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       # taz.de -- Millionen-Metropole Charkiw: Die vierte Schlacht
       
       > Charkiw steht unter Beschuss. Erinnerungen an Kriege prägen die Stadt –
       > und die vielen Studierenden aus aller Welt, die um ihr Leben bangen
       > müssen.
       
       Die Rakete am vergangenen Dienstag, dem 1. März, erreichte ihr Ziel um 8.01
       Uhr. Eine [1][Kamera] hat dokumentiert, wie sie das sechsgeschossige,
       wuchtige Gebäude in Charkiw binnen einer Sekunde in eine Ruine verwandelte.
       Die Sequenz des Angriffs, bei der elf Menschen gestorben sein sollen, ist
       beklemmend, die Wirkung eines einzigen Sprengsatzes furchtbar. Das
       betroffene Gebäude ist gleichermaßen Sitz vom Stadt- und vom
       Gebietsparlament, es begrenzt den Freiheitsplatz in Charkiw nach Süden.
       Seine genaue Adresse lautet Sumska-Straße 64.
       
       Vor einigen Jahren stand ich vor dem Bau. Später habe ich den Giganten, ich
       wähnte ihn aus den dreißiger Jahren, in einem Reiseführer über die Ukraine
       erwähnt, bei der Aufzählung der Bauwerke rings um den Freiheitsplatz. Weil
       das spektakulärste am anderen Ende aufragt, hat mich der Bau aber nicht
       weiter interessiert.
       
       Häuser haben eben, wie Menschen, ihr Schicksal. Manchmal schält es sich
       erst langsam heraus. Der Verwaltungsbau, den jetzt – bis auf russische
       Fernsehzuschauer – die ganze Welt kennt, war in der Zarenzeit das Gebäude
       des Semstwo, der Standesvertretung des Gouvernements Charkiw. Im Semstwo
       regelten im ganzen russischen Reich Vertreter des Adels, der Bürger und der
       Bauernschaft Belange der kommunalen Selbstverwaltung.
       
       1932 erhielt Jakow Aronowitsch Schtejnberg, ein angesehener Kiewer
       Architekt, den Auftrag, das Gebäude im Stil der neuen Zeit umzubauen. Das
       Haus sollte Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine
       werden. Charkiw, nicht Kiew, war zwischen 1919 und 1934 Hauptstadt der
       Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Das Industriezentrum mit
       seinen Ingenieuren, Naturwissenschaftlern und einem Heer an Werktätigen
       schien den Bolschewiki aufgeschlossener für die Lehre vom historischen
       Materialismus.
       
       Wirklich zu Stein geworden war der Materialismus in ganzer Klarheit aber am
       anderen Ende des zugigen Platzes. Der [2][Derschprom-Bau], das Haus der
       Staatlichen Industrie, entstand als größter Stahlbetonbau von ganz Europa.
       Für ihn wurde ein ganzes Straßenviertel abgerissen. Der Verwaltungsbau,
       Fassadenlänge 300 Meter, besteht aus drei im Halbkreis angeordneten
       Baukörpern, die mit Flurbrücken verbunden sind und unterschiedliche
       Geschosshöhen aufweisen. Es wirkt wie das Dessauer Bauhaus in Potenz.
       Wladimir Majakowski, ungestümer Poet der Oktoberrevolution, hat diese
       Giganten aus Stahl und Beton besungen. Es ist ein Avantgarde-Bau, der in
       die lichte Zukunft wies. So schien es.
       
       ## 1932: Der Tod kommt nach Charkiw
       
       Der Umbau des alten Semstwo-Gebäudes am anderen Ende hatte 1932 gerade
       begonnen, da kam der Tod über die Stadt. Hungernde Bauern strömten in die
       Metropole auf der Suche nach Essbarem. Andere setzten ihre Kinder aus, in
       der Hoffnung, die Städter würden sich ihrer erbarmen. Selbst kehrten sie
       zum Sterben in ihre Dörfer zurück. Stalin, der die Landwirtschaft
       kollektivieren wollte, hatte den [3][Holodomor] angeordnet, eine
       systematisch herbeigeführte Hungersnot, um den Willen der Bauern zu
       brechen.
       
       Stadtbedienstete räumten die Leichen von den Straßen, 250 und mehr jeden
       Tag, nicht wenigen war die Leber herausgeschnitten. „Sein Kind zu
       verspeisen ist ein Akt der Barbarei!“, ermahnte die Sowjetregierung auf
       Plakaten. Der italienische Konsul von Charkiw schickte grauenhafte Berichte
       nach Rom.
       
