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       # taz.de -- Tuberkulose muss nicht tödlich sein: Neue Medikamente
       
       > In Westeuropa ist die Infektionskrankheit Tuberkulose selten geworden,
       > doch in anderen Teilen der Welt wird sie zu einem immer größeren Problem.
       
   IMG Bild: Der Lungenmediziner Vikas Oswal in seiner Klinik in Mumbai
       
       Mumbai taz | In den Morgenstunden ist die Ambulanz Nummer acht der
       städtischen Shatabdi-Klinik im Osten Mumbais rege besucht. Menschen stehen
       mit Tüten in der Hand in der Schlange. Oft stecken darin Röntgenbilder, die
       sie zum Krankenhausanbau tragen. Dieser befindet sich im Freien, lediglich
       die Container mit den Sprechzimmern und die Wartehalle mit Ventilatoren
       sind überdeckt. Denn gute Durchlüftung ist hier, wo Tuberkulose behandelt
       wird, besonders wichtig.
       
       Vor dem Eingang hängt ein Poster mit einem freundlichen älteren Mann, der
       eine auffällige Brille trägt und eine Botschaft hat: Mit einer geregelten
       Behandlung ist Tuberkulose (TB) heilbar. Zu sehen ist Amitabh Bachchan,
       einer der bestbezahlten Schauspieler Indiens, doch vielmehr teilt er ein
       Schicksal mit vielen anderen Inder:innen: Er wurde mit der
       Infektionskrankheit, die sich über feine Tröpfchen in der Luft verbreiten,
       diagnostiziert. Jedes Jahr erkranken weltweit etwa 10 Millionen Menschen an
       einer Tuberkulose. Für 1,5 Millionen verläuft sie tödlich.
       
       Auf Indien entfallen etwa ein Viertel aller TB-Neuinfektionen. Latente
       Tuberkulose (LTBI) ist dabei in Indien weit verbreitet. Millionen von
       Menschen tragen auf dem Subkontinent den Haupterreger, Mycobacterium
       tuberculosis, in sich. Aktiv wird die Tuberkulose aber nicht bei jedem und
       auch nicht sofort. Bis zu einem Ausbruch können Jahre vergehen. Faktoren
       wie Mangelernährung, Luftverschmutzung oder Co-Infektionen wie HIV/AIDS,
       Diabetes oder Sars-CoV-2 haben ebenfalls ihren Einfluss auf den
       Krankheitsverlauf.
       
       Die Millionenstadt Mumbai im Westen Indien ist vieles, auch
       Welt-Tuberkulose-Hauptstadt. Zwar sind die Infektionszahlen hoch, was auch
       an der hohen Bevölkerungsdichte liegt. Davon betroffen sind unter anderem
       Migrant:innen, die in dicht besiedelten Gegenden leben, und zwischen
       Land und Stadt pendeln. Doch seit 2016 haben sich die Diagnose und
       Versorgung immens verbessert. Die Zusammenarbeit zwischen Stadt, privaten
       Akteuren und NGOs stärkt den Kampf gegen Tuberkulose, [1][die
       multiresistente Formen] zum Vorschein gebracht hat.
       
       Der Lungenmediziner Vikas Oswal behandelt seit Jahren TB-Patienten.
       Freitags ist er in einem der hellen Räume der städtischen Shatabdi-Ambulanz
       anzutreffen. Hier wird jeder kostenfrei versorgt. Bei einer aktiven
       Tuberkulose ist oft die Lunge betroffen. Das Begutachten von
       Thorax-Röntgenbildern gehört zur Routine. Tuberkulose kann aber auch Organe
       wie das zentrale Nervensystem oder die Lymphknoten befallen. Bei zwei noch
       sehr jungen Patient:innen, dessen Onkel an einer medikamentenresistenten
       Tuberkulose starb, tastet Oswal deshalb den Hals ab.
       
       ## Früher Resistenzen wenig beachtet
       
       Seit zwei Jahren steigen zudem die Fälle unter Frauen, besonders die
       mehrere Kindern bekommen haben. Tuberkulose bricht dann aus, wenn das
       Immunsystem geschwächt ist. Frauen sind traditionell, die Versorgenden, die
       sich um Kranke kümmern und wenig das Haus verlassen. Dass TB vor allem
       ältere Menschen betrifft, ist eher ein Problem in Westeuropa. Oswal
       begegnet oft schweren Verläufen, denn die Shatabdi-Ambulanz ist auf
       medikamentenresistente Tuberkulose, die sogenannte MDR spezialisiert. Es
       war kein leichter Weg, doch mit viel Überzeugungsarbeit konnte er mit
       seiner städtischen Kollegin Shubhangi Marker die Ambulanz aufbauen. Denn
       zunächst war das Ausmaß an Antibiotika-Resistenzen wenig beachtet.
       
       „Ich habe viel in Slums gearbeitet“, sagt der 38-Jährige. Anfangs hatte
       Mumbai nur ein spezialisiertes Krankenhaus im Süden der Stadt. Patienten
       mussten nicht nur weit reisen, sondern auch lange auf Termine warten.
       Spezielle Tests wurden kaum durchgeführt, da diese bei privaten
       Einrichtungen manchmal einen halben oder gar einen ganzen Monatslohn für
       einfache Arbeiter:innen kosten. In Shatabdi sind sie kostenlos.
       
