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       # taz.de -- Tagebuch eines Schriftstellers: „Denk mit einem Lächeln an mich“
       
       > Andrej Kurkow schreibt Romane über die Ukraine und Russland. In seinem
       > Tagebuch erzählt er nun von einer Flucht durch den Westen des Landes.
       
   IMG Bild: Auf dem Überland-Busbahnhof in Kiew/Kyjiw am 24.  2.  2022
       
       Vor der Invasion 
       
       Es ist noch nicht lange her, da scherzte ein Freund mit mir über die
       Wettervorhersage für Kiew. „Morgen wird es überwiegend bewölkt, mit
       sonnigen Abschnitten und leichtem Ostwind“, sagte er. „Die
       Wahrscheinlichkeit einer russischen Invasion liegt bei 35 Prozent.“ (…)
       
       Meine Mutter erzählte mir, als ich noch ein Junge war, wie sie am Morgen
       des 22. Juni 1941, dem Tag des Naziangriffs auf die Sowjetunion, mit ihren
       Eltern in einem baufälligen Holzboot den Fluss Wolchow überquerte. Ihr
       Vater war auf dem Weg an die Front. Sie hat ihn nie wiedergesehen.
       
       Heute frage ich mich, ob sie diesen Krieg kommen sahen. Haben sie im
       Vorfeld auch so gelebt wie ich und meine ukrainischen Landsleute heute,
       in einem Wechselbad der Gefühle? Haben sie auch nach Westen geschaut, so
       wie wir nach Osten geschaut haben, und sich gefragt: Wird er angreifen?
       Gingen sie dabei auch ganz normal ihrem Leben nach? (…)
       
       ## War ein Exodus im Gange?
       
       Es war Ende Februar, als ich bemerkte, dass die Straßen bei meinen
       regelmäßigen Nachmittagsspaziergängen seltsam ruhig waren. Das machte mich
       stutzig: War da ein Exodus im Gange? (…) Ich sprach mit meinen europäischen
       Diplomatenfreunden darüber. Würde er es wirklich tun? Würde er
       einmarschieren?
       
       Nein, sagten sie, Wladimir Putin plane etwas in den besetzten Gebieten in
       der Ostukraine, aber es gäbe keinen Grund, einen umfassenden Angriff zu
       befürchten. Und so zuckten wir mit den Schultern, als meine Frau Elizabeth,
       die Britin ist, eine E-Mail vom Auswärtigen Amt erhielt, in der es hieß,
       sie solle erwägen, das Land zu verlassen, solange noch kommerzielle Flüge
       verfügbar seien. (…)
       
       Am Abend des 23. Februar saßen wir mit Freunden an unserem Esstisch im
       Zentrum Kiews. Wir scherzten, ob dies unsere letzte Mahlzeit hier sein
       würde. Die Journalisten am Tisch lachten nicht, denn sie hatten gehört,
       dass der Krieg kommen würde. Er würde in der Nacht beginnen. Sie hatten
       recht.
       
       Donnerstag, 24. Februar 
       
       Die ersten russischen Angriffe rund um Kiew erfolgten gegen 5 Uhr. Meine
       Frau und ich wurden von Explosionen geweckt; es waren drei. Dann, eine
       Stunde später, zwei weitere, gefolgt von den letzten kostbaren Momenten der
       Stille. (…)
       
       Am Tag vor der Invasion waren unsere Kinder – darunter unsere Tochter, die
       gerade aus London eingeflogen war – mit Freunden in die schöne Stadt
       Lemberg in der Westukraine gefahren. Sie wollten die Cafés, Museen und
       die mittelalterlichen Straßen der Altstadt besuchen.
       
       ## Wehrhafte Verteidiger
       
       Am selben Tag traf ich meinen alten Freund Boris, einen armenischen
       Künstler, der jetzt ukrainischer Staatsbürger ist und seit 30 Jahren mit
       seiner ukrainischen Frau in Kiew lebt. Er sah verwirrt aus. Er leidet seit
       Jahren an Krebs und war gerade nach einer Operation aus dem Krankenhaus
       nach Hause gekommen.
       
       „Wissen Sie, ich habe ein großes Problem mit meinem Gedächtnis“, beklagte
       er sich bei mir. „Nach der letzten Operation habe ich mir eine Waffe
       gekauft, um Kiew zu verteidigen. Aber meine Frau hat mir verboten, sie zu
       Hause aufzubewahren. Ich habe sie einem Freund zur Aufbewahrung gegeben,
       und jetzt weiß ich nicht mehr, welchem Freund. Ich habe alle gefragt.“
       
       Wir lachten, denn Boris hat zu viele Freunde. Halb Kiew liebt ihn, vertraut
       ihm und zählt ihn zu seinen Freunden. (…) Als die Russen uns angriffen,
       fragte ich mich, ob Boris seine Waffe gefunden hat. Ich weiß es immer noch
       nicht. Aber ich bin sicher, dass er irgendwo das Militär unterstützt.
       Vielleicht füllt er Sandsäcke für Barrikaden. Vielleicht hebt er
       Schützengräben aus. (…)
       
       Freitag, 25. Februar 
       
       Am nächsten Tag beschlossen wir, aufs Land zu fliehen, zu unserem Haus in
       Lazarivka, einem Dorf zwischen Kiew und Schytomyr, nahe der polnischen
       Grenze. Es liegt etwa 90 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt
       entfernt. Vor der Abfahrt überprüfte ich Google Maps: Die Ausfahrt von Kiew
       nach Westen war offen. Wir packten ein paar Sachen, holten Lebensmittel aus
       dem Kühlschrank und machten uns auf den Weg.
       
