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       # taz.de -- Buch über Ungarn, Europa und Russland: „Bis gerade eben an Putins Seite“
       
       > Seit dem Ukraine-Krieg zeigt sich Viktor Orbán der EU gegenüber
       > konsensfähig. Lacy Kornitzer über den Zustand Ungarns vor den Wahlen.
       
   IMG Bild: Budapest 2019: Demonstration gegen die Einschränkung der Freiheit der Kunst durch Orban
       
       taz am wochenende: Herr Kornitzer, Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat
       aus seiner Bewunderung für Autokraten wie Putin oder Erdoğan und seiner
       Ablehnung der Europäischen Union nie einen Hehl gemacht. Kann ein solcher
       Machthaber in einem Nachbarland der Ukraine zu einer weiteren Gefahr für
       Europa werden? Oder wird der russische Angriff auf die Ukraine das
       Verhältnis Ungarns zur EU positiv verändern? 
       
       Lacy Kornitzer: Auch wenn Orbán in der Vergangenheit schon oft hegemoniale
       Ansprüche angemeldet hat – „Ungarn grenzt praktisch an Ungarn selbst“ –,
       ist eine ähnliche Aggression wie die Putins, etwa gegenüber der Südslowakei
       oder der Westukraine, gegenüber Westrumänien oder der Vojvodina im Süden,
       undenkbar, zumal für ein Mitglied der Nato. Der Traum von Großungarn dürfte
       einstweilen ein Traum bleiben. All die Jahre bis gerade eben noch an Putins
       Seite, [1][zeigt sich Orbán seit Kriegsbeginn] der EU gegenüber
       konsensfähig, wohl zum ersten Mal.
       
       Angesichts der anstehenden Wahlen im April braucht er Pluspunkte wie auch
       die erwartbaren Zahlungen der EU an Länder, die Flüchtlinge aus der
       Ukraine aufnehmen. Zudem sind die Menschen aus der Westukraine, die jetzt
       nach Ungarn kommen, überwiegend Angehörige der ungarischen Minderheit.
       Schon vor Jahren erhielten sie ihre zweite, die ungarische
       Staatsbürgerschaft von Orbán. Es wäre gut, für alles Spätere, sollte Putins
       mörderischer Krieg irgendwann enden, eine sichere Prognose geben zu
       können. Doch das ist jetzt unmöglich.
       
       In Ihrem neuen Buch „Über Destruktivität“ beschreiben Sie Orbán als rechten
       Revanchisten, der völkischen Großmachtfantasien anhängt. Ist das nicht eine
       erschreckende Parallele zu neuerdings wieder erstarkten ähnlichen
       Nostalgien in China oder Russland? 
       
       Für Ungarns Politik ist die nostalgische, revanchistische Komponente
       unerlässlich. Diese falsch gestimmte Saite, an der gezupft wird, soll bloß
       Krach erzeugen, damit nichts anderes, gar Gegenwärtiges aus der Welt in den
       Raum dringt. Ein Gebaren, das in der Nachkriegszeit bis 1989/90 phasenweise
       pausierte. Obschon die nationalistische Grundhaltung – wie in anderen
       kleinen Ländern ohne Kontakt zur Welt – auch damals viel Platz einnahm in
       den Seelen bestimmter Schichten.
       
       Ihre Worte evozieren eine Art Glücksversprechen: das schönste Land mit dem
       schönsten Abschnitt der Donau, die schönste Sprache, das schönste Helden-
       und Opfertum der Geschichte. Der Traum von einem Zurück zu den
       „historischen“ Grenzen. Die Parallelen zu den von Ihnen erwähnten Ländern
       bestehen. Doch die Rede davon in der Gegenwart ist kaum mehr als Opium für
       die Redner und die Unbelehrbaren, die zahlreich sind.
       
       Im April wird in Ungarn gewählt, Regierung und Opposition sind in Umfragen
       fast gleichauf, Orbáns Sieg ist so gefährdet wie nie. Könnte der Krieg in
       der Ukraine die Wahl in Ungarn beeinflussen? 
       
       Wahrscheinlich will in Ungarn und anderswo in Europa kein Mensch Krieg.
       Vielleicht gibt es vereinzelte Gelüste, doch sie bleiben Gelüste. Da es
       jetzt diesen verachtenswerten Krieg gibt, wird er auf die Wahlen sicher
       Einfluss haben, und der Schritt, nun mit der EU zu kooperieren, stärkt
       Orbán. Selbst wenn er abgewählt würde, bliebe die Innenpolitik noch lange
       so, wie sie ist: Die nächste Regierung, so bunt sie zwischen rechts und
       liberal auch sein mag, wenn sie zustande kommt, wird nicht viel ändern
       können: Orbán hat vorsorglich Gesetze erlassen, die nur mit einer
       Zweidrittelmehrheit geändert oder aufgehoben werden können.
       
       Außerdem ist und bleibt [2][Orbáns Partei Fidesz] die stärkste Fraktion,
       sie kann jeden Versuch, die Politik zu korrigieren, boykottieren, so wie
       Orbán dies auch schon in der Opposition zwischen 2002 und 2010 getan hat.
       Bei alldem ist es eine Art Schicksalswahl. Denn wenn Orbán wiedergewählt
       wird, bleibt Ungarn ein despektierlicher Partner für die EU. Und für die
       Opposition, eine unwahrscheinliche Mischung von Rechtsnationalisten bis
       hin zu Gemäßigten, wird es unmöglich sein, sich in absehbarer Zeit erneut
       auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen.
       
