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       # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Ruhe im Heulen der Sirenen
       
       > Die ukrainische Stadt Dnipro nimmt gerade viele Landsleute auf, die aus
       > umkämpfteren Gebieten geflüchtet sind. Die Lage ist entspannter – noch.
       
   IMG Bild: Fast friedlich: Nur die Fahnen zeugen auf diesem Bild vom Ausnahmezustand. Dnipro am 21. März
       
       Dnipro taz | Von [1][Mariupol] bis Dnipro sind es 350 Kilometer. Heute
       verbindet die Straße zwischen den beiden Städten zwei Welten, die durch den
       Krieg getrennt wurden. In den letzten Tagen hat Dnipro (bis 2016 hieß die
       Stadt Dnipropetrowsk, Anm. d. Redaktion) mehrere Tausend Flüchtlinge aus
       Mariupol, Wolnowacha, Sewerodonezk und Wuhledar aufgenommen und sich in
       einen großen Umschlagplatz für unglückliche, kriegsmüde Menschen
       verwandelt. Sie haben es geschafft, einer wirklichen Hölle zu entkommen, in
       die sich ihre Heimatstädte verwandelt haben. Und sie wollen von hier aus
       weiter – nach Westen.
       
       „Wir sind am 15. März aus Mariupol losgefahren. Bis Saporischschja haben
       wir lange 14 Stunden gebraucht. Dort haben wir übernachtet, dann sind wir
       weiter Richtung Dnipro gefahren“, erzählt Olga Gorbatschenko. Sie hat mit
       ihrer sechsjährigen Tochter fast drei Wochen unter Beschuss verbracht. Noch
       heute zuckt sie bei jedem scharfen Geräusch zusammen, etwa wenn eine Tür
       laut zugeschlagen wird oder ein Auto schnell anfährt.
       
       „Wir wurden im Freiwilligenhauptquartier von Dnipro sehr freundlich
       empfangen. Man hat uns erst einmal etwas zu essen angeboten. Aber das
       wichtigste war, dass man uns eine Schlafmöglichkeit in einer alten Pension
       zur Verfügung gestellt hat. Fünf Tage können wir dort kostenlos bleiben.
       Aber ich glaube, wir halten das gar nicht aus und fahren weiter – nach
       Westen. Verstehen Sie, ich weiß ja gar nicht genau, ob der Krieg bis Dnipro
       kommen wird oder nicht. Ich möchte kein Risiko mehr eingehen. Noch ein
       zweites Mal möchte ich nicht erleben, [2][was ich in Mariupol erlebt habe,]
       ich kann einfach nicht mehr.“
       
       Dieser Meinung sind viele, die heute das relativ ruhige, fast friedliche
       Dnipro erreichen. Die Stadt ist jetzt ein Transitpunkt zwischen dem
       lodernden Osten und dem zur Zeit noch friedlichen Westen der Ukraine. „Wir
       nehmen Tausende Flüchtlinge pro Tag auf. Und wir sind darauf vorbereitet“,
       erzählt der Leiter der Territorialverteidigung von Dnipro, Gennadi Korban.
       „Wir haben das Chaos an den Bahnhöfen gemeistert. Jetzt läuft der Prozess
       der Weiterfahrten organisiert ab.“
       
       ## Plötzlich Panik
       
       Am 11. März war am Bahnhof von Dnipro plötzlich Panik ausgebrochen. An
       diesem Tag hatten die russischen Aggressoren am frühen Morgen den Flughafen
       von Dnipro angegriffen. Auch in eine Schuhfabrik waren Raketen
       eingeschlagen. Das war der erste Raketenangriff auf die Stadt. Und die
       Einwohner Dnipros, die auf so eine Entwicklung nicht vorbereitet waren,
       eilten zum Bahnhof, Menschenmassen verließen die Stadt.
       
       Die Panik hat sich wieder gelegt. [3][Und zusätzliche Züge nach Westen],
       deren Zahl mehrfach dringend aufgestockt werden musste, sind jetzt nicht
       mehr gefragt. Die meisten von ihnen wurden bereits wieder gestrichen, und
       zur Zeit fahren nur zwei Züge von Dnipro nach Westen – nach Chop (Stadt im
       Südwesten, im Dreiländereck Ukraine, Ungarn und der Slowakei, Anm. d.
       Redaktion) und nach Chełm (poln. Stadt zwischen der ukrainischen Grenze und
       Lublin, Anm. der Redaktion).
       
       Generell sind die Menschen in Dnipro eher ruhigere Ukrainer. Man kann sogar
       sagen sorglose. Sie reagieren nicht auf das Heulen der Sirenen. Sie
       beschleunigen dann nicht ihre Schritte. Sie rennen nicht zu Schutzräumen.
       Auf den Spielplätzen spielen die Kinder bei Sirenengeheul ruhig weiter. Die
       Flüchtlinge aus Mariupol – und davon gibt es mittlerweile viele in Dnipro –
       erkennt man vor diesem Hintergrund schon von Weitem. Sobald sie Sirenen
       hören, gehen sie zum Beispiel in den nächsten Supermarkt und fragen, wo
       hier ein Keller sei. Die Menschen aus Dnipro reagieren auf diese „Nervösen“
       bislang mit Unverständnis. Man will ihnen nur wünschen, dass sie nicht in
       die Situation kommen, in der sie ihre Verhaltensmuster ändern müssen.
       
