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       # taz.de -- Frauenrechte bei Fortpflanzung: Kinder oder keine
       
       > Reproduktive Rechte sind Menschenrechte. Über Verhütung,
       > Schwangerschaftsabbruch oder sichere Geburt entscheiden oft nicht die
       > Frauen.
       
   IMG Bild: Jahrhundertelang diente ihre Gebärfähigkeit schlicht dem Fortbestand der Nation
       
       Frauen in langen roten Gewändern gehen vorsichtig durch die Straßen, ihre
       Köpfe sind gesenkt, ihre Gesichter von weißen Hauben verborgen. Ihre
       Identitäten spielen keine Rolle – sie sind Eigentum. Ihre Körper stehen im
       Dienst des Fortbestands eines totalitären Staates, ihre eigentlichen Namen
       wurden ersetzt durch den Hinweis darauf, wem sie gehören: Desfred,
       Desgeorge, Desglen. Sie sind Sklavinnen ihrer männlichen Besitzer, sie sind
       deren Gefäße, die gebären sollen. Wer nicht gebären kann, ist entbehrlich.
       
       Die Welt, die die kanadische Autorin Margaret Atwood 1985 in ihrem Roman
       „[1][Der Report der Magd]“ zeichnet, der seit 2017 als Serie Erfolge
       feiert, ist eine dystopische Fantasie. Doch Atwood fügt darin Umstände
       zusammen, unter denen Frauen irgendwo und irgendwann tatsächlich schon
       leben mussten. Denn dass Frauen über ihre Körper nicht selbst bestimmen,
       sondern ihr Entscheidungsspielraum von politischen oder religiösen Systemen
       abhängt, ist eine jahrtausendealte historische Erfahrung.
       
       Jahrhundertelang diente ihre Gebärfähigkeit schlicht dem Fortbestand der
       Nation, der Produktion von Soldaten und Arbeiter:innen. Die Idee, dass eine
       Frau eigene Rechte hat und sich nicht nur Ehemann und Staat zur Verfügung
       stellen muss, ist dagegen ziemlich neu – und noch längst nicht global
       anerkannt und verwirklicht.
       
       Erst nachdem die erste Welle der Frauenbewegung ab dem späten 18.
       Jahrhundert grundsätzlich die Rechte von Frauen in den Fokus einer
       organisierten Bewegung rückte, konnten in der zweiten Welle ab den 1960er
       Jahren reproduktive Rechte als eigene menschenrechtsbasierte Forderung
       formuliert werden.
       
       ## Täglich 800 Todesfällle
       
       Reproduktive Rechte, oder genauer „sexuelle und reproduktive Gesundheit und
       Rechte“, betreffen alle Aspekte reproduktiver Gesundheit und die sexuelle
       Selbstbestimmung: die freie Entscheidung zu Elternschaft oder dagegen, das
       Recht, sowohl über die Anzahl als auch den Zeitpunkt der Geburt von Kindern
       zu entscheiden, sowie das Recht, über die dafür nötigen Informationen,
       Kenntnisse und Mittel zu verfügen. Letztlich geht es also um alle Bereiche
       im Lauf eines Lebens, die die Fortpflanzung betreffen – von der Verhütung
       bis zur Geburt.
       
       Seit Jahrzehnten sind reproduktive Rechte international als Menschenrechte
       verankert. Doch das Wesen dessen, was Margaret Atwood in „Der Report der
       Magd“ beschreibt, prägt auch aktuell die Leben von Frauen und Queers
       überall auf der Welt: der nicht enden wollende Kampf gegen ihre
       Unterdrückung durch patriarchale Institutionen, für ihre Rechte und um
       körperliche Selbstbestimmung.
       
       Es ist kein Zufall, dass Feminist:innen in Irland, den USA,
       [2][Argentinien] oder Italien seit einigen Jahren rote Umhänge und weiße
       Hauben als Zeichen ihres Protests für legale Schwangerschaftsabbrüche
       tragen. Viele Menschen haben keinen Zugang zu Verhütungsmitteln – obwohl
       dieser enorme Einfluss darauf hat, ob Menschen freie Sexualität leben
       können oder ungewollt schwanger werden.
       
