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       # taz.de -- Liebe zum Vinyl auf dem Land: Rockklassiker bevorzugt
       
       > Auch auf dem Dorf in der Altmark gibt es Kulturleben. Die „Musikfreunde
       > Schwarzendamm“ pflegen als gesellige Hörgemeinschaft ihre Liebe zum
       > Vinyl.
       
   IMG Bild: Die Kuh live und auf Konserve: die „Musikfreunde Schwarzendamm“ und ihre Lieblinge
       
       Eigentlich ist CD-Hören ja out, aber im Auto auf dem Weg von Berlin in die
       Altmark macht es richtig Spaß. Man braucht keine Verkehrsnachrichten, nur
       einen Sound, der zur vorbeirauschenden Landschaft passt. Kein Pop, aber
       auch nichts zu Sprödes. Im Fahrtrausch geht’s über die Landstraßen. Am
       Ortseingang von Kloster Neuendorf springt einem ein Transparent an einer
       bröckeligen Hauswand ins Auge: Metal Frenzy. Rock und Metal Open Air
       Gardelegen 11. bis 13. 6. 2020.
       
       Das Festival fiel natürlich aus Pandemiegründen aus, und offenbar gibt es
       auch keinen Ersatztermin. Damit hat die Region hier im nördlichen
       Sachsen-Anhalt ein Musikereignis weniger. Eins weniger von wenig.
       
       Das über zwei Landkreise gedehnte Gebiet der Altmark zwischen Berlin und
       Hamburg ist kulturell zwar kein Niemandsland, aber allzu viel los ist hier
       auch nicht. Mangels lukrativer Einwohnerschaft spielt sie für bekannte
       Kulturschaffende kaum eine Rolle. Namhafte Bands machen keine Tourstation,
       und selbst kleine Bands tingeln hier in begrenzter Zahl. Was noch ganz
       anders war zu der Zeit, als ich meine Jugend in der Altmark verbrachte.
       
       In den späten 70ern, Anfang der 80er gehörte Livemusik fest zum staatlich
       subventionierten Kulturleben auf dem Lande. Zum Dorfbums, der im
       offiziellen Kultursprech Jugendtanz hieß, spielten lokale und DDR-weit
       bekannte Bands. Oder DJs, die selbst in der Altmark DJs hießen und nicht
       Schallplattenunterhalter, schon weil sie nie Platten auflegten. Weil die
       Westplatten viel zu wertvoll waren, wurden sie auf Tonbänder überspielt.
       Aber darauf kam es nicht an, einzig auf die Musik. War die schlecht, hieß
       es: wie in der Russendisco. Die 90er waren weit weg, und der mit seiner
       „[1][Russendisko“ bekannt gewordene Wladimir Kaminer] lebte noch in der
       Sowjetunion. Damals aber stand Russendisco für das Gegenteil von cool.
       
       ## Kleiner Freundeskreis
       
       Einer, der als Bandmusiker die goldenen Jahre des Dorfbums im Osten erlebt
       hat, ist Hans-Werner Hartmann. Der 70-Jährige gehört zu einem kleinen
       Freundeskreis, der für ein Stückchen kulturelles Leben in der Altmark anno
       2022 steht. Die fünf „Musikfreunde Schwarzendamm“ machen selbst keine
       Musik, sie hören nur welche. Bevorzugt Rockklassiker aus den 70ern. Songs,
       zu denen man Schwänke aus der Jugend erzählen kann.
       
       So wie an diesem Freitagabend in einem Zimmer des Gemeindehauses von
       Dönitz, das mit Schwarzendamm eine Gemeinde bildet. In dem kleinen Raum
       befand sich zu DDR-Zeiten der Dorfkonsum. „Hier hat Rosi [2][‚Rosenthaler
       Kadarka‘] unterm Ladentisch verkauft“, sagt Rolf Heidmann, 63. Die
       ostdeutsche Rotweinlegende steht heute nicht auf dem Tisch, dafür Bier,
       Whisky, Cola und ein Teller mit belegten Broten. Zum erweiterten Ambiente
       gehören eine HiFi-Anlage, Schallplattenkisten und ein Bügel, auf dem das
       offizielle Musikfreunde-T-Shirt hängt. Darauf der Slogan „Ist Dir die CD zu
       kühl – hör Vinyl“. Ein altbackener Sprechreim, hip wie ein Mettbrötchen
       zwischen Veggie-Schnittchen.
       
