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       # taz.de -- Forscherin über Auswege für Russland: „Putin fürchtet die Soldatenmütter“
       
       > Susanne Schattenberg von der Bremer Forschungsstelle Osteuropa findet die
       > deutsche Russlandpolitik kurzsichtig. Für Putin sieht sie einen Ausweg.
       
   IMG Bild: Hat sich laut Susanne Schattenberg trotz klarer Agenda verkalkuliert: Machtmensch Putin
       
       taz: Frau Schattenberg, ist Putin wahnsinnig – oder schlauer als wir alle? 
       
       Susanne Schattenberg: Ich glaube, dass er eine klare Agenda hat, sich aber
       verkalkulierte. Einerseits richtet sich seine Außenpolitik nach innen;
       [1][er will Demokratisierung] im nahen Ausland unterbinden, um die eigene
       Bevölkerung abzuschrecken. Sein außenpolitisches Ziel wiederum war, den
       Großmachtstatus der Sowjetunion wieder herzustellen und die Ukraine binnen
       Kürzestem Russland einzuverleiben.
       
       Was nicht funktionierte. Warum „verzockt“ sich ein erfahrener Machtmensch
       wie Putin? 
       
       Es ist charakteristisch für einen Alleinherrscher, die eigene angenommene
       Unfehlbarkeit so weit zu treiben, dass er sich nicht mehr beraten lässt.
       Ich glaube, er hat keine Leute mehr, die ihm sagen, wie die Stimmung in der
       Ukraine und der Zustand der Armee wirklich sind.
       
       Sie haben Putin einmal Geschichtsrevisionismus attestiert. Woher kommt das? 
       
       [2][Irina Scherbakowa von „Memorial“] hat ihm vorgeworfen, dass er keine
       Zukunftsvision für Russland hat. In der Tat hat er keinen Entwurf, wie
       Russland wirtschaftlich saturiert in einer florierenden Demokratie leben
       kann. Stattdessen leitet er seine Legitimation und die Russlands aus der
       Geschichte und letztlich dem Zweiten Weltkrieg ab.
       
       Dabei behauptet er ja, er fühle sich von der Nato bedroht. 
       
       Ja, er hat die ganze Zeit argumentiert, dass die Nato von der Ukraine aus
       demnächst Russland angegriffen hätte und sein Angriff ein Präventivschlag
       war. Andererseits setzt er darauf, dass die Nato nicht angreifen wird, weil
       sie den Dritten Weltkrieg fürchtet. Damit fällt Putins
       Bedrohungs-Argumentation in sich zusammen.
       
       Warum argumentiert er zudem mit „Entnazifizierung“, obwohl der ukrainische
       Präsident Selenski Jude ist? Warum verdreht er die Wahrheit so
       offensichtlich? 
       
       [3][Das ist seine Propagandastrategie] gegen die eigene Bevölkerung – ein
       ebenso wichtiger Feldzug. Denn er weiß vermutlich, dass die russische
       Bevölkerung gegen diesen Krieg wäre, wenn sie wüsste, dass es ihn gibt.
       Solange der Krieg nicht in deren Wohnzimmern ankommt, wird seine
       Bevölkerung nicht auf die Straße gehen. Damit sie das nicht tut, hat er die
       Verwendung des Wortes „Krieg“ unter drastische Strafen gestellt. Und alle,
       die auf die Straße gehen – und wir sehen derzeit für russische Verhältnisse
       Massendemonstrationen in zig Städten – werden sofort verhaftet.
       
       Kann Putin sich also sicher fühlen? 
       
       Nein, irgendwann lässt sich das nicht mehr im Zaum halten. Ich glaube auch,
       [4][dass er die Soldatenmütter-Komitees] fürchtet. Die schreiben auf ihrer
       Homepage, dass sie überflutet werden mit Anfragen verzweifelter Verwandter,
       die nicht wissen, wo ihre Männer und Söhne sind, weil den rund 100.000
       Soldaten ihre Mobiltelefone weggenommen wurden, bevor sie in den Krieg
       geschickt wurden. Aber irgendwann wird das durchsickern und die Leute
       werden demonstrieren.
       
       Die andere Hoffnung ist, dass die Sanktionen wirken – was die RussInnen
       jetzt schon spüren. Internet und Facebook sind abgeschaltet, man kriegt
       kaum noch Geld an den Automaten, Supermärkte rationieren Lebensmittel. Und
       sowohl der Unmut über den Verbleib der Männer als auch über die
       Verschlechterung des Alltags gelten in Russland als legitimer sozialer
       Protest, wären also nicht strafbar.
       
       Wenden wir den Blick: Ist das Erstaunen des Westens scheinheilig? 
       
       Wohl kaum jemand hätte gedacht, dass Putin einen solchen Krieg riskiert.
       Selbst nach der Annexion der Krim 2014 wurde unterschätzt, wie weit er
       bereit ist zu gehen. Schon damals wären drastischere Sanktionen nötig
       gewesen. Andererseits ist es eine Stärke des Westens, so lange wie möglich
       eine diplomatische Lösung zu suchen, aber im Kriegsfall wie jetzt mit
       aller Macht sehr geschlossen zurückzuschlagen.
       
       War es Hybris – oder koloniales Denken – zu glauben, Putin schätze den
       Dialog so wie wir? 
       
       Durchaus. Mir fehlt hierzulande eine Politik, die russische Außenpolitik
       kontinuierlich analysiert, um zu begreifen, in welchen Kategorien Putin
       denkt und handelt. Was ich aber auch uns Russlandexpert*innen anlaste:
       dass wir nicht mit Militärs und Kriegsstrategen gesprochen haben, um Putins
       Handlungsoptionen klarer zu sehen.
       
       Sind westliche Politiker zu geschichtsvergessen, um Putins Sehnsucht nach
       der Sowjetunion einzukalkulieren? 
       
       In der Tat wird zu oft gedacht: Die Politik im Hier und Jetzt kann ich aus
       dem Hier und Jetzt verstehen. Dafür brauche ich Ökonomen und Politologen,
       aber keine Historiker. Aber je eigener eine Kultur ist – und die russische
       Geschichte würde ich tendenziell anders beschreiben als westeuropäische –,
       desto mehr muss man darüber wissen, wie sich das jeweilige Land entwickelt
       hat, weil es viele Denkweisen, Strukturen, Traditionen, Identitäten gibt,
       die weiterleben.
       
       Wie könnte Putin eigentlich aus dem Krieg herauskommen? 
       
       Realistisch gibt es drei Optionen: Er gewinnt diesen Krieg und kann sich
       auf unabsehbar lange Zeit halten. Oder er wird von seiner Bevölkerung oder
       jemandem aus dem Sicherheitsapparat gestürzt. Oder aber er lässt sich von
       der Duma bitten. Das hat er schon 2020 praktiziert, als er die Verfassung
       änderte, um die Präsidialzeit zu verlängern. Da hat er [5][die Kosmonautin
       Walentina Tereschkowa] auftreten lassen, damit sie ihn bat, zwei weitere
       Amtszeiten zu bleiben.
       
       Diese Inszenierung von „Das Volk will es“ ist etwas sehr Sowjetisches. Auch
       bei der Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ in der Ost-Ukraine hat die
       Duma gesagt: Wir erbitten es. Es wäre ein Weg, dass er jemanden in der Duma
       findet – möglichst eine Frau –, die aufsteht und sagt: Wir bitten den
       Präsidenten, diese Operation zu beenden wegen unserer Söhne. Dann könnte er
       umschalten von „Putin, der Schreckliche“ auf „Putin, der Weise“.
       
       11 Mar 2022
       
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