URI: 
       # taz.de -- Angst vor Putins Russland: Alte Wunden
       
       > Hunderttausende Menschen flüchten aus der Ukraine in die Republik Moldau.
       > Dort wächst die Sorge, dass Putins Truppen weitermarschieren werden.
       
   IMG Bild: Namensgeber des von der Republik Moldau abtrünnigen Gebiets Transnistrien: der Fluss Dnister
       
       11.21 Uhr: „Hilfe, bitte. Wir sind seit 24 Stunden unterwegs. Wir sind neun
       Menschen, davon sechs Erwachsene und drei Kinder. Wo können wir schlafen?“ 
       
       11.27 Uhr: „Eine Frau und vier Kinder sowie zwei Frauen und ein Mädchen.
       Wir sind in Edineț und brauchen dringend einen Schlafplatz in Chişinău.
       Unklar, für wie lange.“ 
       
       11.40 Uhr: „Frau mit großem Hund. Brauche einen Ort zum Bleiben.“ 
       
       Es ist der 4. März 2022, Tag 9, seitdem [1][Putins Russland die Ukraine
       angegriffen] hat. Olga scrollt durch die digitalen Hilfeschreie in einem
       Telegram-Kanal. Die Ärmel ihrer Trainingsjacke hochgekrempelt starrt sie
       auf einen Laptop, der auf einer langen Tischreihe steht, um sie herum
       weitere junge Menschen, alle zwischen 20 und 40 Jahre alt. Sie tippen auf
       Tastaturen, telefonieren, laufen hin und her auf dem roten Teppich und vor
       den langen Fensterreihen mit schweren Vorhängen.
       
       Chişinău, die Hauptstadt der Republik Moldau, hat sich seit Kriegsbeginn
       zum sicheren Hafen für viele Flüchtende aus der Ukraine entwickelt. Die
       Stadt liegt nur rund 100 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Bis
       [2][Odessa, wo sich die Menschen vor Angriffen durch russische Raketen und
       Panzer wappnen], sind es nur 150 Kilometer.
       
       Nach Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks haben bislang mehr als 100.000
       Menschen aus der Ukraine [3][in Moldau Schutz gefunden]. Im Empfangssaal
       des Regierungsgebäudes in Chişinău haben Freiwillige eine Hilfsorganisation
       eingerichtet, die Regierung hat ihnen den Raum überlassen. Von hier aus
       organisieren sie Essen, SIM-Karten, Schlafplätze, Transport und erste Hilfe
       für die Flüchtenden.
       
       Auch Olga ist seit Kriegsbeginn jeden Tag hier. Ihren Nachnamen möchte sie
       nicht nennen, sie will angesichts der Lage nicht zu sehr in der
       Öffentlichkeit stehen, wie so viele, mit denen man in diesen Tagen in
       Moldau spricht. Nur so viel: „Normalerweise“ arbeite sie in einer
       Bildungsorganisation. Nun vermittelt sie Schlafplätze für diejenigen, die
       seit Tagen auf den Beinen sind.
       
       Nur: Wie lange noch? Müssen sie und die anderen Freiwilligen vielleicht
       selbst bald fliehen? Denn die Republik Moldau ist nicht nur wegen ihrer
       Nähe zum Krieg in einer besonderen Position. Im Osten der Republik liegt
       lang gezogen und durch den Fluss Dnister abgetrennt, die Provinz
       Transnistrien mit etwa einer halben Million Menschen. Sie hat sich mit dem
       Zerfall der Sowjetunion in einem militärischen Konflikt, der erst durch das
       Eingreifen russischer Truppen 1992 beendet wurde, für unabhängig erklärt.
       
       Seither [4][agiert das Gebiet autonom], mit eigener Währung – dem
       transnistrischen Rubel –, eigener Regierung, eigenem Militär. Obwohl von
       keinem UN-Staat der Welt anerkannt, unterstützt Russland die Provinz mit
       Investitionen in die Infrastruktur und günstigem Gas. Es bestehen enge
       Verwandtschafts- und Arbeitsbeziehungen. Russland erleichterte die Vergabe
       russischer Pässe seit den 2000er Jahren; heute hat etwa die Hälfte der
       Bevölkerung Transnistriens einen russischen Pass. Zudem sind noch immer
       etwa 1.300 russische Soldaten in dem Gebiet stationiert.
       
