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       # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Im Todeskessel von Mariupol
       
       > Die Einrichtung humanitärer Korridore in der Hafenstadt ist mehrmals
       > gescheitert. Kaum, dass die Evakuierung beginnt, werden Menschen
       > beschossen.
       
   IMG Bild: Unter Dauerbeschuss: Die ukrainische Hafenstadt Mariupol
       
       Mariupol taz | Im Sommer 2014 ging die ukrainische Armee in die Offensive
       und befreite Städte in der Ostukraine von russischen Söldnern. Diese hatten
       sich am 8. August der Stadt Ilowaisk genähert. Als die ukrainischen Truppen
       schon kurz vor dem Sieg standen, überquerte die reguläre russische Armee
       die Grenze zur Ukraine und griff die Ukrainer aus dem Hinterhalt an.
       
       Das Ergebnis: Zahlreiche ukrainische Einheiten wurden eingekesselt. Am
       frühen Morgen des 29. Augusts versprachen die Russen, einen humanitären
       Korridor einzurichten. Die ukrainischen Soldaten mussten ihre Waffen
       niederlegen und dann auf einer Route abziehen, die das russische Kommando
       festgelegt hatte. Die ersten Reihen der ukrainischen Truppen rückten um
       8.10 Uhr Kiewer Zeit vor und es gelang ihnen, den Kessel zu verlassen. Und
       was passierte dann? Die russischen Kämpfer brachen alle Gesetze des Krieges
       und erschossen unbewaffnete ukrainische Soldaten.
       
       Die Ukraine hat diese Lektion gelernt: Versprechen Russlands kann man nicht
       trauen. Das einzige Argument, das bei dem Aggressor zieht, ist gegnerische
       Stärke. Leider vermag es diese bittere Wahrheit nicht, [1][hunderttausende
       Einwohner*innen von Mariupol zu retten], die jetzt in einer kompletten
       Blockade gefangen sind: Ohne Wasser, Nahrung, Licht, Heizung, und das alles
       unter ständigem Artilleriebeschuss.
       
       Sogar zu Zeiten der Leningrader Blockade während des Zweiten Weltkrieges
       gab es eine „Straße des Lebens“, auf der Lebenmittel in die Stadt
       gelangten. Der Kreml lässt den Einwohner*innen von Mariupol nicht
       einmal einen Lebensfaden, und sei er noch so dünn.
       
       ## Kurzzeitige Waffenruhe
       
       Bei zwei Verhandlungsrunden hat die ukrainische Seite versucht, für
       Mariupol [2][die Schaffung eines humanitären Korridors zu erreichen].
       Zehntausende Menschen müssen evakuiert werden – Frauen, Kinder, Alte,
       Verletzte. Es ist äußerst wichtig, Lebensmittel und Medikamente in die
       Stadt zu bringen. Eine kurzzeitige Waffenruhe ist auch notwendig, damit die
       Stadtverwaltung die Versorgung mit Wasser zumindest teilweise wieder
       herstellen kann.
       
       Am vergangenen Samstag erklärte sich Russland endlich zur Einrichtung eines
       humanitären Korridors bereit. Die Feuerpause sollte um 9 Uhr beginnen und
       bis 16 Uhr andauern. Die Militärverwaltung des Gebietes Donezk einigte sich
       mit den Besatzern auf die Route.
       
       Für die Menschen wurden vier Sammelpunkte festgelegt. An drei Punkten
       wurden Busse startklar gemacht. Am vierten Sammelpunkt sollten sich
       diejenigen einfinden, die die Stadt mit Privatfahrzeugen verlassen wollten.
       Doch als sich die Kolonnen gerade formiert hatten, so in der Zeit zwischen
       11 und 11.30 Uhr, eröffneten russische Truppen das Feuer auf die Menschen,
       die sich an den Sammelpunkten eingefunden hatten.
       
       Ein Teil der Einwohner*innen von Mariupol flüchtete sich in
       Notunterkünfte. Die restlichen Polizeikräfte mussten überredet werden, sich
       nach Hause, in die Keller, zurückzuziehen. Die Menschen sind so erschöpft,
       ausgelaugt und verängstigt, dass sie sogar dazu bereit gewesen wären, sich
       im Kugelhagel in die Busse zu setzen.
       