       Ob Schtejnberg, damals 36, etwas bemerkt hat? Beim Umbau war der Architekt
       gründlich. Vom alten Semstwo ist nichts mehr zu sehen. Schtejnberg schuf
       einen Monumentalbau nach Stalins Geschmack. Oben im fahnengeschmückten
       Emblem prangten Hammer und Sichel. Nach 1991 wurde das Sowjetsymbol durch
       den Dreizack ersetzt, das ukrainische Staatswappen. Schtejnbergs Arbeiten
       finden sich auch in Donezk, damals Stalino, und auf der Krim. 1951 endete
       das Schaffen des Architekten abrupt. In der antisemitischen Hetzkampagne
       kurz vor Stalins Tod wurde Schtejnberg, der aus einer jüdischen Familie
       stammte, als ein „wurzelloser Kosmopolit“ bezichtigt, er verlor Aufträge
       und Arbeit. 1982 starb er in Kiew.
       
       Es ist nicht der erste Krieg, auf den das Haus mit seinen schwarzen
       Fensterhöhlen blickt. Der Freiheitsplatz von Charkiw misst heute zwölf
       Hektar. Vor den Zweiten Weltkrieg war er größer. So groß, dass zeitweilig
       Flugzeuge der Wehrmacht dort landeten. Um die Stadt wurde im Oktober 1941
       erbittert gerungen. Es war die erste Schlacht um Charkiw. Auf deutscher
       Seite kämpfte die 6. Armee; jene, deren Reste Anfang 1943 in Stalingrad
       zerrieben wurden. Im Mai 1942 fand die zweite Schlacht um Charkiw statt, im
       Frühjahr 1943 die dritte. Im August 1943 wurde die Stadt endgültig befreit.
       Es ist ein Wunder, dass es sie überhaupt noch gibt.
       
       ## Immer wieder Krieg
       
       Warum immer wieder Krieg? Warum immer wieder Tod und Zerstörung? Als hätte
       Charkiw, als hätte die ganze, doch so abgelegene Gegend nicht schon genug
       gelitten. Überall ragen Denkmäler auf, die an Kriege erinnern. Das
       gewaltigste ist der Koloss für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges beim
       Städtchen Isjum. Weit erheben sich die Betonbrocken über das Land, von dort
       kann man tief in den Donbass blicken. Das schönste ist der klassizistische
       Denkmalskomplex in Poltawa. 1709 besiegte Peter der Große bei Poltawa
       entgegen allen Erwartungen die Schweden. Das russische Reich wuchs in der
       Folge zur europäischen Großmacht heran. Die Ukraine hingegen musste ihren
       Traum von Selbstständigkeit für Generationen begraben.
       
       Charkiw liegt in der Sloboda-Ukraine, ein beschaulicher Landstrich mit
       Weizenfeldern, Sonnenblumen und Dörfern. Die Gasthäuser heißen Schynok, man
       sitzt hinter Flechtzäunen und lässt sich Schaschlik bringen oder
       Borschtsch, ein Eintopf mit Roter Bete und Kohl. Die Zaren haben sich wenig
       für die damalige Südwestgrenze des Reiches interessiert, solange aus der
       Steppe keine Reiterheere drohten. Kosaken siedelten sich als Wehrbauern an,
       haben im 17. Jahrhundert Städte gegründet, darunter auch Charkiw.
       
       ## Gogol und der Kosake Taras Bulba
       
       Wer die Gemütsart der Gegend verstehen will, sollte [4][Nikolai Gogol]
       lesen, seine frühen Werke „Abende auf dem Weiler bei Dikanka“ und
       „Mirgorod“. Gogol wurde 1809 in der Sloboda-Ukraine geboren. Seine
       Geschichten handeln von gutmütigen Imkern, von Jahrmärkten, Wasserpfützen,
       aber auch von Teufeln, Hexen und Fabelwesen. Eine Erzählung berichtet vom
       Kosaken Taras Bulba, der sich mit seinen Söhnen dem Aufstand gegen die
       Polen anschließt. Der brave Kerl verwandelt sich im Laufe der Erzählung in
       einen grimmigen Krieger, der sein eigenes Leben nicht schont. In [5][Vitali
       Klitschko, dem Bürgermeister von Kiew,] scheint der Kosak Taras Bulba
       beklemmend real wiedergeboren.
       
       Natürlich ist Charkiw keine pazifistische Stadt. Auf dem
       Konstytutsiji-Platz, einem der belebtesten Orte im Stadtzentrum, stehen
       seit Jahrzehnten Panzer. Das Historische Museum präsentiert auf der
       Freifläche seinen ganzen Stolz, den T-34. Der Tank wurde im
       Konstrukteursbüro für Maschinenbau entwickelt und in der Lokomotivfabrik
       „Komintern“ gebaut. 50.000 Stück wurden im Laufe des Krieges montiert.
       Viele im Ural, aber Charkiws Ingenieure haben ihn erdacht. Das Büro
       entwickelt immer noch Panzer, und die Fabrik „Komintern“, heute das
       Malyschew-Werk, baut sie, wenn auch nur wenige.
       
