URI: 
       # taz.de -- Pflegekinder aus der Ukraine: Große Hilfsbereitschaft
       
       > Ein Suchaufruf nach Pflegeeltern für 50 Waisenkindern aus der Ukraine
       > entpuppt sich als Missverständnis. Aber die Resonanz darauf war enorm.
       
   IMG Bild: Vor dem Krieg geflohen: Kinder aus der Ukraine vor der Ausländerbehörde in Hamburg
       
       Hamburg taz | Der Aufruf, der am Freitag durch die sozialen Netze ging, las
       sich dramatisch. Der Verein „Lebenschance für Kinder“ bitte um Hilfe. Es
       kämen 50 ohne Eltern zurückgelassene Waisenkinder aus der Ukraine nach
       Hamburg. Viele seien nicht mal ein Jahr alt. Gesucht würden Pflegeeltern,
       die die elterliche Fürsorge für diese Kinder übernähmen.
       
       Die dort angegebene Kontaktnummer war dauerbesetzt. Doch auf Facebook waren
       weitere Nummern zu finden. „Der Aufruf war gut gemeint, aber
       missverständlich formuliert von einer Person, die ihre Hilfe angeboten
       hat“, sagt Natalie Ihl, eine der Gründerinnen des bundesweit aktiven
       Vereins „Lebenschancen für Kinder“. Es habe als Reaktion über 1.000 Anrufe
       bei der angegebenen Kontaktnummer gegeben. Der Verein wurde völlig
       überrannt. „Darunter sind auch Eltern, die richtige Fragen stellen“, sagt
       Ihl. Denn natürlich könne ein Verein nicht Pflegekinder vermitteln. „Das
       macht das Jugendamt.“
       
       Tatsächlich seien am Samstag 47 Personen aus der Gegend von Saporischschia
       [1][nach Hamburg gekommen], und zwar 23 Kinder im Alter von zwei bis 15
       Jahren in Begleitung ihrer Pflegeeltern. „Wir wollten verhindern, dass
       diese Gruppe voneinander getrennt wird“, sagt Ihl, die von Beruf
       Finanzberaterin ist, selbst Russisch spricht und vor 25 Jahren aus
       Kasachstan nach Deutschland kam. Deshalb habe man nun dafür gesorgt, dass
       diese in drei Gruppen in Häusern in der Nähe von Bremen und Hamburg
       unterkamen. „Die Pflegefamilien wurden alle bei den zuständigen
       Jugendämtern gemeldet“, sagt sie.
       
       Der Verein, der etwa 30 Mitglieder hat, teils mit Wurzeln in der Ukraine
       und anderen früheren Sowjetrepubliken, wurde erst am 4. März gegründet. Man
       habe sich zur Aufgabe gemacht, Waisenkinder aus der Ukraine zu evakuieren
       und in verschiedenen deutschen Städten unterzubringen, heißt es im
       Erstaufruf. Dort steht auch: „Sind Sie bereit Kinder bei sich aufzunehmen?“
       Und das Angebot, Kontaktdaten zu schicken.
       
       ## Über 700 Hilfsangebote in Region Hannover
       
       Nur können Pflegeeltern, die mit einem Kind nicht verwandt sind, erst nach
       einer strengen [2][Prüfung durch das Jugendamt] Kinder aufnehmen. Das sei
       dem Verein bewusst, sagt Ihl. „Wir sagen den Leuten, die Kinder aufnehmen
       wollen, sie sollen sich bei ihrem Jugendamt vor Ort melden.“ Als zweite
       Möglichkeit biete der Verein den Menschen an, einen Fragebogen auszufüllen,
       den der Verein an das Landesjugendamt Bremen weiterleite.
       
       „Wir sehen uns als Unterstützung bei der Vermittlung zwischen Pflegeeltern
       und Jugendamt.“ Ferner sammelt der Verein Spenden, mit denen die Kinder
       unterstützt werden sollen. Man habe Kontakt zu weiteren Pflegeeltern mit
       Kindern in der Ukraine, die, sobald es möglich wird, nach Deutschland
       kommen möchten.
       
