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       # taz.de -- Debatten über den Krieg in der Ukraine: „Wir sind alle Juden!“
       
       > Zwei Drittel der Dresdner Juden und Jüdinnen stammen aus der Ukraine, ein
       > Drittel aus Russland. Warum der Krieg die Gemeinschaft dennoch nicht
       > entzweit.
       
       So oft der Weg am Neubau der [1][Dresdner Synagoge] vorbeiführt, sieht man
       einen blau-weißen Polizeiwagen zwischen Brühlscher Terrasse und der
       Carola-Elbbrücke stehen. „Früher standen unsere Türen offen, jetzt dürfen
       sie es nicht mehr“, klagt nüchtern der aus den USA stammende
       Gemeindevorsitzende Michael Hurshell, Dirigent und Dozent an der
       Musikhochschule. Übergriffe hat es hier in den vergangenen Jahren zwar
       nicht gegeben, aber nach dem Fanal des Attentatsversuchs in Halle 2019 ist
       man auch in Dresden gewarnt.
       
       Nie darf sich wiederholen, was am selben Ort in der Pogromnacht 1938
       geschah: Die [2][Synagoge] des berühmten Baumeisters Gottfried Semper, die
       damals größte in Deutschland, wurde ein Opfer der Flammen. Wenige Tage nach
       der Pogromnacht ließen die Nazis die Trümmer abreißen.
       
       Der Neubau mit seinen beiden gegenüberstehenden sandsteinfarbenen
       Betonkuben lädt an und für sich wie kaum eine anderes Gotteshaus zur
       Begegnung ein. Zwischen der eigentlichen Synagoge und dem Gemeindehaus
       erstreckt sich ein kiesbedeckter, versammlungsfreundlicher Innenhof.
       
       In die Verwaltungsetagen oberhalb des großen Gemeindesaals hat in diesen
       Tagen der Vorstand zu einem Gespräch eingeladen. „Bitte nicht den Krieg
       auch noch in die Gemeinde tragen!“, schärft zuvor Elena Tsirkina ein. „Das
       ist das Letzte, was wir brauchen können!“ Die Frau in mittleren Jahren kam
       vor 25 Jahren aus Sankt Petersburg nach Dresden, ist mit einem
       Wissenschaftler verheiratet und kümmert sich um die Finanzen des hier
       ebenfalls ansässigen Landesverbands der Jüdischen Gemeinden Sachsen. „Wir
       sind alle Juden!“, sagt Tsirkina.
       
       ## Deutsche Juden sind zur kleinen Minderheit geworden
       
       Hatte man bislang nur grob gewusst, dass „Russen“ den überwiegenden Anteil
       der Gemeindemitglieder stellen, erfährt man von ihr nun Details: Fast zwei
       Drittel der etwa 700 Gemeindemitglieder stammen aus der Ukraine, ein
       Drittel der zu Beginn der 1990er Jahre zugewanderten Kontingentflüchtlinge
       und Spätaussiedler kamen aus dem russischen Kerngebiet. Deutsche der
       ursprünglichen Gemeinde stellen nur noch einen Anteil zwischen 5 und 10
       Prozent.
       
       Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das jüdische Leben in Dresden schon
       einmal durch osteuropäische Zuwanderung eine Auffrischung erfahren. Sie
       brachten auch eine orthodoxe Strömung mit, die eigene Betstuben nutzte,
       während sich liberale Juden in der großen Synagoge einfanden. Heute gibt es
       neben der Synagogengemeinde auch wieder eine orthodoxe
       [3][Chabad-Gemeinde], die in einer Villa des Stadtteils Strehlen friedlich
       koexistiert.
       
       Nach einer amtlichen Volkszählung von 1933 lebten in Dresden damals 4.675
       Juden; was einem Anteil von 0,7 Prozent der Stadtbevölkerung entsprach.
       Verfolgung, Deportation und Massenmord brachten das jüdische Leben fast zum
       Erliegen. Nach dem Wiederbeginn in einer kleinen Synagoge am Jüdischen
       Friedhof fanden sich zu DDR-Zeiten nur wenige, häufig ältere Juden
       zusammen.
       