       Das verzögert die Diagnose unnötig, sagt der Arzt. „Medikamente wurden
       teilweise auf Versuchsgrundlage verschrieben“, Familien verschuldeten sich,
       da sich nicht in öffentliche Zentren gingen. Doch vieles änderte sich. Ein
       Stück dazu hat die Shatabdi-Ambulanz und ihr Ruf beigetragen, die seit 2016
       im Vollbetrieb ist und zum Vorzeigemodell wurde. Der niedergelassene Arzt
       ist Teil der öffentlich-privaten-Partnerschaft. Ärzte ohne Grenzen (MSF)
       unterstützen das Projekt.
       
       Die Zahl der jährlichen Diagnosen in Mumbai hat sich von 2017 (mit 34.021)
       auf 2019 (60.428) fast verdoppelt. Allerdings verbreiten sich
       multiresistente Stämme (MDR-TB) bereits innerhalb von Familien, Wohnblöcken
       und Vierteln. Es kamen unbehandelte Personen in die Ambulanz, bei denen
       sich bereits Resistenzen gegen Antibiotika entwickelt haben, schildert
       Oswal.
       
       Es muss zu Fehldiagnosen und unnötigen Verschreibungen von Antibiotika
       gekommen sein, so erklärt Oswal, wie sich Resistenzen überhaupt erst
       entwickeln konnten. Ausgelöst werden sie zudem durch zu kurze oder
       abgebrochene Therapien, immer dann, wenn nicht alle Bakterien abgetötet
       werden. [2][Das wurde durch Corona-Lockdowns intensiviert und traf
       besonders Wanderarbeiter:innen,] die in Eile – ohne Medikamentenreserve –
       die Stadt verließen.
       
       Nach einem Einbruch in der Diagnose sind die Fälle fast wieder auf ein
       Niveau wie vor der Pandemie gestiegen. Das ist ein gutes Zeichen, denn nur
       wer diagnostiziert und richtig behandelt wird, kann dazu beitragen,
       Tuberkulose zu eliminieren. Gleichzeitig sind die MDR-Fälle, leicht
       gestiegen. Etwa 10 Prozent aller Fälle in der Metropole sind entweder
       „multiresistent“ oder „extrem resistent“. Für ihre Behandlung braucht es
       Zweitlinienmedikamente, die teils hohe Nebenwirkungen haben. Das gilt vor
       allem für ältere Kombinationen, die injizierbar sind. Zu den neuen und
       besser verträglichen Präparaten in Tablettenform gehört Bedaquilin, das
       eine hohe Heilungsrate von MDR-Patient:innen garantiert, das bestätigt die
       städtische TB-Beauftrage Pranita Tipre.
       
       ## Medikamente sind zu teuer
       
       Nach fast einem halben Jahrzehnt gilt Bedaquilin als Durchbruch. Eine
       vielversprechende Kombination stellt es mit dem Antibiotikum Delamanid dar.
       Beide sind allerdings für Indien mit – 360 Euro für 6 Monate
       beziehungsweise 1.550 Euro für Delamanid teuer – im Einkauf für Indien. MSF
       fuhr bereits eine Kampagne, um die Pharmahersteller dazu zu bewegen, die
       Kosten zu reduzieren. Bisher gab es eine [3][Preisminderung] bei Johnson &
       Johnson für Bedaquilin. Die sei aber nicht ausreichen, so die
       Hilfsorganisation.
       
       Dass TB weiterhin eine globale Herausforderung ist, daran erinnerte
       kürzlich der US-Epidemiologe Anthony Fauci. Der Krieg in der Ukraine könne
       zu einem „verheerenden“ Tuberkuloseproblem führen, warnte er. Denn Flucht
       und Vertreibung machen Menschen anfällig.
       
       Der Würzburger Infektiologe Professor August Stich plädiert für ein
       solidarisches Handeln: „MDR-TB ist ein globales Problem, das wir auch nur
       durch einen globalen Einsatz eindämmen können. Die Zunahme antimikrobieller
       Resistenzen in anderen Kontinenten darf uns in Deutschland nicht egal
       sein.“ Jedem Menschen stehe das Recht auf eine medizinische Behandlung zu.
       
       Anders als bei einigen Corona-Arzneien wie dem Impfstoff von Moderna gibt
       es bisher keine Freigabe für die Herstellung der Antibiotika Bedaquilin
       (Johnson & Johnson) und Delamanid (Otsuka/Mylan). Es sind
       entwicklungsintensive Therapeutika mit seltener Anwendung. In Europa gelten
       sie als „Orphan-Arzneien“. Damit steht den Herstellern ein zehnjähriges
       Exklusivrecht ab Marktzulassung zu – und eventuell darüber hinaus.
       
       Mediziner wie Oswal hoffen dagegen auf den neuen Wirkstoff Pretomanid, dem
       dritten nach knapp 50 Jahren. Zum Ende des Jahres begann unter anderem in
       Shatabdi eine neue klinische Studie, die das Medikament in Kombination mit
       Bedaquilin und Linezolid kurz: BPaL testet. Bisher sehen die Ergebnisse
       vielversprechend aus, sagt Oswal.
       
       Der Vorteil von Pretomanid liegt unter anderem daran, dass das Medikament
       nicht von einem Pharmariesen, sondern im Auftrag der gemeinnützigen
       Organisation TB-Alliance entwickelt wurde. Doch für handfeste Daten aus
       Indien wird es noch ein bisschen dauern.
       
       Die Recherche wurde vom Security Health Fund des European Journalism Center
       und der Bill & Melinda Gates-Stiftung unterstützt.
       
       24 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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