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       # taz.de -- Protest gegen Putins Krieg: Putinocchio und Friedenstauben
       
       > In vielen deutschen Städten wie in Berlin gingen am Sonntag mehr als
       > hundertausend Menschen gegen den Ukraine-Krieg auf die Straße.
       
   IMG Bild: Klartext auf der Demonstration gegen den Ukraine-Krieg in Berlin am 13.03.2022
       
       Berlin taz | Vor dem Fernsehturm sitzt Putin an einem Tisch, der so lang
       ist wie seine Nase. „Putinocchio“ steht darüber. Es ist eins von hunderten
       Schildern und blau-gelben Flaggen, die am Sonntag die Straßen in
       Berlin-Mitte schmücken. Deutschlandweit gingen erneut mehr als
       hunderttausend Menschen gegen den Angriff auf die Ukraine auf die Straße,
       in Berlin sind es Zehntausende. Das Bündnis „Stoppt den Krieg“ hatte zu
       Versammlungen in einigen deutschen Städten wie Leipzig, Hamburg, Stuttgart
       und eben Berlin aufgerufen.
       
       [1][Betroffenheit ist den Menschen auf dem Alexanderplatz], dem Startpunkt
       der Demonstration, deutlich anzumerken. Viele gehen schweigend, die Hände
       hinter dem Rücken verschränkt oder bei ihren Mitdemonstrant*innen
       untergehakt. Nur vereinzelt skandiert jemand: „Hoch die internationale
       Solidarität“, Musik ist kaum zu hören.
       
       Auch Nikolai Ivanov ist sichtlich bewegt von den Ereignissen der letzten
       Tage. Der 48-jährige Kunsthistoriker lebte bis vor dreieinhalb Jahren in
       Sankt-Petersburg. Seit zwanzig Jahren engagiert er sich bei [2][Memorial,
       einer russischen Bürgerrechtsorganisation], die sich für die Aufarbeitung
       der Verbrechen des Stalin-Regimes einsetzt und Menschenrechtsverletzungen
       in Russland aufdeckt. Im vergangenen Dezember wurde sie in Russland durch
       den Obersten Gerichtshof verboten, unter anderem, weil sie zur
       Destabilisierung des Justizsystems beitrage, hieß es in der Begründung.
       Obwohl er mittlerweile in Berlin lebt, steht Ivanov mit Aktivist*innen
       in Russland in stetigem Kontakt. „Meine Freunde dort stehen unter großem
       Druck“, erzählt er. Wer kann, verlasse das Land. Viele hätten jedoch kein
       Geld für den Umzug oder blieben wegen pflegebedürftiger Angehöriger.
       
       Dass Putins Regime repressiver werden würde, habe sich schon 2014
       angekündigt. „Es war nicht nur der Krieg auf der Krim. Man hat das in
       Europa nicht so verfolgt, aber in Russland haben wir jeden Tag Zeichen der
       Unterdrückung von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten gesehen. Viele
       von ihnen verloren ihre Jobs oder bekamen hohe Geldstrafen, manche wurden
       verprügelt oder verhaftet, weil sie zu Demonstrationen gegen den Krieg
       gingen.“ Dass so viele Menschen in der EU Solidarität mit Ukrainer*innen,
       aber auch mit russischen Oppositionellen zeigten, berühre ihn. „Wenn ich
       meinen Bekannten diese Bilder zeige, merke ich: sie brauchen das dringend,
       sie sind dankbar für jede Unterstützung“, sagt er und deutet auf die
       Menschenmenge vor ihm.
       
       ## Der Protest – ein Zeichen für Demokratie
       
       Dort versammeln sich gerade Familien mit Kindern, ältere Menschen mit
       Fahrrädern und Rollatoren, junge Leute mit Regenbogenfahnen und
       Antifa-Pullovern. Ein Kind trägt ein Schild, auf dem in Star-Wars-Schrift
       „Stop Wars“ geschrieben steht. Ein anderes hält eine aus Pappmaché
       gebastelte Friedenstaube in die Luft.
       