       Das änderte sich nach der Wiedervereinigung, als 1991 die
       Ministerpräsidenten der Bundesländer jüdischen Emigranten aus der
       zerfallenden Sowjetunion die Einwanderung ermöglichten. Etwa 85.000 von
       ihnen fanden den Weg in deutsche Gemeinden, die daraufhin um ein Vielfaches
       anwuchsen. So ist auch die [4][Jüdische Gemeinde Dresden] seit rund 30
       Jahren eine zweisprachige Enklave, wo die russische oder eben auch die
       ukrainische Sprache dominieren.
       
       ## „Ich vereinige vier Kulturen in mir“
       
       Wie wenig man mit nationalen Zuordnungen weder in der Ukraine noch in der
       Dresdner Gemeinde weiterkommt, veranschaulicht Pawel, genannt „Pascha“. Ein
       64-jähriger bärtiger und lebenskluger Mann aus dem Gemeindevorstand, formal
       ein Ukrainer. Er kam 2011 mit Frau, Sohn und der heute 92-jährigen Mutter
       nach Dresden. „Ich vereinige vier Kulturen in mir“, gibt er zu bedenken.
       Sein Vater war halb Ukrainer und halb Pole, die Mutter eine russische
       Jüdin. „Das ist gut, und das ist schlecht“, lacht er, „jedenfalls
       kompliziert.“ Elena steuert die Bemerkung bei, dass unter dem Dach der
       ehemaligen Sowjetunion etwa hundert Völker vereint waren.
       
       Nicht nur in der Dresdner Jüdischen Gemeinde scheinen mögliche ethnische
       Konflikte durch die übergeordneten jüdischen Identität aufgehoben. Pawel
       ordnet Differenzen ohnehin weniger einer Nationalitätenkollision als der
       Einstellung zur Demokratie zu. Vorwiegend Ältere hingen noch dem
       Sowjetsystem nach, Jüngere seien westlich-demokratisch eingestellt.
       „Pascha“ vertritt die von den zahlreichen deutschen Putin-Verstehern gar
       nicht gelittene These, dem Krieg gegen die Ukraine liege kein militärisches
       Sicherheitsdenken, sondern die Alternative des
       freiheitlich-individualistischen Gedankens oder eines
       autoritär-zentralistischen Systems zugrunde.
       
       Also habe es auch in der Gemeinde Putin-Anhänger und dessen Gegner gegeben,
       bestätigen die anderen Gesprächspartnerinnen. Aber man habe immer
       miteinander gekonnt, man dürfe jetzt nicht künstlich einen Konflikt
       konstruieren. Elena Tsirkina erinnert lächelnd daran, dass Ukrainer in der
       Gemeinde 2014 nach der Krim-Annexion zwar demonstrativ und trotzig
       Ukrainisch sprachen: „Aber das haben sie nur wenige Tage durchgehalten.“
       
       Nicht ganz so eindeutig fallen Antworten auf die Frage aus, ob der
       Kriegsbeginn daran etwas geändert und latente Animositäten geweckt habe.
       Wieder kommt Elena Tsirkinas: „Wir sind alle Juden!“ Die drei
       Gesprächspartner Elena, Pawel und Jekaterina verbindet darüber hinaus ihre
       Sympathie für die Demokratie und die klare Absage an das Putin-System. Sie
       versichern, dass der Krieg über politische Zuneigungen hinweg einhellig von
       der Gemeinde verurteilt werde.
       
       Das bestätigt Nora Goldenbogen für den sächsischen [5][Landesverband der
       Jüdischen Gemeinden], ja für den Zentralrat der Juden in Deutschland
       insgesamt. Bevor sie Vorsitzende des Landesverbands wurde, stand sie der
       Dresdner Gemeinde vor. Sie sei auch persönlich schockiert, habe „so viel
       Brutalität und Radikalität nicht erwartet“. Es sei jetzt besonders wichtig,
       in den Gemeinden weiter zu reden. „Die Unterschiede sollen uns nicht
       entzweien“, sorgt sich Goldenbogen.
       
