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       # taz.de -- Über Kleidung und soziale Klasse: Das Dilemma mit der Jeans
       
       > Ständig passiert es, die Jeans reißt im Schritt. Eine gute Lösung gibt es
       > nicht. Doch lieber flicken, als neu kaufen, findet unser Autor.
       
   IMG Bild: Modische Emanzipation von den Eltern beginnt mit Streit darüber, was sie einem zum Anziehen geben
       
       Letztens ist sie schon wieder gerissen. Da, wo sie immer reißt. Im Schritt.
       Ich weiß nicht, wie viele Jeans ich so schon verloren habe. Ich weiß auch
       nicht, warum sie immer genau an dieser Stelle reißen. Einmal dachte ich,
       ich hätte eine Lösung gefunden. Da bin ich zu einem Schneider um die Ecke
       gegangen.
       
       Er hat geschmunzelt und mir eine fremde Jeans ins Gesicht gehalten, deren
       Schritt er zugenäht hatte. Weil der Schneider ein ehrlicher Schneider ist,
       sagte er, dass das vermutlich nicht lange halten werde, dass er das den
       Leuten immer wieder sage, dass manche trotzdem immer wieder mit derselben
       Jeans zu ihm kämen. Vielleicht liege es an der emotionalen Verbindung der
       Jeansträger zu ihren Jeans, so seine Vermutung.
       
       Auch ich überreichte ihm dann zwei Jeans. Er flickte sie zusammen. Und
       beide rissen ein paar Monate später wieder an denselben Stellen. Jetzt
       liegen sie in einer Kommode, und irgendwas in mir treibt mich wider
       jegliche Vernunft wieder zu dem netten Schneider. Weil ich die Jeans nicht
       wegwerfen kann.
       
       Weil ich Kleidung wegschmeißen fast genauso schlimm finde [1][wie Essen
       wegschmeißen]. („Was? Du kannst nicht mehr? Okay, komm, dann ess ich’s
       auf.“) Dabei ist mir überhaupt nicht egal, was ich trage. Kleidung begreife
       ich nicht als etwas vor allem Funktionales, wie sie meine Eltern begriffen,
       als sie noch die Hoheit über mein Outfit hatten: Hauptsache billig und
       halbwegs ordentliche Qualität. Meine modische Emanzipation von ihnen fing
       mit pubertären Streiten darüber an, was ich von ihnen zum Anziehen bekam.
       Ich hatte Ausdauer.
       
       ## Diffuse Schuld beim Kaufen
       
       So habe ich die Jeans von der teuren Skatermarke, die ich heute hässlich
       finde, auch irgendwann bekommen. Ich habe sie dann mit Scham getragen, weil
       ich natürlich wusste, dass es bei dem Modestreit nicht um Konvention oder
       Geschmack, sondern vor allem um Geld ging. Die erste Hose, die ich mit
       meinem eigenen Geld gekauft habe, hat sich ganz anders getragen. Klamotten
       zu kaufen, die ich schön finde, auch wenn sie ein bisschen was kosten, das
       war Teil meiner Klassenreise. Vor ein paar Jahren bin ich mit meinem Vater
       ungeplant in einem Klamottenladen gelandet. Im Schaufenster hing ein sehr
       schönes hellblaues Hemd. Drinnen habe ich es mir vor die Brust gehalten und
       ihn gefragt, ob er es auch schön findet. Er fand es: zu teuer.
       
       Man bekommt Menschen aus [2][ihrer Herkunftsklasse raus, aber die Klasse
       nie ganz aus ihnen]. Deshalb fühle ich bis heute eine diffuse Schuld, wenn
       ich Kleidung einkaufe. Hübsche und elegante Hemden zu tragen war schon im
       Studium Teil meines neuen Selbstbewusstseins. Diese Hemden zu kaufen ist
       mir aber intuitiv immer noch eine Qual. Bei Hosen ist es nicht anders.
       Deshalb werde ich wieder zum Schneider gehen. Von dem Geld, das du fürs
       Flicken ausgegeben hast, hättest du dir viele neue Hosen kaufen können,
       wird er sagen. Ich werde etwas hilflos nicken und schnell das
       Gesprächsthema wechseln.
       
       25 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Ağar
       
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