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       # taz.de -- Institut sammelt Untergrundliteratur: Sicherer Hafen geheimer Schriften
       
       > Die Bremer Forschungsstelle Osteuropa wurde in der Polen-Krise von 1982
       > gegründet. Sie hat ein riesiges Archiv und etliche Dissidentennachlässe.
       
   IMG Bild: Zentraler Auslöser für die Gründung der Forschungsstelle: die polnische Gewerkschaft Solidarnosc
       
       Bremen taz | In Zeiten des Ukraine-Kriegs und des westlichen Erstaunens
       über Putin ist ihre Expertise gefragter denn je: Die Rede ist von der
       Bremer Forschungsstelle Osteuropa, gegründet zu einem ähnlich brisanten
       Zeitpunkt wie jetzt: 1982, kurz nachdem General Jaruzelski in Polen das
       Kriegsrecht verhängt hatte, um die oppositionelle Gewerkschaft
       [1][Solidarność] zu stoppen, gründete Wolfgang Eichwede, Professor für
       Politik und Zeitgeschichte Osteuropas an der Universität Bremen, dort die
       Forschungsstelle Osteuropa.
       
       Denn Eichwede, seit vielen Jahren eng mit Intellektuellen, KünstlerInnen
       und DissidentInnen der damaligen Sowjetunion, Polens, der damaligen
       Tschechoslowakei befreundet, sah klar, was nötig war: eine westliche
       Dokumentations- und Anlaufstelle als „sicheren Hafen“ für Schriften,
       Dokumente, teils auch Kunstwerke von KritikerInnen aus Ost- und
       Ostmitteleuropa zu schaffen. Es ging ihm um ein kulturelles Gedächtnis des
       Widerstands, das Innenansichten dieser Gesellschaften bot. Denn die
       Regimes, gegen die sich die DissidentInnen richteten, würden Spuren dieser
       Erinnerung eher auszulöschen trachten.
       
       Eichwede, bis 2007 Leiter des außeruniversitären Instituts an der Uni
       Bremen, initiierte zur Finanzierung die Gründung einer Stiftung; getragen
       von Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Bis 1986 flossen Gelder der
       VW-Stiftung, heute zahlt die Kultusministerkonferenz.
       
       ## Über 100.000 originale Samisdat-Dokumente
       
       Auch mit seiner Idee hatte Eichwede Erfolg: Mit inzwischen über 100.000
       originalen Dokumenten des Samisdat – der Untergrundliteratur –, sowie mit
       Fotos und Kunstwerken aus der Ex-Sowjetunion, der Ex-Tschechoslowakei, aus
       Polen, teils auch aus Ungarn und der DDR ist die Forschungsstelle das
       weltweit größte Samisdat-Archiv geworden. Auch 500 persönliche Archive
       lagern dort, unter anderem die der Autoren Lew Kopelew und Jurij Trifonov.
       
       Und was zu Zeiten des Kalten Krieges auf oft illegalen Umwegen nach Bremen
       kam, konnte nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs ab 1989/90 offiziell
       dorthin gebracht, in Forschungsarbeiten analysiert und zugänglich gemacht
       werden. Seit den 2000er-Jahren wird dieser Wissenstransfer durch
       regelmäßige „Länderanalysen“ über Russland, Polen, [2][Ukraine],
       [3][Belarus] und Zentralasien ergänzt, die man kostenlos per Mail
       abonnieren kann.
       
       Dass sich der Fokus der Forschungsstelle nach 1989 verschob, versteht sich:
       Die Transformation des postkommunistischen Ost- und Ostmitteleuropa geriet
       ins Blickfeld – vor allem die Identität stiftenden historischen
       Kontinuitäten, auf denen der Neuanfang basierte. Und die im Widerstreit
       standen mit dem Erbe der „sowjetischen Hegemonialzeit“, wie es die
       Institutshomepage formuliert. Auch der Einfluss von Unternehmen auf die
       Politik sowie die Integration postkommunistischer Staaten [4][in die EU]
       wurde Thema.
       
       ## Ukraines Radikalnationalisten sind schwächer als die AfD
       
       Doch Geschichte kann, wie man aktuell sieht, gewaltsam zurückgedreht
       werden. Putin sei jemand, „der offenbar vollkommen verschlossen in seiner
       Welt denkt und lebt“, sagte Institutsgründer Eichwede jüngst in Radio
       Bremens TV-Sendung „buten un binnen“. „Er nimmt andere Positionen nicht
       mehr zur Kenntnis, seine Auftritte tragen in meinen Augen autistische Züge
       oder Züge von Wahnsinn.“
       
       Putin sei wohl überzeugt, dass sein Land nur als imperiale Macht bestehen
       werde und dass er seine schwindende Popularität durch militärische Erfolge
       stoppen könne. Dabei lenke er nur von inneren Problemen ab. Ökonomisch etwa
       sei das hochgerüstete Russland „bestenfalls eine Mittelmacht im unteren
       Bereich.“
       
       Ganz und gar abwegig findet Eichwede Putins Behauptung, er bekämpfe
       Faschisten, die in der Ukraine an der Macht seien. „Das ist eine ebenso
       falsche wie bösartige Verleumdung“, sagt Eichwede in dem Interview.
       „Radikalnationalistische Kräfte in der Ukraine haben in Wahlen nur wenige
       Prozent errungen. Sie spielen im politischen Leben der Ukraine keine
       maßgebliche Rolle und sind schwächer als die AfD in Deutschland.“
       
       10 Mar 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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