       ## Auf der Suche nach Wasser
       
       „Ich bin extra vorher zu einem Sammelpunkt gegangen, um zu sehen, ob es
       dort sicher ist“, sagt Ewgeni P. Er, seine Frau und ihre kleine Tochter
       sind schon seit vier Tagen ohne Licht, Heizung und Wasser. Jeden Morgen
       geht Ewgeni mit einem Behälter in die Stadt auf der Suche nach einer
       Zisterne der städtischen Wasserkanäle. Dort hofft er Wasser zu finden. In
       den vergangenen zwei Tagen war diese Suche vergeblich.
       
       „Das, was gerade in Mariupol passiert, ist die Hölle. Das ist jenseits von
       Gut und Böse. Ich will endlich aus diesem Albtraum aufwachen. Es ist so
       schwer, an die Realität dessen zu glauben, was sich hier abspielt. An jedem
       Tag muss ich zwei Probleme lösen: „Wie rette ich meine Frau und mein Kind
       vor den Bomben und woher bekomme ich Wasser, um ihnen zu trinken zu geben
       und zumindest etwas zu kochen. In unserem Haus haben wir keinen Keller. Im
       Nachbarhaus hat der Eigentümer umgebaut und einen guten tiefen Keller
       eingerichtet. Dort bietet er allen Nachbar*innen einen Unterschlupf an.
       In der Nähe gehen Bomben nieder. Von morgens bis abends denke ich nur an
       eins: Wie rette ich meine Familie.“
       
       Am Samstag wollte Ewgeni mit seinem Auto durch den humanitären Korridor in
       Richtung Saporosche fahren. „Nur gut, dass ich anfangs alleine und ohne
       Familie dorthin gegangen bin, um mir das anzusehen. In der Nähe von
       PortCity (Einkaufszentrum in Mariupol, Anm. d. Red.) hatte sich bereits
       eine große Gruppe von Menschen mit ihren Autos eingefunden. Und plötzlich
       eröffneten diese Kreaturen das Feuer! Alle stoben auseinander und fuhren
       schnell mit ihren Autos davon, um zu entkommen. Es war schrecklich.“
       
       Die Menschen waren verzweifelt. Die ukrainischen Behörden wandten sich mit
       der wiederholten Bitte um einen humanitären Korridor für Frauen und Kinder
       an die Besatzer.
       
       ## Route abgesprochen
       
       Am Sonntag erhielt die Militärverwaltung des Gebietes Donezk erneut die
       Bestätigung für einen humanitären Korridor. Wieder wurde mit den Russen
       eine Route abgesprochen (diesmal eine andere), wieder wurden Busse
       bereitgestellt. Aber gegen 12 Uhr, als die Kolonnen abfahrbereit waren,
       eröffneten die Besatzer erneut das Feuer auf die Menschen …
       
       Die Geschichte von Ilowaisk wiederholt sich. Doch glücklicherweise waren
       die ukrainischen Sicherheitskräfte diesmal auf eine solche Entwicklung der
       Ereignisse vorbereitet und schafften es, einige Menschen zu evakuieren.
       Auch Ewgeni und seine Familie wollten am Sonntag versuchen, der Blockade zu
       entkommen. Doch bis jetzt gibt es von ihm keine Lebenszeichen. Niemand
       weiß, ob er mit seiner Familie in Sicherheit ist. Er geht nicht ans Telefon
       ….
       
       Ein weiterer Versuch, Menschen zu retten, ist fehlgeschlagen. Mariupol
       bleibt ein Ort des Schmerzes und der Trauer. Täglich sterben dort immer
       mehr Menschen, die Toten kann niemand mehr zählen. Unterdessen schreit und
       fleht die Ukraine die Nato an, den Himmel über unserem Land zu schließen.
       Gebt ukrainischen Kindern eine Chance, groß zu werden.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       7 Mar 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Murlykina
       
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