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       # taz.de -- Neues Album von Stromae: Lob für Unsichtbare
       
       > Der belgische Popstar veröffentlicht mit „Multitude“ ein neues Album. In
       > den neuen Songs versucht er, seine persönliche Krise zu bewältigen.
       
   IMG Bild: Ein Star mit vielen Facetten: Stromae
       
       Kürzlich gab Stromae dem TV-Sender TF1 ein bemerkenswertes Interview. Auf
       die Frage, ob ihm Musik geholfen habe, sich von der Einsamkeit zu befreien,
       stimmte der belgische Popstar einfach die ersten Strophen seines Songs
       „L’Enfer“ (Die Hölle), an. „Ich bin nicht der Einzige, der einsam ist“,
       legte er los. Dann folgte die Zeile: „Manchmal hege ich Suizidgedanken,
       worauf ich nicht besonders stolz bin.“ Krasse Offenbarungen von dem
       Künstler, der 1985 als Paul Van Haver in Brüssel geboren wurde.
       
       In Songform unterstreicht Stromae auf seinem neuen Album „Multitude“ mit
       Klavier die Tristesse dieser Aussage – bis die Beats die Musik zumindest
       ein bisschen auflockern. Ein Chor singt mit, um Stromae wenigstens beim
       Songarrangement Schutz und Zuwendung zu spenden. Später machen auch
       Streicher die Aussage des Songtexts erträglicher. Zum Tanzen lädt „L’Enfer“
       also nicht ein, der Song rückt vom affirmativen Stromae-Konzept ab: Düstere
       Texte und [1][euphorische Sounds]. Dennoch wird deutlich, dass sich der
       Künstler in seine Seele blicken lässt.
       
       Die Einnahme eines Malaria-Medikaments löste bei ihm 2015 so heftige
       Nebenwirkungen aus, dass er eine Afrika-Tournee abbrechen musste.
       Ausgerechnet in Ruanda, der Heimat seines Vaters, der 1994 als Tutsi Opfer
       des Völkermordes durch die Huti wurde. Womöglich schürte dieses Trauma
       Stromaes Panikattacken, er verschwand danach für längere Zeit aus der
       Öffentlichkeit und es blieb offen, ob er jemals wieder würde auftreten
       können.
       
       ## Auf der Suche nach dem Vater
       
       All diese Erfahrungen dürften auch in „L’Enfer“ eingeflossen sein, Vorbote
       seines nun veröffentlichten dritten Albums „Multitude“. Es folgt auf den
       schwindelerregend erfolgreichen Vorgänger „Racine Carrée“. Allein in
       Frankreich verkaufte sich dieses Werk mehr als zwei Millionen Mal und
       bescherte Stromae mit „Papaoutai“, einem Lied über die Suche nach dem
       Vater, einen von mehreren Hits.
       
       Das Thema greift Stromae auf „Multitude“ erneut auf, allerdings aus einer
       völlig anderen Perspektive. Stromae und Coralie Barbier, seine Frau, mit
       der er für ihre Modemarke „Mosaert“ Klamotten, Musik und audiovisuelle
       Medien kreiert, sind Eltern geworden. Das lässig groovende, mit einem
       Akkordeon verfeinerte „C’est que du bonheur“ analysiert, was das bedeutet:
       volle Windeln, wenig Sex, aber eben auch bedingungslose Liebe für ein Kind.
       Leider groovt der Song etwas gar sanft.
       
       Eigentlich geht Stromae musikalisch gern [2][in die Tiefe]. Besser, weil
       sozialkritischer ist er beim Stück „Santé“ in Form. Für das erhebt er sein
       Glas auf die, die für andere meist unsichtbar bleiben: die Reinigungskraft
       Rosa, die Garderobiere Céline und die Toilettenfrau Arlette. Diese Hommage
       an die Arbeiterklasse dockt musikalisch an südamerikanische Rhythmen an.
       
       ## Detailverliebter Sound
       
       Insgesamt ist Stromaes neuer Sound detailverliebter als jemals zuvor. Vor
       allem, was die Wahl der Instrumente angeht. Ein Cavaquinho, eine
       portugiesische Gitarre, die besonders in Brasilien populär ist, veredelt
       „Ave Césaria“. Die chinesische Violine Erhu kommt bei „La Solassitude“ zum
       Einsatz. Eine persische Ney Flöte hinterlässt in „Pas vraiment“ ihre
       Spuren.
       
       Interesse an all den Folk-Instrumenten entfachte Stromaes flämische Mutter.
       Abseits der Touristenrouten bereiste sie mit ihren Kindern Mali, Peru und
       Bolivien. Dadurch verfügt der Musiker über die nötige Expertise, um zum
       Beispiel das südamerikanische Zupfinstrument Charango in „Mauvaise Journée“
       einfließen zu lassen. Hier poppen abermals Selbstmordgedanken auf. Ein
       Ich-Erzähler lotet seine innere Zerrissenheit aus – mal versinkt er in
       Lethargie, mal ruft er um Hilfe.
       
       Zum Finale zeichnet sich Licht am Ende des Tunnels ab. „Bonne journée“
       beginnt mit dem Satz „Oh, was für ein guter Tag das ist“ und zelebriert
       einen Freudentanz. „Fils de foie“ suggeriert Stolz. Der Sohn einer
       Prostituierten verteidigt seine Mutter. Für ihn ist sie eine Heldin. Er
       werde immer positiv über sie sprechen, singt Stromae. Diese Aussage bringen
       ein Streichquartett und ein Cembalo zum Strahlen. Sie schmiegen sich an
       [3][Stromaes melancholische Stimme]. Das sollte man sich auf gar keinen
       Fall entgehen lassen.
       
       13 Mar 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dagmar Leischow
       
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       singt.