       ## Ein roter Pfeil zeigt von Odessa nach Transnistrien
       
       Am achten Tag des Ukrainekriegs präsentierte der belarussische Präsident
       Alexander Lukaschenko vor seinem Sicherheitsrat eine Militärkarte, auf der
       die geplanten Truppenbewegungen in der Ukraine mit roten Pfeilen
       eingezeichnet waren. Ein von offizieller Seite veröffentlichtes Video zeigt
       diesen Moment. Darauf auch zu sehen: Ein roter Pfeil auf der Karte zeigt
       von Odessa nach Transnistrien.
       
       Das hat die Sorge verstärkt, dass russische Truppen sich über Mariupol und
       Odessa bis nach Transnistrien vorarbeiten könnten – und Wladimir Putin dann
       auch vor der gesamten Republik Moldau nicht Halt machen könnte.
       
       „Ich fürchte seit dem ersten Tag, dass Moldau als Nächstes an der Reihe
       ist“, sagt Olga. Den Einmarsch russischer Truppen in die transnistrische
       Hauptstadt Tiraspol hält sie für vorstellbar. Während sie sich durch die
       Telegram-Gruppe mit den Flüchtlingsnachrichten scrollt, hält sie manchmal
       kurz inne. Als müssten die Eindrücke erst einen Platz finden, an den sie
       gehören. Bis vor drei Wochen gab es diesen Platz nicht mal, nun ist der
       Krieg nah. „Ich bin eigentlich nur noch im Land, weil ich bei meinen
       Großeltern bleiben will“, sagt Olga. „Sie sind alt und brauchen mich.“
       
       Die Augen der 36-Jährigen werden feucht, wenn sie darüber spricht, sie
       dreht sich weg. Ohne ihre Großeltern hätte sie sich bereits auf den Weg ins
       [5][Nachbarland Rumänien] gemacht, hinein in die Europäische Union.
       „Niemand weiß, wie Putin gerade denkt“, sagt sie.
       
       „Und [6][wenn Putin sich noch die ganze Republik Moldau holen] wollte“,
       sagt eine andere Freiwillige, „wäre das für ihn eine Sache von einer halben
       Stunde.“ Tiraspol und Chişinău liegen nur 70 Kilometer auseinander.
       
       ## „Wir sind der fragilste Nachbar der Ukraine.“
       
       Einer militärischen Intervention hätte die Republik Moldau wenig
       entgegenzusetzen. „Wir sind kein großes Land, wir haben keine große Armee
       und auch kein ausgefeiltes Equipment“, sagte der Minister für Auswärtige
       Angelegenheiten und Europäische Integration, Nicu Popescu, vergangene Woche
       bei einer Pressekonferenz. „Wir sind der fragilste Nachbar der Ukraine.“
       
       Hinweise für eine militärische Kooperation zwischen Russland und
       Transnistrien in diesem Krieg gibt es bisher nicht. Flüchtende aus der
       Ukraine wurden in der Provinz aufgenommen, Politiker zeigen sich
       öffentlichkeitswirksam in Sammelunterkünften, wie Medien berichten. Und
       auch offiziell äußern sich Mitglieder der Provinzregierung nicht
       befürwortend oder kritisch zum russischen Einmarsch. Man sei an einer
       Lösung interessiert, die Stabilität und Frieden fördere, heißt es.
       
       Die Situation beunruhigt aber die Regierung Moldaus. Seit Kriegsbeginn ist
       der Luftraum gesperrt und der Ausnahmezustand verhängt, Demonstrationen
       oder andere Versammlungen sind verboten. Die Regierung nehme „alle
       möglichen Bedrohungslagen“ ernst, sagt Außenminister Popescu.
       
       Zudem sucht die Regierung seither mehr denn je die Nähe zum Westen.
       [7][Staatspräsidentin Maia Sandu] traf sich in den vergangenen zwei Wochen
       mit dem Außenminister der USA, Antony Blinken, sowie mit der deutschen
       Außenministerin Annalena Baerbock, um über Unterstützung im Umgang mit den
       Flüchtenden zu sprechen. Und genau eine Woche nach dem Einmarsch russischer
       Truppen in die Ukraine unterzeichnete Sandu das Beitrittsgesuch zur
       Europäischen Union. „The time is now“, [8][schrieb sie dazu auf Twitter].
       
       „Die Anbindung an die EU ist längst überfällig“, sagt eine Freiwillige im
       improvisierten Hilfszentrum. Und auch in Gesprächen auf den Straßen von
       Chişinău, in den Kaffeehäusern oder in den Bussen wird deutlich, dass viele
       diese Aussage unterstützen. Vor dem Regierungsgebäude wehen zwei Flaggen:
       die der Republik Moldau und die der EU.
       
