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       # taz.de -- Benzinpreise in Deutschland: Noch viel zu billig
       
       > Die Debatte über hohe Spritpreise ist unehrlich. Nicht etwa arme Menschen
       > profitieren von Tankrabatten. Sondern die Reichen und Bequemen.
       
   IMG Bild: Ah! Das ist ein Gefühl,oder? Die Karre vollpumpen ohne an morgen denken zu müssen
       
       Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit einem Kanister zur Tankstelle und
       füllen fünf Liter Benzin ab. Sie bohren ein kleines Loch unten in den
       Kanister. Das Benzin läuft langsam aus. Sie nehmen ein Streichholz und
       zünden die Pfütze an. Im Gehen hinterlassen Sie eine brennende Spur.
       
       Vermutlich würden Sie schnell festgenommen, vielleicht würden Polizisten
       rumbrüllen und ihre Waffe ziehen. Wenn Sie also gern Benzin verbrennen,
       aber Ihnen diese Variante zu gefährlich ist, setzen Sie sich doch lieber
       einfach in Ihr Auto und fahren los!
       
       Was für ein bescheuerter Vergleich, werden Sie jetzt vielleicht sagen, und
       damit haben Sie natürlich recht. Aber weniger bescheuert geht gerade leider
       nicht, womit wir beim Thema wären. Die Benzinpreise steigen. Ein Liter
       Benzin kostet aktuell über 2 Euro. [1][Finanzminister Christian Lindner,
       der mit dem Porsche, hat deshalb einen allgemeinen Tankrabatt
       vorgeschlagen]. Den Preis für einen Liter Benzin wollte er so wieder auf
       unter 2 Euro drücken.
       
       Nur drei Wochen hat es also gedauert, seit dem Beginn des Angriffskriegs in
       Europa mit bisher drei Millionen Flüchtlingen, und nur eine Woche seitdem
       ernsthaft über das dringend notwendige Ölembargo gegen Russland diskutiert
       wurde, bis die deutsche Debatte wieder zum schwarz-rot-goldenen Bauchnabel
       abgebogen ist.
       
       ## Höchste Zeit, mit ein paar Mythen aufzuräumen
       
       Damit schrumpft dieser gigantische Krieg in handliches deutsches
       Debattenformat. Politiker können Politikersachen machen – also
       Sofortprogramme beschließen und bei Pressekonferenzen einen raushauen.
       Journalistinnen können Journalistinnensachen machen, also Kommentare wie
       diesen schreiben. Leser können den Kopf schütteln, bei Facebook
       kommentieren und ein wütendes Emoji schicken. Alles fast wie vor dem Krieg.
       
       Die Verantwortung für die hohen Benzinpreise tragen die Raffinerien. Sie
       verweisen auf den Krieg, obwohl der Rohölpreis fast wieder auf
       Vorkriegsniveau gesunken ist. Das heißt, man kann es nicht weniger
       drastisch sagen: Sie bereichern sich am Leid in der Ukraine. Aber die
       Debatte wäre eben auch nicht so groß, würde sie nicht den Deutschen und
       sein Auto betreffen. Höchste Zeit also, mit ein paar Mythen aufzuräumen.
       
       Die meisten Deutschen steigen nicht deshalb ins Auto, weil sie nicht anders
       können, sondern weil es bequem ist. Es ist bequem, Fahrtzeit im Vergleich
       zur Bahn zu sparen. Es ist bequem, keine Coronamaske tragen zu müssen – und
       keine Handschuhe, weil warme Luft aus Düsen kommt.
       
       Es bequem haben zu wollen, ist nichts Verwerfliches. Aber es gibt kein
       Anrecht auf Komfort. Nicht, wenn mit dem Erlös aus billigem Benzin Panzer
       und Bomben gekauft werden. Nicht, wenn mit Sprit die Erderhitzung im
       wahrsten Sinne des Wortes befeuert wird.
       