       Viele ungewollt Schwangere haben keinen Zugang zu sicheren und legalen
       Abbrüchen, eine Legalisierung könnte jährlich 47.000 Menschenleben weltweit
       retten – und Frauen vom Stigma befreien, mit dem Abbrüche noch immer
       einhergehen. Der Zugang zu bestmöglicher Betreuung unter der Geburt
       schließlich könnte Hunderte Todesfälle täglich verhindern. [3][2017, so die
       WHO, waren es jeden Tag mehr als 800 Frauen], die im Zusammenhang mit
       Schwangerschaft und Geburt starben.
       
       ## Demokratie lässt sich an Geschlechtergerechtigkeit messen
       
       Reproduktive Rechte weisen weit über sich selbst hinaus: Wer nicht verhüten
       kann, wer schwanger wird und ein Kind austragen muss, das nicht gewollt
       ist, trägt in sehr vielen Fällen Konsequenzen, die das gesamte weitere
       Leben betreffen. Werden reproduktive Rechte nicht umgesetzt, kann diejenige
       – falls sie das Kind bekommt – möglicherweise nicht mehr zur Schule gehen,
       arbeiten, sich überhaupt frei entfalten.
       
       Wer sich über welchen Zeitraum um Kinder kümmert, prägt den beruflichen wie
       privaten Werdegang bis ins hohe Alter. Damit einhergehen materielle
       Lebensbedingungen wie gleicher oder vielmehr ungleicher Lohn und
       entsprechend ungleiche Renten. Wie reproduktive Rechte in Gesellschaften
       geregelt sind, sagt viel über den Stand von Geschlechtergerechtigkeit,
       letztlich über den Stand der jeweiligen Demokratie aus.
       
       Insbesondere rechte und fundamentalistische Regime instrumentalisieren den
       Körper der Frauen durch Gesetze, die körperliche Selbstbestimmung zutiefst
       missachten. Der internationale Rechtsruck ist insofern auch eine Gefahr für
       die Selbstbestimmungsrechte von Menschen, die schwanger werden können.
       
       Das zeigt sich zum Beispiel in Polen: Dort entschied die Regierung über ein
       nahezu totales Verbot von Abbrüchen. Sogar Föten, die keine
       Überlebenschancen haben, müssen ausgetragen werden. Seit Inkrafttreten des
       Gesetzes im vergangenen Oktober hat dieses Gesetz mindestens eine Frau das
       Leben gekostet. Ärzt:innen weigerten sich, einen nicht lebensfähigen
       Fötus aus ihrem Körper zu entfernen.
       
       Auch in vielen anderen Staaten sind reproduktive Rechte längst nicht
       verwirklicht. Zum Beispiel, wenn Frauen keine Wahl haben, wie sie verhüten
       möchten, wenn ihnen etwa in Uganda langfristig wirkende Hormonimplantate
       eingesetzt werden, obwohl sie lieber ein kurzfristig wirkendes Mittel
       gehabt hätten. Reproduktive Rechte sind in Gefahr, wenn Frauen aus
       ökonomischer Not heraus als Leihmütter arbeiten, damit sich wohlhabende
       Paare aus aller Welt den Traum von einer Familie erfüllen können.
       
       ## Lieber Kinder weißer Akademikerinnen
       
       Und sie werden gebrochen, wenn in Deutschland Krankenhäuser Schwangere mit
       Wehen abweisen, weil Kreißsäle und Hebammen fehlen, oder wenn Frauen
       weltweit unter der Geburt sterben, weil die medizinischen Bedingungen
       miserabel sind. All dem inhärent ist die Frage, um wessen reproduktive
       Rechte es genau geht. Um die von Frauen, könnte man sagen. Gleichzeitig
       jedoch kommt es darauf an, wessen Kinder gesellschaftlich und politisch
       gewünscht sind – und wessen nicht.
       