       Doch nur wenige Kilometer von Chişinău entfernt bricht dieser Eindruck.
       Hinter der Stadtgrenze wechseln sich schwarzerdige Äcker mit Weinreben ab,
       dazwischen tauchen Dörfer auf, deren Häuser klein und unverputzt sind, an
       vielen der hölzernen Fensterläden blättert die Farbe. Zwei oder drei
       Häuserreihen sind es meist nur, danach wieder: Landschaft.
       
       ## „Der Schritt in Richtung EU ist eine Katastrophe!“
       
       In einem dieser Dörfer steht hinter einer Kühltheke voller eingeschweißter
       Suppenhühner eine Verkäuferin, Dora heißt sie. „Der Schritt von Maia Sandu
       in Richtung EU ist eine Katastrophe!“, sagt sie und zieht ihre Hände aus
       der Kittelschürze, um ihre Worte mit Gesten zu unterstreichen. „Wir sollten
       jetzt nicht zusätzlich eskalieren!“
       
       Dora lebt in Kongaz, ein paar Kilometer südlich von Komrat, der Hauptstadt
       von Gagausien. Die Provinz wird mehrheitlich von der Volksgruppe der
       Gagausen bewohnt, einem Turkvolk, dem weltweit etwa 200.000 Menschen
       angehören, die Mehrheit lebt in Moldau. Ähnlich wie Transnistrien hat sich
       auch Gagausien nach dem Zerfall der Sowjetunion als autonome Provinz
       erklärt. Doch anders als im Falle Transnistriens eskalierte der Konflikt
       hier nicht, eine diplomatische Lösung wurde gefunden. Die Provinz ist
       seither Teil der Republik mit weitreichender Autonomie. Russisch ist hier
       eine von drei Amtssprachen, russische Medien sind allgegenwärtig, viele
       Menschen haben Verwandtschaftsbeziehungen nach Russland. Die prorussische
       Gouverneurin Irina Vlah regiert die Provinz seit 2015; sie gewann die Wahl
       mit großem Vorsprung.
       
       „Ich wurde in der Sowjetunion geboren“, erzählt Dora. „Damals haben wir
       wirklich gelebt. Wir sind morgens aufgewacht und hatten Arbeit.“ Sie trägt
       die Haare mit einem Tuch zusammengebunden. Man sieht ihr an, dass sie viel
       draußen gearbeitet hat. „Heute wachen wir auf und haben nichts“, sagt sie,
       dabei dreht sie die Handflächen zur Decke.
       
       Die Wirtschaft in der Republik Moldau gehört zu den schwächsten auf dem
       europäischen Kontinent. 1990 lebten hier noch knapp 3 Millionen Menschen,
       heute sind es etwa 2,5 Millionen. Besonders in den landwirtschaftlich
       geprägten Regionen leidet die Wirtschaft [9][unter der Abwanderung], wie
       auch hier in Gagausien.
       
       „Ich fände es gut, wenn wir mit Gagausien und Transnistrien zusammen näher
       an Russland rücken würden“, sagt Dora. „Mit der jetzigen Regierung ist
       einfach alles zu teuer.“ Gas, Benzin, Lebensmittel. Russland hingegen habe
       hier investiert, vor allem in Busse, Krankenwagen, Mülltransporter. Hinter
       Dora, an der Wand in einem Gewürzregal, hängt [10][ein kleines
       orange-schwarz gestreiftes Bändchen]: Das Sankt-Georgs-Band, ein russisches
       Militärabzeichen. Es gilt als Unterstützungssymbol für den Kurs Wladimir
       Putins.
       
       Dora ist mit ihrer Meinung nicht allein. Die Mehrheit der Menschen in
       Gagausien unterstützt die russische Linie, niemand spricht von „Krieg“ oder
       „Invasion“, sie nennen es „Spezialoperation“ oder „Befreiung von den
       Nationalisten in der Ukraine“ – identische Worte wie in Putins Propaganda.
       Und nicht nur in Transnistrien oder Gagausien ist das so. Vor allem im
       Norden des Landes genießen prorussische Politiker und Politikerinnen hohe
       Zustimmung.
       