       ## Die Mehrheit ist bereit, solidarisch mehr zu bezahlen
       
       Aber die Bequemlichkeit der Einzelnen ist nicht alleine schuld. Die
       Regierungsparteien behaupteten noch im Wahlkampf, beim Abschied von den
       fossilen Energien müsse niemand auf Komfort verzichten. Diese Lüge rächt
       sich jetzt. Es wäre schön, wenn Olaf Scholz vor die Kameras träte und
       sagte: „Es gibt ein Recht auf Mobilität. Aber es gibt kein Recht auf
       billiges Benzin.“
       
       Politisch ehrlich wäre es, folgende Zahlen zu nennen: 91,7 Prozent der
       Deutschen wohnen 600 Meter oder weniger von einer Bushaltestelle entfernt
       oder maximal 1.200 Meter von einem Bahnhof mit mindestens 20 Abfahrten am
       Tag. Für die große Mehrheit gibt es längst Alternativen zum eigenen Auto.
       Fahrräder, auch elektrische, Lastenräder, Mitfahrgelegenheiten.
       
       Es ist angenehm, gerade nicht Mitglied der Bundesregierung zu sein und
       deshalb schreiben zu können: Der Benzinpreis ist noch viel zu niedrig.
       [2][Das sieht man auch daran, dass die Deutschen kein bisschen weniger
       fahren, seit die Preise gestiegen sind – und keinen km/h langsamer]. Das
       zeigt eine Auswertung der Daten von Navigationsgeräten.
       
       Die Mehrheit der Deutschen ist bereit, höhere Energiekosten zu tragen, um
       die Ukraine solidarisch zu unterstützen. Das zeigen Umfragen. Der
       Benzinpreis muss auch deshalb steigen, weil das Ölembargo die wirksamste
       Sanktion ist, die Deutschland noch in der Hand hat. Wenn sich die
       Bundesregierung weiter dagegen sperrt, hat Deutschland ein ganz anderes
       Preisproblem: Dann ist es politisch und moralisch bankrott.
       
       ## Krankenschwestern aus Stroh
       
       Aber was ist mit der berühmten „Krankenschwester auf dem Land, die mit
       ihrem Nissan Micra zur Arbeit pendelt“? Es gibt sie, ihr muss geholfen
       werden – und gleichzeitig ist sie eine Strohpuppe. Es gibt leider kaum
       Statistiken, wie viele dieser Strohpuppen aus Fleisch und Blut sind. Besser
       erforscht ist etwas anderes: Je reicher Menschen sind, desto mehr Autos
       gibt es in ihrem Haushalt, desto größer sind die Autos, desto mehr
       Kilometer fahren sie zur Arbeit. Und: Wirklich arme Menschen haben kein
       Auto. Von billigerem Benzin profitieren also vor allem Leute mit Geld.
       
       Ist die Krankenschwester aber aus Fleisch und Blut und nicht aus Stroh,
       kann man sie unterstützen: Durch ein Energiegeld, durch niedrigere Steuern,
       durch besseren, günstigeren Nahverkehr, nicht zuletzt durch höhere Löhne.
       Bloß: Für einen läppischen Pflegebonus brauchte es erst eine ganze
       Pandemie. Für Debatten über Tankrabatte reicht es hingegen, wenn Benzin ein
       paar Tage lang teurer wird.
       
       Robert Habeck, vermutlich auch Christian Lindner und Olaf Scholz wissen,
       dass Benzin noch teurer werden muss. Wenn sie schon bei einem Benzinpreis
       von etwas über 2 Euro so einen Alarm machen, dann muss einem bange werden
       vor künftigen Debatten in der Klimakrise.
       
       Warum knicken sie ein? Ist es die diffuse Angst vor deutschen Gelbwesten?
       Wären die – wenn man für einen Moment die reaktionären Elemente dieser
       Bewegung beiseite lässt – so schlimm? Der soziale Friede an der Tankstelle
       ist ja derzeit weder besonders sozial noch besonders friedlich. Es wäre
       wünschenswert, dass Menschen lauter darüber streiten, für wen das Leben
       noch bezahlbar ist. Von mir aus in einer gelben Weste, von mir aus mit
       Umweg über die Zapfsäule.
       
       Vielleicht wird dann auch der Bundesregierung klar, dass sie die
       Verteilungsfrage nicht länger weiträumig umfahren kann wie eine Baustelle
       auf der Autobahn. Denn zwei Dinge sind unabänderlich: 1. Der ökologische
       Umbau der Welt wird unbequem. 2. Wessen Leben dabei besonders unbequem
       wird, ist eine politische Entscheidung.
       
       19 Mar 2022
       
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