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       # taz.de -- Vom Standpunkt der Katastrophe
       
       > Die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer
       > ist ein Jahrhundertbuch. Martin Mittelmeier untersucht mit „Freiheit und
       > Finsternis“ dessen Genesis und Geltung
       
   IMG Bild: Späterhin Klassiker: Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969)
       
       Von Jörg Später
       
       Äußerlich betrachtet ist die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer
       und Theodor W. Adorno ein Klassiker. Es ist das nachhaltigste Werk aus dem
       Zusammenhang der Frankfurter Sozialphilosophie, die während des
       Nationalsozialismus Zuflucht in New York und Los Angeles gefunden hatte.
       Das Buch ist zeitlich so weit entfernt von heute wie es selbst zum
       Zeitpunkt seines Entstehens von Karl Marx’ „Das Kapital“. Es entstand im
       Schatten von Auschwitz. Die Vernichtung der Juden in Europa wird zwar
       nirgendwo direkt benannt, doch ist sie überall gegenwärtig. Die Autoren
       nahmen sie als historische Zäsur wahr, nach der nichts mehr so ist wie
       zuvor, inklusive das eigene Denken. Die „philosophischen Fragmente“ – wie
       der folgerichtige Untertitel lautet – sind ein Jahrhundertbuch geworden,
       dessen Genesis und Geltung Martin Mittelmeier zu rekonstruieren verspricht.
       
       Innerlich betrachtet ist die „Dialektik der Aufklärung“ eine sonderbare
       Schrift. Das liegt nicht nur am Fragmentarischen. Vielmehr ist das
       Leseerlebnis von Zwiespalt geprägt: Dieses Buch ist schwer zu fassen – man
       versuche nur mal in dem Kapitel „Begriff der Aufklärung“ die wichtigsten
       Stellen zu unterstreichen oder es in Abschnitte einzuteilen. Und doch hat
       jeder Satz eine ungeheure Sogkraft, eine ästhetische Wirkung. Die Autoren
       bauen keine Argumentation auf, sondern variieren die immer gleiche These:
       dass bereits der Mythos Aufklärung ist und Aufklärung in Mythologie
       zurückschlägt. Die Sätze sind apodiktisch, und doch entsteht der Eindruck
       hoher Plausibilität. Die geschichtsphilosophische Erzählung ist maßlos in
       ihrer Reichweite, aber es gibt darin kein unnützes Wort. Mittelmeier fragt
       sich, warum das so ist.
       
       Seine äußerliche historische Rekonstruktion erfolgt im Plauderton.
       Kritische Theorie zu erzählen, ist gewagt, muss aber nicht zwangsläufig
       scheitern, solange der Interpret nicht lax wird. Das ist dem Autor
       keinesfalls vorzuwerfen, aber doch übertreibt er es mit der Annekdoterei,
       den Montagen, Sprüngen und Spekulationen. Immer dann, wenn das Tempus vom
       gediegenen Präteritum ins aufdringliche Präsens wechselt, wird es
       Spiegel-like. Manche Überschriften sind wie Warnschilder für
       Actionphilosophie: „Philosophen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, „Angst
       essen Aufklärung auf“, „Am Grauen vorbeidefilieren“. Andere erzeugen
       schlicht Stirnfalten: „Kreuzchen mit Gummistempel“, „Gib’s auf! Halte
       stand!“, „Atome atomisiert“.
       
       Die Reise ins Innere der „Dialektik der Aufklärung“ birgt hingegen
       erstaunliche Einsichten. Mittelmeier glänzt im Dechiffrieren der
       Rätselhaftigkeit dieser Schrift. So ist ihm aufgefallen, dass jeder, der
       versucht, einem interessierten Mitmenschen die Gedanken des Buches zu
       vermitteln, feststellt, wie schnell man ins bloße Nachbeten kommt und wie
       dürftig die Argumentation ist, obwohl man von dem Gefühl völliger
       Schlüssigkeit durchdrungen ist. Das liege an der Inszenierung, sagt
       Mittelmeier, der überdies nicht bloß behauptet, dass Adorno seine Texte
       durchkomponiert hat wie Musikstücke, sondern es auch aufzeigt: In jedem
       einzelnen Abschnitt des Essays über den Begriff der Aufklärung zum Beispiel
       sei das dialektische Bild von der Verschränktheit von Mythos und Aufklärung
       präsent und in der Mitte zentriert. Solches Close Reading legt nahe, den
       Klassiker nicht zu lesen wie andere Texte, sondern ihn zu begehen wie einer
       Installation, in der alles gleichzeitig zu sehen ist. Die Kraft dieses
       Jahrhundertbuchs beruht demnach auf der Performance eines dialektischen
       Bildes, also auf der Form.
       
       Auf der interpretatorischen Ebene sind zwei von Mittelmeiers Thesen
       strittig. Zum einen die durchaus gängige, dass diese tiefschwarze Schrift
       eine Abkehr von der Gesellschaftskritik à la Marx bedeutete – hin zu einer
       Urgeschichte und Genealogie der Gewalt. Gewiss, eine
       geschichtsphilosophische Konstruktion, die einen Urfehler in der
       Menschheitsgeschichte sucht, bewegt sich auf einem anderen Boden als die
       Kritik der politischen Ökonomie. Diese muss damit aber nicht hinfällig
       geworden sein.
       
       Auch wenn die „Dialektik der Aufklärung“ der Versuch ist, den
       „Zivilisationsbruch“ von Auschwitz philosophisch zu erfassen, und das
       Marx’sche Besteck dafür als nicht ausreichend erachtet, sind deren Autoren
       doch weiter mit der materialistischen Gesellschaftskritik verbunden. Die
       „Dialektik der Aufklärung“ sollte die Urgeschichte der kapitalistischen
       Gesellschaft sein, aus der die Nazi-Barbarei entwachsen sei, die aber
       wiederum nicht mehr mit einer Kritik des Kapitalismus zu fassen ist. Kein
       Abschied von Marx also, aber eine neue Perspektive auf die
       Gattungsgeschichte vom Standpunkt der Katastrophe aus.
       
       Zum anderen ist Mittelmeiers Idee verwunderlich, der Holocaust sei in
       Adornos angeblicher Erlösungsphilosophie wie eine Kippfigur zwischen
       Himmel und Hölle eingegangen. Die Leichenberge als letzte Etappe vor dem
       Übergang in eine menschliche Gesellschaft? Nein, eine solche Dialektik von
       Hölle und Himmel gibt es bei Adorno nicht!
       
       Mittelmeiers großes Verdienst liegt darin, die „Dialektik der Aufklärung“
       als ein Sprachkunstwerk auszuweisen und ihre Komposition zu dechiffrieren.
       Über die Genesis des Buches erfahren wir manch Überraschendes, doch wirken
       die Geschichten rund um das Buch oft allzu konstruiert. Über die
       historischen Gründe der Geltung des Klassikers, der ja erst 20 Jahre später
       zu einem wurde, erfahren wir wenig.
       
       Eine „Sternstunde der Philosophie“, wie der Siedler Verlag angibt, ist
       Mittelmeiers „Freiheit und Finsternis“ eher nicht. Aber es besticht mit
       manch klugen Einsichten.
       
       Martin Mittelmeier: „Freiheit und Finsternis. Wie die ‚Dialektik der
       Aufklärung‘ zum Jahrhundertbuch wurde“. Siedler Verlag, München 2021, 321
       Seiten, 24 Euro
       
       4 Mar 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörg Später
       
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