       Wie zum Beispiel Igor Dodon. Der Kandidat der Sozialisten hatte die
       Präsidentschaftswahl 2016 mit 52 Prozent der Stimmen gewonnen. Drei Jahre
       später wurde Dodon vom Verfassungsgericht abgesetzt – er hatte nach der
       Parlamentswahl eine Regierung vereidigt, die nicht innerhalb der
       festgelegten Frist zustande gekommen war. Es folgte eine Stichwahl um die
       Präsidentschaft, darin unterlag er Maia Sandu. Überwunden scheint das
       nicht: „Unter Dodon war vieles besser“, sagt Dora.
       
       ## Ein Konflikt um die Zugehörigkeit zu Ost oder West
       
       Prorussisch, proeuropäisch – in vielen Gesprächen wird diese Zuordnung
       deutlich. Was, wenn die Gefahr für Moldau nicht durch russische Panzer
       droht, die in die transnistrische Hauptstadt Tiraspol einfahren? Sondern
       dadurch, dass der Krieg in der Ukraine einen 30 Jahre lang „eingefrorenen“
       Konflikt innerhalb Moldaus neu entfacht? Einen Konflikt um die
       Zugehörigkeit zu Ost oder West.
       
       An einem Ort wie Coșnița werden diese Bedenken greifbar. 30
       Straßenkilometer nordöstlich von Chişinău steht Gafeli Alexei im Rathaus
       der kleinen Gemeinde vor einem meterlangen Satellitenbild. Er ist der
       Bürgermeister hier, früher gehörte er den Sozialisten an, also der
       prorussischen Bewegung um Dodon, heute ist er parteilos. Sein Hemd und die
       Bügelhose sitzen wie maßgeschneidert, sein Haarschnitt ist akkurat.
       
       „Wir sind hier“, sagt er und deutet mit der Hand auf zwei braune Kleckse,
       die inmitten von sattem Grün liegen: Coșnița und Pohrebea. Dann fährt er
       mit der Hand einen bläulichen Bogen entlang, der die beiden Kleckse fast
       umschließt. „Das hier ist der Grenzfluss Dnister.“ Er hält mit seiner Hand
       über einer geraden Straße weiter östlich inne, auf der eine gestrichelte
       Linie zu sehen ist. „Und von hier kam der Feind.“
       
       Der Dnister markiert die Grenze zwischen der abgespaltenen Provinz
       Transnistrien im Osten und dem Rest der Republik Moldau im Westen. Doch
       nicht hier: Coșnița, die umliegenden Dörfer und insgesamt etwa 65
       Quadratkilometer Land liegen östlich des Dnister – und gehören dennoch
       nicht zu Transnistrien.
       
       In der militärischen Auseinandersetzung um die Abspaltung fanden in dieser
       Region zwischen 1991 und 1992 die größten Kämpfe zwischen moldauischen
       Truppen und Zivilisten auf der einen und der transnistrischen Regierung
       sowie Milizen auf der anderen Seite statt. Die Bevölkerung von Coșnița und
       dem Nachbardorf Pohrebea kämpften für die Zugehörigkeit zur Republik
       Moldau. Dabei kamen Zivilisten und Soldaten auf beiden Seiten ums Leben.
       Erst als im Sommer 1992 die russische Armee eingriff, ruhten die Waffen im
       Transnistrienkrieg.
       
       Seither leben die Menschen in der Grenzregion ohne nennenswerte Konflikte
       nebeneinander, die Checkpoints sind für Einheimische offen. „Wir haben zwar
       auf behördlicher Ebene keinen Kontakt mit Transnistrien“, sagt
       Bürgermeister Gafeli Alexei. „Aber die Bürger stehen in engem Austausch.“
       Familien, Verwandte, Freunde. Auf dem Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude
       stehen viele Autos mit transnistrischer Flagge auf dem Kennzeichen: grüner
       Streifen auf rotem Untergrund, dazu Hammer und Sichel.
       
       Sie ließen hier ihre moldauischen Pässe erneuern, sagt Alexei. Zudem
       befinden sich auf transnistrischer Seite rund 1.000 Hektar Land, die
       Landwirten aus Coșnița gehören. Eine Vereinbarung zwischen Transnistrien
       und Moldau sichert den Landwirten zu, dass sie das Getreide im Herbst aus
       Transnistrien herausholen dürfen.
       