       ## Verständnis für Putin-Gläubige
       
       Die deutlichste Position zum Krieg und den russischen Verbrechen bezieht
       die Russin Jekaterina Kulakowa, kurz Katja gerufen. Mit Wladimir Iljitsch
       Lenin teilt sie den Geburtsort Uljanowsk. Sie steht der
       Repräsentantenversammlung der Dresdner Gemeinde vor. Schon äußerlich eine
       imposante Erscheinung, beeindruckt Kulakowa noch mehr durch kluge Analysen.
       Ihr Auftreten ruft in Erinnerung, wofür man das russische Wesen eigentlich
       lieben kann. Ernst, ja Tragik, gepaart mit gewinnender Herzlichkeit. Schon
       nach einer Viertelstunde wird der Reporter mit dem vertraulichen „Mischa“
       angeredet. Hätte nur noch „Sto Gramm Wodka“, also das sprichwörtliche
       Hundertmilliliterglas Wodka, zum Anstoßen gefehlt.
       
       Katja Kulakowa zitiert den polnischen Essayisten Adam Michnik. Patriotismus
       sei das Ausmaß an Scham darüber, was die eigene Regierung im Namen des
       Volkes gemacht habe. Solche Scham empfänden jetzt viele Russen, sagt sie.
       Wenn dennoch so viele dem Putin-Regime folgten, so komme das nicht aus der
       ursprünglichen russischen Seele. Das sei vielmehr als Großmachtgedanke
       künstlich von oben geprägt worden, der mit der Zeit in die Köpfe der Leute
       eingesickert sei. Nicht erst seit der Oktoberrevolution 1917, nicht erst
       seit dem Sieg über Hitlerdeutschland im Großen Vaterländischen Krieg.
       Sondern seit dem von Peter dem Großen verankerten Selbstbild: „Wir sind
       stark, wir sind das beste Volk der Erde.“ Deshalb, so sagt es Katja
       Kulakowa, glaubten diese Menschen auch entscheiden zu dürfen, wie die
       Nachbarn zu leben hätten. Nach dem Verlust imperialer Größe mit dem Zerfall
       der Sowjetunion 1991 herrsche nun der Gedanke vor, „das Russische Reich
       wiederherstellen zu müssen“.
       
       Menschenkennerin Kulakowa äußert Verständnis für Reaktionen derer, die
       bislang an Putin glaubten. „Wenn ein Mensch sieht, dass falsch ist, woran
       er ein ganzes Leben lang zu glauben meinte, macht er lieber die Augen zu
       und wiederholt, was deklariert wird.“ „Wir beschäftigen uns zu wenig mit
       uns selbst“, schließt sie.
       
       Solche Reflexionen habe der Krieg in der Jüdischen Gemeinde Dresden
       angestoßen. Wieder beschreibt Kulakowa die Konsequenz, ja die Flucht nach
       vorn aus einem möglicherweise drohenden Schisma am treffendsten. Sie
       bezeichnet die Besinnung auf das verbindende jüdische Bekenntnis als
       „selbstbewusste Orientierung für die Gemeinde“. „Das ist der einzige Weg,
       der uns hilft, katastrophale Gespräche über den großen Putin oder den
       großen Selenski zu vermeiden.“
       
       ## „Nur Aktion hilft, nicht das Diskutieren“
       
       Aus dieser Besinnung auf das Gemeinsame und aus der dominierenden
       Verurteilung des Krieges folgt die ebenfalls verbindende Hilfe aller für
       die Opfer des Krieges. „Nur Aktion hilft, nicht das Diskutieren“, sagt der
       Gemeindevorsitzender Hurshell. Allein schon wegen der zahlreichen
       persönlichen Verbindungen waren die Gemeindemitglieder bei der
       Flüchtlingshilfe schneller dabei als die Stadt Dresden. „Pascha“ Nedselskij
       beherbergte in der Vierzimmerwohnung neben seiner Familie zeitweise noch
       vier weitere Verwandte und Bekannte. Manche Dresdner Juden sind kurz nach
       Kriegsbeginn noch mit dem eigenen Auto vor allem in die Westukraine
       gefahren, um Verwandte herauszuholen. Die deutschen Behörden erwiesen sich
       als nicht gerade beweglich in solchen akuten Notfällen, spottet Elena ein
       wenig. Vielmehr habe die Mundpropaganda verbreitet, dass in der Jüdischen
       Gemeinde schnell geholfen werde und fast alle Russisch sprechen.
       