       Es sind aber nicht nur Panzer. Es sind Traktoren, Kraftwerksturbinen,
       Flugzeuge. Es scheint eine Stadt voller Ingenieure zu sein. Hinzu kommt
       Grundlagenforschung, in der Sowjetunion wurde sie systematisch erweitert.
       In den dreißiger Jahren lehrte und forschte der junge Lew Landau fünf Jahre
       lang am Physikalisch-Technischen Institut der Charkiwer Universität. Er
       gilt als Begründer der theoretischen Physik in der Sowjetunion, arbeitete
       an der Wasserstoffbombe, wurde zeitweilig vom sowjetischen Geheimdienst
       inhaftiert und erhielt 1962 als erster sowjetischer Forscher den Nobelpreis
       für Physik.
       
       Was in Charkiw an Wissen zusammengetragen wurde, zieht junge Menschen aus
       aller Welt an. Viele kommen aus Marokko, Nigeria, China, die mit Abstand
       meisten aus Indien. Sie lernen an Dutzenden Universitäten, Hochschulen,
       Instituten. Sie studieren Maschinenbau, Luftfahrt, Radioelektronik,
       IT-Wissenschaften, Wirtschaft, Landwirtschaft, Medizin. Sie bringen
       Weltläufigkeit in die Stadt und natürlich Geld. Sie tragen es in
       Studentenkneipen, in Clubs, zu Konzerten, in Kinos, in Fitnessstudios. Es
       gibt viele ukrainische Großstädte, die wirken überaus beschaulich –
       Krementschuk, Poltawa, Cherson. Charkiw, die Millionenstadt, ist quirlig.
       Das heißt, sie war es.
       
       Indien und China bemühten sich um die Ausreise ihrer Studenten. Andere
       stecken fest. Am selben Tag, als die Rakete am Freiheitsplatz einschlug,
       starben beim Beschuss ein Student aus Indien und einer aus Algerien.
       Ukrainische „Faschisten“ und „Nationalisten“ würden ausländische Studenten
       jetzt als Geiseln missbrauchen. Schlimmer, als menschliche Schutzschilde,
       behauptete Wladimir Putin am vergangenen Donnerstag bei einer seiner
       Nero-haften Tiraden.
       
       Es ist noch keine vier Wochen her, da rief eine Frau, vielleicht um die
       sechzig, in Charkiw in eine TV-Kamera: Angst vor einem Krieg? Ach was!
       Überhaupt nicht. Solange Putin in Russland herrscht, wird das nicht
       passieren. Sie wirkte zuversichtlich.
       
       Die Grundstimmung gegenüber Russland, dessen Grenze vierzig Kilometer
       nördlich verläuft, war in Charkiw immer freundlich, zugewandt. Als Ende
       2013 die Menschen in Kiew zum Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, strömten
       und EU-Fahnen schwenkten, blickten viele in Charkiw skeptisch auf die
       Hauptstadt. In Lwiw wiederum, dicht an der ukrainischen Westgrenze und
       durch Habsburg eng mit Polen und Europa verwoben, rümpften sie über Charkiw
       die Nase. Charkiw? Was willst du in Charkiw?, hat man mich gefragt, als ich
       Freunden meine Reiseroute präsentierte. Für einen Reiseführer in Charkiw
       recherchieren? Überflüssig. Sehenswürdigkeiten gibt es hier, nicht in einer
       Industriestadt im Osten.
       
       In Überlegungen der russischen Führung galt das Gebiet Charkiw im Jahr 2014
       als die Region, die sich, neben dem Donbass, von der Ukraine abspalten
       könnte. Auf den Straßen in Charkiw wurde russisch gesprochen, nicht
       ukrainisch. Die Separatisten setzten sich nicht durch. Die
       Maidan-Aktivisten allerdings auch nicht. Es war wie ein Patt. Am ersten
       Jahrestag der tödlichen Schüsse auf dem „Euromaidan“, als am 20. Februar
       2014 mehr als hundert Menschen starben, explodierte in Charkiw eine Bombe,
       vier Menschen kamen ums Leben.
       
       Lange hat die Stadt mit sich gerungen. Vielleicht hatte Wladimir Putin
       tatsächlich geglaubt, in Charkiw würden seine Truppen mit Brot und Salz
       empfangen. Es kam anders. Als „zehn Tage Hölle“ bezeichnete eine
       Charkiwerin am Samstag ihr Leben seit Kriegsbeginn. [6][Nun heißt es, die
       Stadt werde von der russischen Armee eingekreist.]
       
       Wie sollen die Menschen auf beiden Seiten der russisch-ukrainischen Grenze,
       oft genug Freunde und Verwandte, jemals wieder zusammenfinden?
       
       6 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.spiegel.de/ausland/krieg-in-der-ukraine-video-zeigt-schwere-explosion-in-charkiw-a-9ee304d8-3156-486d-ab02-ca5487dee362
   DIR [2] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/vergessene-stadt
   DIR [3] https://osteuropa.lpb-bw.de/simon-holodomor-als-voelkerm
   DIR [4] https://whoswho.de/bio/nikolai-gogol.html
   DIR [5] /Angriff-auf-die-Ukraine/!5835174
   DIR [6] /Eindruecke-aus-Charkiw/!5835685
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Gerlach
       
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