       Doch seit Beginn des Krieges herrscht Unsicherheit, berichtet Gafeli
       Alexei. Im Sommer endet turnusgemäß die Vereinbarung zur Getreideausfuhr.
       Neue Verhandlungen über die nächsten fünf Jahre seien noch nicht gestartet,
       sagt Alexei. Das sei ungewöhnlich. Die Landwirte wüssten deshalb nicht, ob
       sie das Getreide, das sie nun aussäen, im Herbst einholen dürfen. Was, wenn
       hier erneut so etwas wie ein Kalter Krieg im Kleinen droht? „Die
       Bevölkerung fürchtet, Coșnița könnte von der Republik Moldau abgeschnitten
       werden.“ So wie damals, als die transnistrischen Truppen die Brücke auf die
       westliche Seite des Dnister und damit den einzigen Zugang nach Moldau
       sprengten.
       
       Vasili Tenentiev im Nachbardorf Pohrebea hat das miterlebt. Auf Fotos
       möchte er nicht zu sehen sein, seine Orden hingegen zeigt er gern. In
       Sandalen, Jogginghose, Pullover und Wollmütze führt er über einen erdigen
       Pfad hinunter, vorbei an windschiefen Ställen und Schuppen. Tenentievs Haus
       steht direkt unterhalb einer zerbombten orthodoxen Kirche. Sie ist das
       Wahrzeichen von Pohrebea, wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, dann
       noch mal beim Konflikt um Transnistrien. Restauriert wurde sie seither
       nicht.
       
       In einem Raum am Ende des Gangs liegt eine Uniform auf einem Sofa,
       ordentlich ausgebreitet, als würde Tenentiev jederzeit darauf warten, dass
       sie jemand sehen will. Sieben Orden zieren das linke Revers. „Für meine
       Zeit bei der Polizei, für eine Spezialoperation, für den Krieg …“, zählt er
       auf.
       
       Tenentiev hat bis zur Rente als Polizist gearbeitet, auch er hat im Krieg
       um Transnistrien gekämpft. „Ich wurde von einer Mine verletzt“, sagt er.
       „An der Schulter und am Fußgelenk.“ Als er damals in Pohrebea gestanden
       habe mit der Waffe in der Hand, habe er nur Angst und Hass gespürt. Je mehr
       er davon spricht, desto brüchiger wird seine Stimme. „Viele meiner Freunde
       sind damals gestorben.“ Dann schweigt er lange, sein Blick irrt umher.
       
       „Auch damals hätte niemand gedacht, dass wir mit unseren Nachbarn Krieg
       führen“, sagt Tenentiev. „Und trotzdem ist es passiert.“ Wladimir Putin sei
       vielleicht einfach verrückt geworden, sagt er. Und die Menschen in Russland
       und Transnistrien würden ihm glauben, ihm „wie Zombies“ folgen. Dass
       Präsidentin Maia Sandu nun die Nähe zur Europäischen Union sucht, findet
       Tenentiev gut. „Nur, was ist mit uns?“, fragt er. „Wo sollen wir hin, wenn
       Transnistrien das als Aggression versteht?“
       
       Anzeichen dafür gibt es. Kurz nach Beginn des Krieges und damit vor dem
       EU-Beitrittsgesuch kritisierte der De-facto-Außenminister von
       Transnistrien, Witali Ignatjew, gegenüber russischen Medien die Haltung der
       Republik Moldau: „Die militärpolitische Entwicklung Moldawiens durch
       Rumänien, die Vereinigten Staaten und die Nato provoziert eine ständige
       Verschärfung der Restriktionen gegenüber Transnistrien“, sagte Ignatjew.
       Dabei benutzte er den umgangssprachlich häufig verwendeten Landesnamen
       „Moldawien“, der auf die abgekürzte russische Übersetzung der ehemaligen
       Sowjetrepublik zurückgeht. Das Land ignoriere Verhandlungsinstrumente, so
       Ignatjew weiter, und werde „direkt vom Westen kontrolliert“.
       
       Die Fronten scheinen sich vor der Kulisse des Ukrainekrieges zu verhärten.
       Alte Wunden werden aufgerissen. Und die Spannungen verunsichern nicht nur
       die Bevölkerung Moldaus – sondern noch viel mehr diejenigen, die sich hier
       in Sicherheit gebracht haben.
       
       Wie Anastasia und Ana. In Coșnița, ein paar Hundert Meter vom Büro des
       Bürgermeisters entfernt, sitzen sie auf den Betten eines Zimmers im
       Schullandheim. Vor zwei Tagen sind sie aus Odessa gekommen mit ihren drei
       Kindern und zwei Katzen. Nun blicken sie nicht mehr auf das Schwarze Meer,
       sondern auf den Dnister. Wenige Meter neben der Sammelunterkunft fließt er
       entlang.
       