       Wenn etwa die AfD den Slogan „Neue Deutsche? Machen wir selber“, plakatiert
       oder sich im sächsischen Landtag danach erkundigt, wie viel Geld das Land
       für die Sterilisierung von geflüchteten Frauen zur Verfügung stellen könne,
       bedient sie damit dasselbe Bild wie der Attentäter von Christchurch, der
       mehr als 50 Menschen in einer Moschee erschießt und in seinem sogenannten
       Manifest rechtsextreme Verschwörungserzählungen verbreitet: weiße Frauen
       bekämen zu wenige Kinder, der „große Austausch“ der weißen Bevölkerung
       durch Migration müsse gestoppt werden.
       
       Diese Erzählungen sind extrem, doch sie docken an einen in der Gesellschaft
       weit verbreiteten Wunsch an, dass vor allem weiße Akademikerinnen
       ausreichend Nachwuchs bekommen und damit dem Fach- und Führungskräftemangel
       sowie dem demografischen Wandel entgegenwirken.
       
       Dass marginalisierten Gruppen das Recht auf Elternschaft nicht nur
       diskursiv abgesprochen, sondern faktisch verwehrt wird, prägt die jüngere
       westliche Geschichte. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde
       die Eugenik populär, deren AnhängerInnen die Fortpflanzung als krank oder
       arm definierter Menschen verhindern und die der als gesund und überlegen
       Definierten fördern wollten. In den USA und Europa wurden Zehntausende
       aufgrund eugenischer Gesetze sterilisiert – vor allem Frauen.
       
       ## Zwangssterilisierungen bis in die 1990er
       
       Grausam auf die Spitze trieben diese Praxis die NationalsozialistInnen mit
       ihrer Unterteilung in vermeintlich wertes und unwertes Leben. Doch noch
       lange nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Unfruchtbarmachung wider Willen
       ein häufig angewandtes Instrument der Bevölkerungspolitik. Bis in die
       späten 1950er Jahre strafte Großbritannien auf diesem Weg homosexuelle
       Männer – das wohl berühmteste Beispiel ist 1952 der Enigma-Entschlüssler
       Alan Turing.
       
       Bis in die 1970er Jahre hinein wurden in den USA unzählige Schwarze Frauen
       ohne Einwilligung sterilisiert. In Peru wurden in den 1990er Jahren vor
       allem arme, indigene Frauen ohne ausreichende Aufklärung sterilisiert –
       teilfinanziert von westlichen Staaten, die sich niedrigere Geburtenraten im
       Globalen Süden wünschten. Und erst 2011 erklärte das deutsche
       [4][Bundesverfassungsgericht] es für verfassungswidrig, dass
       transgeschlechtliche Menschen sich für eine Personenstandsänderung
       sterilisieren lassen müssen.
       
       Bis heute sind Frauen, queere und marginalisierte Menschen nicht
       selbstbestimmt in ihrer Sexualität und Fortpflanzung. Sie werden
       bevormundet, herabgewürdigt, eingeschränkt und allein gelassen. Peru 2016,
       Irland 2018, Mexiko 2021: Weltweit gehen Feminist:innen in roten
       Umhängen für ihre Rechte auf die Straße.
       
       Es geht ihnen um die Verwirklichung von Rechten: das Recht, ein Kind zu
       bekommen, das Recht, kein Kind zu bekommen, und das Recht, Kinder unter
       sicheren und würdevollen Umständen großzuziehen. Fast 40 Jahre nachdem
       reproduktive Rechte von den Vereinten Nationen zu Menschenrechten erklärt
       wurden, müssen sie trotzdem immer wieder neu erstritten werden. Es geht um
       ein gutes Leben für alle. Das Recht auf den eigenen Körper ist die
       Grundlage dafür.
       
       Dieser Essay beinhaltet Thesen des Buchs „Selbstbestimmt. Für reproduktive
       Rechte“ der Autorinnen, das am 17. März im Verlag Klaus Wagenbach
       erscheint.
       
       13 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Margaret-Atwoods-Die-Zeuginnen/!5624819
   DIR [2] /Feministische-Bewegung-in-Argentinien/!5831092
   DIR [3] https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/maternal-mortality
   DIR [4] /Transsexuellengesetz/!5787697
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gesine Agena
   DIR Patricia Hecht
   DIR Dinah Riese
       
       ## TAGS
       
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