       Die Männer am Tisch sind fünf von 56 Einwohnern von Schwarzendamm, einem
       Dorf mit 17 Häusern. Ihr Freundeskreis ist kein echter, sprich
       eingetragener Verein, dafür aber ein bisschen berühmt. Vor Jahren hatte ein
       Fachmagazin Plattengeschichten aus der Provinz gebracht und auch über die
       Musikfreunde geschrieben. Darauf sind sie heute noch stolz, vor allem, weil
       sie als Einzige in der Reportage keinen kommerziellen Hintergrund hatten.
       Die anderen Vinylfreaks waren Betreiber eines Labels oder Ladens. Die
       Altmärker pflegen die Liebe zum Vinyl nur für sich.
       
       ## Auch ein Vinylnerd
       
       „Zusammensitzen, Musik hören und dummes Zeug quasseln“, beschreibt Rolf
       Heidmann (Tiefbauer, Lieblingsband: Pink Floyd) den Kern ihrer
       Feierabendverbindung. Alle nicken: sein Bruder Bernd (Fliesenleger,
       Santana), Hans-Werner (Rentner, Creedence Clearwater Revival), Heiko
       Schulze (Lagerist, Metalrock) und mit Mitte fünfzig der Jüngste in der
       Runde sowie Friedhelm Licht. Der ist so was wie der Zirkelleiter und der
       Einzige, den man als Vinylnerd bezeichnen könnte.
       
       Lange hat er für eine große Hifi-Firma gearbeitet. Deshalb verfügt er über
       ein umfangreiches Equipment an Technik, außerdem über die größte
       Plattensammlung von allen. Fachtermini sprudeln ebenso aus ihm heraus wie
       Anekdoten aus seinem frühen Plattensammlerleben in der DDR. Wie er der Oma
       für ihren Besuch im Westen Kaufaufträge mitgab oder wie sein erster LP-Kauf
       in der Kreisstadt Klötze zum Fauxpas geriet. Statt für die
       Amiga-Lizenzplatte von [3][Jimi Hendrix] hatte er sich für James Last
       entschieden.
       
       Um seine Vinylliebe und -geschichten mitzuteilen, fuhr er auch schon mal
       250 Kilometer nach Berlin. Dort, bei der „Vinylweihnacht“ eines
       Radiosenders, genoss er das Interesse an seinen Erzählungen aus der
       Provinz. „Da habe ich gemerkt, dass wir auch eine schöne Geschichte über
       Schwarzendamm zu erzählen haben. Das ist ja nicht selbstverständlich für
       unser Dorf, in dem alle älter werden. Wo findet denn bei uns sonst noch
       groß Vereinsleben statt?“
       
       ## Licht in der Finsternis
       
       Dass die Schwarzendammer Musikfreunde ein kleines Licht in der Finsternis
       des dörflichen Kulturlebens anzündeten, passierte zufällig. 2012 war der in
       Stuttgart lebende Bruder der Heidmanns gestorben. Rolf hatte seine
       Plattensammlung geerbt und wusste mit ihr zunächst nichts anzufangen. Er
       behielten sie trotzdem und entdeckte bald die besondere Wirkung des Vinyls.
       „Wenn du eine Platte hörst, ist das ja ganz andere Musik. Früher war mein
       Hobby Arbeiten, jetzt nehme ich mir die Zeit, mal eine Scheibe aufzulegen.
       Da kannste echt abschalten.“
       
       Das Vinylerbe lieferte den Grundstein für die Hörgemeinschaft, die sich im
       Dezember 2014 erstmals zu einem Plattenabend traf. Es war zufällig der
       Todestag von Joe Cocker. Man legte dessen Musik auf, plauderte darüber und
       beschloss, so etwas öfter zu tun. Nicht nur zu Todestagen weiterer
       Rock-’n’-Roll-Helden wie Tom Petty oder Lemmy von Motörhead, sondern
       einfach so.
       