       „Putin interessiert das herzlich wenig“, sagt ein junger Mann namens Jakob.
       Aber es sei immerhin ein Zeichen, auch für uns, für die Demokratie und den
       europäischen Zusammenhalt. Vor zwei Wochen hatte das Bündnis „Stoppt den
       Krieg“ schon einmal zu Protesten aufgerufen. In Berlin gingen nach
       Polizeiangaben mehr als hunderttausend Menschen auf die Straße. Da habe man
       zumindest noch konkrete Sanktionen gegen Russland fordern können, die jetzt
       erlassen wurden, sagt der Demonstrant. Nun sei der Protest eher symbolisch,
       mehr könne man nicht machen. Dass die NATO militärisch in den Krieg
       eingreift, zum Beispiel durch eine Flugverbotszone, lehne er ab.
       
       Genau das würde ihren Landsleuten helfen, meint dagegen Sofia Balamar.
       „NATO close the sky over ukraine“, hat sie in großen blau-gelben Buchstaben
       auf ein Plakat geschrieben. Die 18-Jährige ist vergangene Woche aus Kiew,
       ihrer Heimatstadt, geflohen und bei Verwandten in Berlin untergekommen.
       „Die Menschen aus meinem Land leiden. Sie sitzen in den Kellern, haben
       nichts zu essen und nichts zu trinken.“ Deshalb gehe sie hier auf die
       Straße, sagt sie, „die NATO muss uns helfen.“ Auch die wirtschaftlichen
       Beziehungen, die insbesondere Deutschland nach Russland halte, müssten
       gekappt werden.
       
       Dass die Sanktionen wirklich etwas bewirken, bezweifelt Nikolai Ivanov, der
       Memorial-Aktivist. In Russland stünden viele Menschen hinter Putin, die
       Propaganda wirke. Dass sich die Russ*innen gegen Putin auflehnen werden,
       hält er für unwahrscheinlich. Im Gegenteil: „Die Menschen werden nicht auf
       die Straßen gehen. Sie sind bereit zu leiden für Putin, dem sie vertrauen.
       Sie werden ihn nur noch mehr unterstützen. Es wird für sie sogar eine Art
       heilendes Gefühl auslösen, das sie verbindet, weil sie denken, dass sie
       etwas tun, was richtig ist: Putin zu helfen.“
       
       ## Peace-Zeichen, Friedenstauben und eine Litauen-Flagge
       
       Dabei zeige sich gerade am Krieg und an den offenbar schlecht ausgerüsteten
       russischen Truppen, wie wenig das Bild, das Putin von Russland gezeichnet
       habe, zutreffe. „Putins Russland ist eine Geschichte, hinter der sich
       nichts verbirgt. In Wirklichkeit funktioniert in Russland nichts, die
       Menschen sind arm, es gibt keine eigene Industrie.“ Auch die Ölvorkommen
       würden daran nichts ändern, nicht für die Bevölkerung. Ivanov ist sich
       sicher, er möchte es sein: „Die Ukraine wird gewinnen.“
       
       Und dann? In jedem Fall blieben Traumata, sagen Elena und Žilvinas.
       Inmitten der vielen Plakate, Peace-Zeichen und Friedenstauben schwenken sie
       eine große gelb-grün-rote Flagge für Litauen, ihr Heimatland. Sie fühlen
       mit den Ukrainer*innen, sagen sie. „Was sie erleben, kennen wir von unseren
       Eltern und Großeltern, die durch den Krieg traumatisiert sind“, sagt Elena.
       „Die Angst wohnt immer noch in uns.“
       
       Dass Putin auch das Baltikum und damit EU-Staaten angreifen werde, glaubt
       sie nicht. Žilvinas widerspricht ihr: „Das ist schon eine Möglichkeit,
       Putin hat schließlich keine Logik mehr.“ „Putins Wahrnehmung der
       Wirklichkeit ist verzerrt“, sagt auch Ivanov. „Er dachte, nach der
       schwachen Reaktion Europas auf die Annexion der Krim wäre der Krieg in der
       Ukraine eine klare Sache.“ Eine realistische Einschätzung der Streitkräfte
       gebe es im Kreml nicht, auch, weil sich Putin wegen der Pandemie für zwei
       Jahre komplett isoliert habe. „Sie haben den langen Tisch gesehen“, sagt
       Ivanov. Den langen Tisch – und die lange Nase.
       
       13 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Berlin-und-der-Krieg-in-der-Ukraine/!5840824
   DIR [2] /Menschenrechtsorganisation-Memorial/!5827468
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jette Wiese
       
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