       „Wir verfolgen, wie sich der Krieg entwickelt“, sagt Ana. Jeden Tag seien
       sie in Kontakt mit ihren Ehemännern und Brüdern. Sprechen mit ihnen, wie
       viele Lebensmittel es noch gibt, ob in der Nacht wieder die Sirenen vor
       Bombenangriffen gewarnt haben. Aber auch die Situation in Moldau hätten sie
       im Blick. „Ob wir weiter nach Westen fliehen, wissen wir noch nicht. Angst
       macht es uns schon“, sagt Ana. „Wir hoffen, Moldau wird nicht involviert.“
       
       Ein Zufall, dass Ana und Anastasia gerade jetzt in Coșnița angekommen sind:
       Am 14. März hat die Gemeinde des blutigen Konflikts um ihr Gebiet östlich
       des Dnister gedacht. Der Gedenktag jährt sich zum 30. Mal.
       
       Mitarbeit: Mircea Baștovoi
       
       19 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
   DIR [2] /Krieg-in-der-Ukraine/!5840540
   DIR [3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5838347
   DIR [4] /Parlamentswahl-in-Moldau/!5784895
   DIR [5] /Flucht-aus-der-Ukraine-nach-Rumaenien/!5838454
   DIR [6] /Konflikte-in-Ex-Sowjetrepubliken/!5836947
   DIR [7] /Neue-Praesidentin-von-Moldau/!5725349
   DIR [8] https://twitter.com/sandumaiamd/status/1499426835201150978
   DIR [9] /Moldau-25-Jahre-nach-der-Unabhaengigkeit/!5355121
   DIR [10] /Geschichte-eines-russischen-Symbols/!5765759
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Franke
       
       ## TAGS
       
   DIR Wladimir Putin
   DIR Republik Moldau
   DIR Transnistrien
   DIR Ukraine
   DIR GNS
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Krieg
   DIR Republik Moldau
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kriegsgefahr in Transnistrien: Jenseits des Flusses
       
       Die Region, eingeklemmt zwischen Moldau und Ukraine, gilt als russisches
       Einflussgebiet. Viel ist von einer Kriegsgefahr die Rede. Ein Ortsbesuch.
       
   DIR Berliner Hilfsorganisation in Lwiw: „Längerfristiger Einsatz“
       
       Seit Mitte März befindet sich die Hilfsorganisation Cadus in Lwiw. Die Lage
       vor Ort sei „ziemlich skurril“, berichtet Tankred Beume.
       
   DIR Internationale Geberkonferenz in Berlin: Millionenhilfen für Moldau
       
       In dem armen Nachbarland der Ukraine leben derzeit 100.000 ukrainische
       Geflüchtete. Ein Teil soll auf andere Staaten verteilt werden.
       
   DIR Moldaus Premierin über Ukraine-Krieg: „Ernsthafte Herausforderungen“
       
       Regierungschefin Natalia Gavrilita fordert vom Westen finanzielle
       Unterstützung, um Flüchtlingen aus der Ukraine noch besser helfen zu
       können.
       
   DIR Одесса и война в Украине: Портовый город в сопротивлении
       
       Одесса под огнем. Но одесситы делают все возможное, чтобы противостоять
       Москве.
       
   DIR Hafenstadt Odessa im Ukrainekrieg: Stadt im Widerstand
       
       Odessa wird seit Kriegsbeginn attackiert. Doch die Menschen in der
       Schwarzmeerstadt tun alles, um Moskaus Angriff standzuhalten. Ein
       Ortsbericht.
       
   DIR +++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Schweiz soll Konten einfrieren
       
       Bei einem Luftangriff in Mykolajiw wurden mindestens 50 Soldaten getötet.
       Selenski spricht per Video zu Demonstranten in der Schweiz.
       
   DIR Baerbock auf dem Balkan: Ein Auge auf Bosnien haben
       
       Außenministerin Baerbock betont beim Besuch in Bosnien und Herzegowina die
       Integrität des Staates. Seit der Ukraine-Invasion nehmen Spannungen zu.
       
   DIR Konflikte in Ex-Sowjetrepubliken: Bald Moldau und Georgien?
       
       Russlands Angriff auf die Ukraine wirft ein Schlaglicht auf weitere
       Konflikte in der Ex-Sowjetunion. Der Westen sollte sie endlich ernst
       nehmen.
       
   DIR Ukraine-Krieg als Zäsur: Zeitenwende
       
       Die politische Kernschmelze in Moskau ist ein tiefgreifender Einschnitt.
       Eine veränderte Ostpolitik war seit Jahren überfällig.