       Die Hilfsbereitschaft ist derzeit groß, diese Erfahrung machte auch die
       Region Hannover, in der bereits rund 7.500 Menschen mit ukrainischer
       Staatsbürgerschaft leben. Schon am 4. März hatte der dortige
       Pflegekinderdienst eine [3][eigene Kontaktadresse für Menschen
       eingerichtet], die bereit wären, allein reisende Kinder und Jugendliche aus
       der Ukraine bei sich aufzunehmen, und sie öffentlich bekannt gegeben.
       
       Die Reaktionen seien enorm gewesen, sagt Sprecherin Sonja Wendt. Am ersten
       Wochenende seien über 700 Angebote eingegangen. Nun sei die Situation aber
       bislang anders als in der Flüchtlingskrise 2015/16, als es viele
       unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gab. Aus der Ukraine kämen die
       Kinder und Jugendlichen bisher in der Regel in Begleitung von Erwachsenen.
       „Die Hilfsbereitschaft ist toll, aber momentan gehen wir davon aus, dass
       wir sie nicht in Anspruch nehmen müssen.“
       
       ## Jugendamt muss wissen, wo die Kinder sind
       
       „Unbegleitete Minderjährige aus der Ukraine gibt es auf jeden Fall“, sagt
       hingegen Hellen Sundermeyer vom [4][Bundesfachverband für unbegleitete
       minderjährige Flüchtlinge]. Dies sei aber je nach Bundesland
       unterschiedlich häufig der Fall. So kämen in Berlin mehr junge Menschen an,
       die von dort auch nicht weiterverteilt werden.
       
       Es kämen auch Kinder in Begleitung Erwachsener, bei denen unklar ist, wer
       das Sorgerecht hat. Und es gebe auch Eltern, die ihre Kinder zu Freunden in
       Deutschland schicken. Das sei zunächst für acht Wochen ohne „detaillierte
       Kontrolle“ des Jugendamtes möglich. Auch da müsse das Amt davon wissen und
       sich überzeugen können, dass es ein guter Ort ist.
       
       Die Bremer Sozialbehörde bestätigte auf Nachfrage, dass ihr Landesjugendamt
       mit „Lebenschancen für Kinder“ im Kontakt steht. „Es ist außerordentlich
       begrüßenswert, wenn der Verein das Ziel hat, Waisenkindern aus der Ukraine
       zu helfen und andere zu zivilgesellschaftlichem Engagement aufruft“, sagte
       Sprecherin Gabriele Brünings. Der Verein sei jedoch kein Träger der
       Jugendhilfe. Insofern entfalte er seine Aktivitäten selber und nicht in
       Absprache mit dem Landesjugendamt. „Sobald die jungen Menschen in Bremen
       seien, kümmere sich das zuständige Jugendamt um sie.“
       
       Der Sprecher der Hamburger Sozialbehörde, Martin Helfrich, sagt, Aufrufe,
       in denen Organisationen vermeintliche Plätze für die Aufnahme ausländischer
       Kinder suchen, seien nicht seriös. Sofern die Kinder nach Deutschland
       kommen, gelten [5][die Regeln der Jugendhilfe nach deutschem Recht].
       Kinder, die ohne ihre Eltern, aber mit Verwandten dritten Grades wie Onkel
       oder Tante einreisen, könnten im Wege der „erlaubnisfreien
       Verwandtenpflege“ von diesen betreut und vertreten werden.
       
       ## Neue Pflegeeltern müssen sich erst qualifizieren
       
       Auch Kinder, die anderen Personen wie Nachbarn oder Bekannten anvertraut
       wurden, könnten bei diesen verbleiben. „Dafür ist es sinnvoll, dass die
       Übertragung der Erziehungsberechtigung schriftlich festgehalten wurde“,
       sagt Helfrich. Auf dieser Grundlage könne nach einer – in der Regel raschen
       – Überprüfung beim „Fachdienst Flüchtlinge“ die Erziehungsberechtigung für
       einen begrenzten Zeitraum wahrgenommen werden. „Alle Pflegepersonen, die
       nicht mit dem Kind bis zum dritten Grad verwandt sind, werden auf diese
       Weise überprüft“, sagt der Behördensprecher.
       