       Wie genau hat es Orbán geschafft, in einem Land, das immerhin der EU
       angehört, seine demokratiefeindlichen Ziele zu verfolgen? 
       
       Mit der Zauberformel von der „nationalen Souveränität“ konnte er die EU
       lange Zeit irritieren. [3][Im Land selbst fiel es ihm nicht schwer,
       antidemokratisch vorzugehen, denn in Ungarn herrschten stets
       obrigkeitsstaatliche Formen.] Orbáns Demagogie und Blasiertheit, seine
       Verstümmelung der Pressefreiheit und der Gewaltenteilung sowie seine
       Beförderung von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus knüpfen in
       Ungarn an eine beharrliche Tradition an – nur seine systematische
       Korruption hat noch nie dagewesene Ausmaße.
       
       Zudem ist es ihm gelungen, seine Bekämpfung der Demokratie als Stärkung der
       speziellen ungarischen Form von Demokratie auszugeben. Nicht gegenüber den
       vielen Intellektuellen, aber gegenüber großen Teilen der Bevölkerung, die
       sich für solche Bagatellen nur geringfügig interessiert.
       
       Orbáns Ideen scheinen seit Jahren in Ungarn auf äußerst fruchtbaren Boden
       zu fallen. Inwieweit ist auch die ungarische Bevölkerung mitbeteiligt am
       Erfolg von Orbáns Politik? 
       
       Das [4][perpetuierte System einer „Unwissensgesellschaft“] begründet eine
       gesellschaftliche Ordnung. Zwar gibt es einen veritablen Hass auf Orbán –
       das sind dann für ihn die „Vaterlandsverräter“ –, aber auch eine breite
       Schicht, deren Sprache er spricht. Wo er Hände schüttelt, sich anbiedert,
       Gemeinplätze ausschüttet. Die Rede von der „nationalen Größe“ sorgt für
       Rausch. Zudem erhöht er vor jeder Wahl die Renten um 50 Cent und senkt die
       Gaskosten, verteilt sonstige Geschenke, wichtige Posten. Ein Wohltäter, auf
       den man stets wartet. Außerdem feiern die Medien die bedeutenden Erfolge
       seiner Regierung, und es gibt nur wenige, die sich mit den tatsächlichen
       Inhalten auseinandersetzen. Irgendwann wird man dessen müde; der Populismus
       gewinnt.
       
       Wenn Sie an manchen Stellen Ihres Buchs etwa vom „deformierten Charakter“
       oder dem „knechtischen Wesen“ der Ungarn sprechen, könnte man fast den
       Eindruck bekommen, Sie reagieren auf Orbáns affirmatives völkisches Denken
       einfach nur mit einem pessimistischen. 
       
       Orbán, am Nullpunkt sprachlicher Wiederholung, wedelt mit völkischen
       Urbildern, in dem Glauben, dass sie die dahintersteckende, ruchlose Politik
       verbergen. Was es mit dem Völkischen auf sich hat, konnte man ja in der
       ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts physisch erfahren. Ablehnung wäre der
       richtige Begriff, nicht Pessimismus. Auf das Jetzt und die nahe Zukunft
       kann man kaum optimistisch blicken. Aber ein Leben, in dem man beständig
       mit dem Schlimmsten rechnen muss, ist kein Leben. „Deformierter Charakter“,
       „knechtisches Wesen“ sind indessen Zitate aus dem Werk von István Bibó, dem
       wichtigsten ungarischen Denker der Nachkriegszeit. Er war Geschichts- und
       Rechtswissenschaftler, Politiker, Reformer, Aufklärer und – nach diversen
       Haftstrafen und seiner endgültigen Ausschaltung – Bibliothekar.
       
       Und doch unterstreichen Sie auch die Notwendigkeit von internem Widerstand,
       von „Résistance“ gegen das autokratische Regime. Was können die Ungarn
       tun? Und was die EU? 
       
       Obwohl offener Widerstand wichtig, der einzige Ausweg wäre, nimmt man Dinge
       hin im Wissen, dass man sie nicht hinnehmen kann. Die unbewusste
       Verinnerlichung von Kafkas Sentenz: „Es gibt Hoffnung, nur nicht für uns.“
       Der Zusammenhalt der EU jetzt gegen Putins Krieg ist beispielhaft. Das
       hätte schon im Fall von Aleppo geschehen müssen. Und gegen Orbáns Schwindel
       all die Jahre. Die Ungarn haben jetzt die Möglichkeit, ihn abzuwählen.
       
       Sie haben Ungarn schon unter kommunistischer Herrschaft verlassen und leben
       seitdem in Deutschland. Waren Sie jemals versucht zurückzukehren? 
       
       Keine Sekunde, nicht einmal versehentlich. Meine Beschäftigung mit Ungarn
       jetzt ist die Ausnahme wegen der Zustände, die im Buch beschrieben sind.
       Das Abendland mit der ständig untergehenden Sonne bietet unendliche
       Beschäftigungsfelder.
       
       21 Mar 2022
       
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