       Die Einheimischen sagen, dass bisher nicht so viele Menschen die Stadt
       verlassen haben, wie zu erwarten gewesen wäre. Gerüchten zufolge sind auch
       der Oligarch Wiktor Pintschuk und andere Vertreter der Business-Elite des
       Landes in Dnipro geblieben. Und dies ist nicht der einzige Faktor, der den
       Menschen in Dnipro ein Gefühl der Sicherheit gibt.
       
       „Ich glaube, es sind vor allem Vertreter der Mittelklasse weggegangen.
       Einige haben ihre Geschäfte abgewickelt und sich entschieden, den Krieg an
       sicheren Orten im Westen abzuwarten. Einige sind in die umliegenden Dörfer
       entlang des Flusses Dnipro gefahren, in der Hoffnung, dass es dort weniger
       gefährlich ist“, sagt Pjotr aus Dnipro. „Die Menschen hier haben den Krieg
       noch nicht gesehen und darum möchten sie nur sehr ungern ihre Häuser und
       Wohnungen verlassen. Meine reiche Nachbarin wollte auch lange nicht weg.
       Ich habe sie dann überzeugt, doch zu gehen. [4][Denn die Erfahrung aus
       Mariupol lehrt], dass es besser ist, auf Nummer sicher zu gehen, und sich
       nicht in eine Situation zu bringen, in der es einfach nicht mehr möglich
       ist, wegzugehen.“
       
       Pjotr selber will noch nicht weg. Seine Familie ist in Sicherheit und er
       hat hier einen Job. Und hofft, dass der Krieg nicht bis Dnipro kommt. Viele
       in der Stadt denken wie er. Swetlana hatte Dnipro Ende Februar verlassen
       und war nach Chmelnizki (in der Westukraine, Anm. d. Redaktion) zu ihrer
       Schwiegermutter gefahren. Aber jetzt ist sie zurück. „Am Anfang habe ich
       mich von der allgemeinen Panik anstecken lassen“, erzählt sie, „aber dann
       saß ich in Chmelnizki und dachte: Hier braucht mich niemand, ich habe keine
       Arbeit. In Dnipro habe ich einen Job und ruhig ist es dort auch. Ich hoffe,
       dass das so bleibt. Warum sitze ich hier und störe nur? Tja, und jetzt bin
       ich zurück“.
       
       Olga glaubt an die Stärke der städtischen Verteidigung. „Wir haben hier so
       eine tolle Verteidigung, einfach wow! Sie haben alle Brücken über den
       Dnipro vermint. Die Territorialverteidigung ist motiviert. Wir haben auch
       die Fremdenlegion hier. Und auch eine Flugabwehr. Nein, hier kommen die
       Russen nicht her“, ist sie überzeugt, und wiederholt damit, was der
       Bürgermeister der Stadt, Borys Filatow, fast jeden Tag in seinen
       Lagebesprechungen sagt.
       
       ## Cafés und Restaurants geöffnet
       
       Dieser hatte wirklich Zeit, sich auf die Verteidigung der Stadt
       vorzubereiten, im Gegensatz zum Stadtoberhaupt von Mariupol. Aus der
       traurigen Erfahrung des Amtskollegen hat er gelernt und kümmert sich jetzt
       in Dnipro aktiv darum, dass die Stadt Lebensmittel- und Trinkwasservorräte
       für den Blockadefall hat und Luftschutzräume einrichtet. „Die ganze Stadt –
       die politischen Machthaber, die Wirtschaft und die Bürger – arbeiten
       zusammen an der Verteidigung Dnipros. Unsere Stadt steht unter dem Schutz
       der ukrainischen Armee und der Territorialverteidigung“, wiederholt Filatow
       jeden Tag wie ein Mantra. Und die Leute glauben ihm.
       
       Die Geschäftsleute, die am 24. Februar in einer Welle von Panik massenhaft
       ihre Läden, Bars und Unternehmen geschlossen hatten, sind zurück. Alle
       großen Unternehmen außer ArcelorMittal (internationaler Stahlkonzern, Anm.
       d. Redaktion) haben den Betrieb wieder aufgenommen, sagt Walentin
       Resnitschenko, der Chef der Dniproer Gebietsverwaltung.
       
       In Dnipro haben Supermärkte, Einkaufszentren, Kosmetiksalons, Sportstudios,
       Cafés und Restaurants geöffnet. Natürlich nicht so wie vor dem Krieg.
       Einige Ladeninhaber haben ihre Geschäfte geschlossen und die Stadt
       verlassen. Aber die meisten Geschäfte sind offen. Und nur Sandsäcke und die
       zum Teil mit Sperrholz vernagelten Fenster deuten darauf hin, dass der
       Krieg nahe ist. Der Atem der Stadt wird kühler, aber noch ist er nicht
       „gefroren“.
       
       Die Stadt ist das sichere Hinterland der Ukraine. Und gebe Gott, dass dies
       auch weiterhin so sein wird.
       
       Aus dem Russischen von [5][Gaby Coldewey]
       
       24 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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