       Alle anderen Personen, die ein Kind aufnehmen möchten, müssten sich als
       „Pflegestelle“ qualifizieren. Hier werde auch in der jetzigen Situation
       nicht von „Mindeststandards“ abgewichen.
       
       In Hamburg finden die dafür erforderlichen zwei Vorbereitungsseminare im
       Umfang von jeweils 15 Stunden bei der [6][Hamburger Pflegeelternschule
       „Pfiff“ statt]. „Für Menschen, die sich dafür interessieren und wissen
       möchten, was Pflegeeltern sein bedeutet, bieten wir regelmäßig
       Informationsabende an“, sagt der Sprecher der Hamburger Pflegekinderhilfe
       Ralf Portugal.
       
       25 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Folgen-des-Ukrainekriegs/!5840102
   DIR [2] /Archiv-Suche/!5225079&s=Pflegekinder+Regeln&SuchRahmen=Print/
   DIR [3] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Aufnahme-von-gefluechteten-Kindern-Jugendamt-kontaktieren,gefluechtete230.html
   DIR [4] https://b-umf.de/
   DIR [5] https://www.hamburg.de/kinder-ohne-eltern/
   DIR [6] https://www.pflegefamilie-werden.info/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
       ## TAGS
       
   DIR Ukraine
   DIR Jugendhilfe
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Hamburg
   DIR Bremen
   DIR Minderjährige Geflüchtete
   DIR Kinderrechte
   DIR Minderjährige Geflüchtete
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Hamburg
   DIR Sozialbehörde Hamburg
   DIR Kolumne Krieg und Frieden
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Pflege
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Gerichtsentscheid zu Pflegefamilien: Eltern zweiter Klasse
       
       Das Bundesverfassungsgericht hat keine Bedenken gegen den Transfer eines
       Pflegekindes in eine geeignetere Familie. Das Thema ist höchst umstritten.
       
   DIR Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Kindeswohl bleibt auf der Strecke
       
       Monatelang ohne Schule, kaum Betreuung, zu wenig Essen: Experten
       kritisieren mangelhafte Versorgung unbegleiteter minderjähriger
       Geflüchteter.
       
   DIR Kriegsangst und Weltschmerz: Nur Handeln hilft
       
       Wir müssen versuchen, unser Umfeld aktiv und positiv zu gestalten. Das
       scheint mir sicherer, als unsere Angst mit Vorräten zu nähren.
       
   DIR Flüchtlingsunterkünfte in Hotels: Comeback der Ehemaligen
       
       In Hamburg haben Catering-Unternehmen im Auftrag der Stadt zwei ehemalige
       Hotels zu Flüchtlingsunterkünften umgebaut. Es herrscht Aufbruchsstimmung.
       
   DIR Platz für Ukraine-Flüchtlinge: Bürgerverträge auf Eis gelegt
       
       Damit Hamburg schnell mehr Geflüchtete unterbringen kann, wurden die
       Vereinbarungen mit Bürgern zum Platzabbau ausgesetzt. Zunächst für ein
       Jahr.
       
   DIR Sprechen über Krieg und Frieden: „Wenn alle zusammenstehen“
       
       Wie soll man Kindern den Krieg erklären? Unserer Autorin fällt nur ihre
       Definition von Frieden ein. Trotzdem versucht sie, die richtigen Worte zu
       finden.
       
   DIR Leihmütter in der Ukraine: Deutschlands exportiertes Dilemma
       
       Schwangere Leihmütter sollen in der Ukraine bleiben, Babys liegen in
       Luftschutzbunkern. Eine Situation, an der auch Deutschland eine Mitschuld
       trägt.
       
   DIR Protest gegen fehlende Absicherung: Ersatz-Eltern wehren sich
       
       Eine Mutter, die Kinder in Bereitschaftspflege betreut, startet eine
       Online-Petition für faire Bedingungen: Ihr Job ist nicht sozialversichert.