       Die Spendenbereitschaft ist riesig. Gemeinsam mit der überwiegend
       deutsch-russischen Begegnungsstätte „Kolibri“ richtet man im Gemeindesaal
       einen provisorischen Unterricht für die ersten 35 ukrainischen Kinder ein.
       Nach jüdischer Religionszugehörigkeit wird nicht gefragt.
       
       Zurück zudem blau-weißen Polizeiwagen vor der Synagoge. Kommt nun zum
       latenten Antisemitismus noch ein wachsender Russenhass hinzu? Nach
       Erfahrungen mit ersten Übergriffen und Beleidigungen warnen das
       Bundesinnenministerium und auch das sächsische Landeskriminalamt. Die
       Dresdner Gemeindemitglieder sprechen dieses fatale Thema nicht von sich aus
       an. „Vorurteile gegen Russen gab es schon vor dem Ukrainekrieg“, blickt
       die Gesprächsrunde einstimmig zurück. Sie spiegeln die typisch ostdeutsche
       Ambivalenz zwischen der tradierten deutsch-sowjetischen Freundschaft in der
       DDR, neoautoritären Putin-Verstehern und den ebenso tradierten Hassern des
       alten und neuen Sowjetimperialismus.
       
       Es sind mehr atmosphärisch gefühlte Veränderungen, die Gemeindemitglieder
       wahrnehmen. Persönlich attackiert worden ist niemand. Welcher Deutsche
       könnte auf der Straße schon zwischen Russisch und Ukrainisch unterscheiden?
       Katja Kulakowa erzählt verschmitzt lächelnd, wie der Krieg plötzlich ein
       neues Nachbarschaftsverhältnis eröffnet habe. 16 Jahre lang wussten
       Wohnungsnachbarn nicht, dass sie Jüdin ist. Wegen ihres russischen Idioms
       aber wurde sie nun offen nach ihrer Haltung zum Krieg befragt. Als das
       geklärt war, „war alles wieder locker“, freut sie sich über das Interesse
       der sonst nicht gerade kontaktfreudigen Deutschen.
       
       Nicht so locker sieht es die Landesverbandsvorsitzende Nora Goldenbogen.
       Bedächtig wiegt sie den Kopf und fürchtet, „dass der Antisemitismus nicht
       hinter der Russenfrage zurücktreten wird“. Für jüdische Bürger erwartet sie
       eher eine Doppelbelastung. „Judenhass und Russenhass werden sich
       verbinden!“
       
       Freitagabend zur Schabbatfeier kommen zwar nur sieben Besucher in die
       Synagoge, weitere zehn verfolgen sie online. Aber es herrscht keine
       deprimierte Stimmung, Scherze werden davor und danach gewechselt. „Wie geht
       es der Katze?“ Der Krieg aber verändert auch den gewohnten Ablauf. Auf das
       große Gotteslob des Kaddisch Jatom folgt ein besonderes
       Schalom-Friedensgebet. Die Gesprächsrunde verabschiedet sich mit dem
       hebräischen Trinkspruch Lechajim, was so viel bedeutet wie: „Auf das
       Leben!“
       
       21 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.das-neue-dresden.de/synagoge.html
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Alte_Synagoge_(Dresden)
   DIR [3] https://www.chabad-sachsen.de/templates/articlecco_cdo/aid/514556/jewish/Chabad-Dresden.htm
   DIR [4] https://www.zentralratderjuden.de/vor-ort/landesverbaende/key//juedische-gemeinde-zu-dresden-kdoer/
   DIR [5] https://www.zentralratderjuden.de/vor-ort/landesverbaende/Landesverband%20Sachsen%20der%20J%C3%BCdischen%20Gemeinden%20K.d.%C3%B6.R./
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bartsch
       
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