt vor allem für die stark von Ausländern abhängigen
       Männer-Spitzenligen im Eishockey, Basketball und Fußball. Nach Angaben des
       russischen Portals Sport RBC verließen bis zum 5. März allein in diesen
       drei Sportarten über 50 ausländische Spieler, Trainer und Funktionäre das
       Land. Diese Zahlen dürften steigen, nachdem die Fifa am Montag ein
       außerordentliches Transferfenster für in Russland beschäftigte
       Fußballer:innen bis 7. April geöffnet hat.
       
       Die Spieler:innen können ihre Verträge allerdings nur einseitig
       aussetzen bis Ende Juni, nicht kündigen. Eine Regelung, die die
       Spieler:innengewerkschaft FifPro kritisierte. Es werde schwer für
       Spieler, einen Job für den Rest der Saison zu finden. Die FifPro hatte ein
       Kündigungsrecht gefordert. Im Basketball gehen die Ausländer derweil in
       Scharen: UNICS Kasan verlor sechs Spieler, darunter fünf US-Amerikaner, der
       Spitzenklub ZSKA Moskau ebenfalls sechs, darunter den Deutschen Johannes
       Voigtmann.
       
       Den Spielbetrieb bedroht das nicht, es wird eben nationaler. Das kratzt am
       Prestige. Allerdings werden [1][ausländische Stars in Russland] ohnehin
       kontrovers diskutiert. Die Ausländerobergrenze im Fußball etwa ist fast
       jedes Jahr Gegenstand von Reformen. Schneidet das Nationalteam schlecht ab,
       sind, ähnlich wie in Deutschland, die „Legionäre“ in der Liga schuld. Hinzu
       kommt, dass die russische Gesellschaft Migrant:innen aus Westeuropa und
       den USA, Südamerika oder Afrika sonst kaum kennt. Die fremden Spieler
       erhalten üppige Verträge, von denen die verarmte Durchschnittsbevölkerung
       nur träumen kann. Und nun, so die rassistische und national gekränkte
       Lesart vieler, lassen sie Russland beim kleinsten Windhauch im Stich.
       
       Der Putin-Parteigenosse und Duma-Abgeordnete Witali Milonow trompetete
       entsprechend populistisch, es sei gut, wenn diese Leute sich davonmachten:
       „Solche Ausländer brauchen wir nicht. Die Athleten dagegen, die bei uns
       bleiben, sollen spüren, dass wir ihnen dankbar sind. Diese Leute sind echte
       Sportsgeister, keine Prostituierten.“ Und Maxim Suraikin, Chef der
       Kommunisten, forderte gar: „Ich schlage vor, als Antwort auf die Sanktionen
       des Westens alle ausländischen Sportler:innen des Landes zu verweisen.
       Je schneller, desto besser!“
       
       ## Gesinnungstest für Fußballprofi
       
       Viele andere Töne sind jedoch differenzierter. Sergej Emeljanow schreibt
       etwa bei Championat: „In dieser Situation möchte ich die Spieler wirklich
       nicht verurteilen. Es ist klar, dass die ausländischen Spieler ihre Vereine
       im Stich gelassen haben, obwohl die ihnen die besten Bedingungen geboten
       haben. Aber es ist nicht schwer, sie menschlich zu verstehen.“ Niemand
       wolle in der Fremde allein zurückbleiben. Die finnischen Eishockeyspieler
       seien in der Heimat stark unter Druck gesetzt worden.
       
       Wie eine Sportlaufbahn in Russland zum Gesinnungstest werden kann, erfuhr
       schon der ukrainische Ex-Fußballnationalspieler Yaroslav Rakitskiy.
       Rakitskiy stammt aus der Ostukraine, wuchs russischsprachig auf und
       wechselte 2019 nach Russland. Damit wurde er zur Persona non grata in der
       Ukraine und aus dem Nationalteam geworfen. Nun verließ er Zenit Sankt
       Petersburg und positionierte sich gegen den Krieg, ein doppelter Verräter.
       Interessant ist auch der Fall des Basketballers Joel Bolomboy, der im
       ukrainischen Donezk geboren wurde und eine russische Mutter hat. Er nahm
       2018 die russische Staatsbürgerschaft an. Nun kehrte er ZSKA Moskau den
       Rücken. Im Post-Sowjetraum mit seinen fluiden Zugehörigkeiten ist nichts
       einfach.
       
       Neben den persönlichen Schicksalen freilich bleiben sportliche Fragen. Dass
       die russischen Ligen an Qualität verlieren, ist offenkundig. Zugleich
       könnten sie an Spannung gewinnen, weil vor allem die Großklubs geschwächt
       werden. Nikita Boriskin erwartet auf dem Sportmedienportal Sportboxdie
       engste Fußballmeisterschaft der letzten Jahrzehnte. Verbunden mit dem, was
       man [2][in Deutschland vielleicht Antikommerzkitsch] nennen würde. „Wir
       kehren in die mittleren neunziger Jahre zurück, wo die Hauptrollen von
       heimischen Stars gespielt wurden. Und da haben sich viele Menschen in
       unseren Fußball verliebt. Es sind diese ehrlichen Emotionen, die jetzt
       fehlen.“
       
       Sein Kollege Dimitri Egorow sieht das anders. Durch fehlende Ausländer sei
       ein Wettrennen auf heimische Talente zu erwarten. „In diesem Fall wird im
       russischen Fußball alles nur noch schlimmer werden: Unternehmen werden noch
       mehr ausgeben, die Bedeutung von Spielerberatern wird steigen und die Kluft
       zwischen Arm und Reich wird enorm werden.“
       
       12 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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