       Einen vernünftigen Plattenspieler haben sie inzwischen alle, nur Heiko hat
       überhaupt keinen. „Mich zu Hause hinsetzen und Musik hören, dazu habe ich
       gar keine Zeit.“ Ihm reicht die Runde mit den Freunden, das gemeinsame
       Quatschen über Musik. Zunächst ging’s reihum zu jedem nach Hause, jetzt ist
       das Gemeindehaus monatlicher Treffpunkt, um vor allem der Geselligkeit zu
       frönen. Großstädter würden darüber vielleicht ihre Trendnasen rümpfen, aber
       auf dem Dorf läuft sozialer und kultureller Austausch halt anders.
       
       „Wir müssen keine tiefschürfenden Gespräche über Platten und Vinyl führen,
       um einen Sinn fürs Zusammenkommen zu finden“, sagt Friedhelm. „Wir legen
       auch mal was auf, das andere Plattenfreaks vermutlich nicht anfassen
       würden.“ Auf dem Player dreht sich eine Smokie-LP. Jeder darf auflegen, was
       er will, außer Volksmusik. Klassik ist nicht verpönt, kommt aber auch nur
       als Deep Purples „Concerto for Group and Orchestra“ vor.
       
       ## Was ist denn Spotify?
       
       Manchmal gibt’s auch Minikino, wenn sie sich ein Musikvideo anschauen. Nur
       Streaming ist kein Thema. „Spotify, was ist das“, fragt Hans-Werner, „ein
       Musiksender?“ Kurzes Stutzen beim Frager, will er mich veräppeln? „Nein,
       gar nicht.“ Rolf sorgt für Erklärung: „Wenn die Jugend Party macht, dann
       nehmen die das Handy und geben ein, welche Musik sie haben wollen.“
       
       Während ökobewusste Streamingkritiker der exzessive Stromverbrauch stört,
       lehnt Friedhelm vor allem die flüchtige, wenn nicht antigemeinschaftliche
       Art dieses Musikkonsums ab. „Ich habe noch nicht gehört, dass sich Leute zu
       Spotify-Partys treffen, um Musik zu hören und darüber zu quatschen. Wenn
       jemand in der Runde eine Santana-Platte auflegt, die er endlich auf dem
       Flohmarkt gefunden hat, freut er sich tierisch. Wer freut sich schon, wenn
       er bei Spotify mal einen Titel gefunden hat. Da ärgern sich die Leute
       höchstens, dass [4][Neil Young nicht mehr im Angebot ist].“ Und dann kommt
       er noch auf die grundsätzliche Veränderung in der kulturellen Sozialisation
       der Menschen. „In unserer Generation und besonders für uns in der DDR hatte
       das Thema Musik eine ganz andere Bedeutung. Pathetisch gesagt: Sie hat
       unseren tristen Alltag verschönt.“
       
       Den Alltag in Dönitz finden sie heute nicht trist, aber ja, für Abwechslung
       müsse man schon selber sorgen. Das sei nicht wie in der Großstadt. „Wir
       kriegen unsere Hintern hoch und organisieren uns unsere Kulturevents
       selbst.“ Manchmal fahren sie, nicht alle zusammen, zu Konzerten nach
       Hamburg, Berlin oder Hannover. Demnächst geht’s nach Quedlinburg zur
       Ausstellung über das DDR-Label Amiga.
       
       Darüber freuen sich auch ihre Frauen, die es schon deshalb nicht in den
       Musikfreundeskreis zieht, weil sie ihr eigenes Ding machen. Zum Beispiel in
       einer von Friedhelms Ehefrau geleiteten Step-Aerobic-Gruppe. Die tritt in
       der halben Altmark auf, wenn nicht gerade Pandemie herrscht.
       
       So bleibt die Vinylrunde Männersache, was dem auch in Großstädten üblichen
       Trend entspricht. Aus Berlin bekommt Rolf übrigens manchmal Besuch von
       seinem Sohn. „Der kauft auch Schallplatten, hört die aber nur bei mir. In
       seiner Wohnung in Berlin kann er die nicht laut hören. Hier drehen wir sie
       dann auf und hören sie zusammen.“
       
       4 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Persiflage-mit-Wladimir-Kaminer/!5616285
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       ## AUTOREN
       
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