       ## Flüchtende aus Donezk und Luhansk
       
       Putin bewegte sich schneller, als Google Maps sich aktualisierte. Als
       wir die westliche Ausfahrt erreichten, war der Andrang so groß, dass der
       Verkehr stillstand. Ich sah Nummernschilder aus dem ganzen Land, aus
       Dnipro, Saporischschja, Charkiw, sogar aus den östlichen Städten Donezk und
       Luhansk. Diese Fahrer mussten mindestens zwei Tage lang unterwegs gewesen
       sein. Man sah es an ihren blassen Gesichtern, an ihren müden Augen, an der
       Art, wie sie ihr Auto fuhren. (…)
       
       Von unterwegs rief meine Frau ihre Freundin Lena an, eine Musiklehrerin an
       der Kiewer Kunstschule, und fragte, ob sie mit uns fliehen wolle. Lena (…)
       brauchte einige Augenblicke, bevor sie sich entschied, mit ihrem Sohn
       mitzukommen. (…)
       
       Die Fahrt nach Lazarivka dauert normalerweise etwa eine Stunde, an diesem
       Tag waren es viereinhalb. Fast alle fuhren auf der linken Seite aus der
       Stadt heraus; auf der rechten Seite der Autobahn waren Militärfahrzeuge in
       beide Richtungen unterwegs. Geschütze, Panzer, mobile Artillerie – sie
       erinnerten uns daran, dass wir uns jetzt im Krieg befanden. Nicht, dass wir
       es vergessen würden. (…)
       
       Zwei ukrainische Kampfjets flogen im Tiefflug über unser Auto. Wir hörten
       Explosionen, die immer lauter wurden, je weiter wir vorankamen. Der
       Nachrichtensprecher im Radio berichtete von einem Gefecht in Gostomel, etwa
       30 Kilometer nordwestlich von Kiew – da wurde mir klar, wo wir waren:
       Gostomel, in der Nähe des Frachtflughafens.
       
       ## Zerstörung in Gostomel
       
       Dem Radio zufolge waren die Russen dort mit mehr als 30 Hubschraubern
       gelandet. Es war ihnen gelungen, das größte Frachtflugzeug der Welt zu
       zerstören. Das Flugzeug mit dem Namen Mriya oder Dream – der offizielle
       Name war Antonow An-225 – war in den 1980er Jahren in der Kiewer Fabrik des
       sowjetischen Luftfahrtkonstrukteurs Oleg Antonow gebaut worden.
       
       Diese Fabrik war der Grund, warum meine Familie von Leningrad nach Kiew
       gezogen war. Nachdem er die sowjetische Armee verlassen hatte, bekam mein
       Vater dort eine Stelle als Testpilot. Jahrelang wohnten wir in einer
       Wohnung mit Blick auf die Start- und Landebahn – dieselbe Start- und
       Landebahn, die jetzt von russischen Invasoren angegriffen wurde.
       
       Ich schaltete das Radio aus, als wir das Dorf erreichten. Es war friedlich.
       Keine Explosionen, keine Schüsse. (…) In unserem Dorfhaus rief mich ein
       Freund aus Kiew an und fragte, wo wir seien. Ich sagte es ihm. Geh weiter
       nach Westen, warnte er, die Russen sind überall. (…)
       
       Ich schaute nachdenklich auf meinen Schreibtisch. (…) Müssen wir gehen? Ich
       erinnerte mich an die Panzer und Kanonen auf der Autobahn. „Lass uns zu den
       Kindern nach Lemberg fahren“, sagte ich zu meiner Frau. Elizabeth
       verabschiedete sich von den befreundeten Nachbarn. Nina weinte und umarmte
       meine Frau. Ihr Ehemann Tolik stand einfach nur da. Er stützte sich auf
       einen Gehstock. Seine linke Hand zitterte.
       
       Samstag, 26. Februar 
       
       Die 420 Kilometer lange Strecke nach Lwiw dauerte 22 Stunden. Die Autos auf
       der dreispurigen Autobahn fuhren langsam, manchmal blieben sie minutenlang
       stehen. Das Fahren war anstrengend, ich schlief gegen 2 Uhr nachts ein; wir
       mussten auf einer Nebenstraße anhalten. Kurz vor Sonnenaufgang reihten wir
       uns wieder in die Fahrzeugschlange ein und erreichten schließlich am Morgen
       die Stadt. (…)
       
       Wir fanden unsere Kinder desorientiert und traurig vor. Nicht weit von der
       Wohnung entdeckte ich ein Waffengeschäft. Es war noch geschlossen, aber
       eine lange Schlange bildete sich bereits davor. Männer, Jungen, Mädchen –
       alle warteten darauf, dass es öffnete. (…)
       
       ## Abschied per SMS
       
       Dann erhielt ich eine Nachricht von einer Freundin, Swetlana, die noch in
       Kiew war. „Ich verabschiede mich vorsichtshalber. Wir wurden vor
       schrecklichem Beschuss gewarnt. Ich werde in meiner Wohnung bleiben. Ich
       bin es leid, in die Keller zu rennen. Wenn etwas passiert, denk mit einem
       Lächeln an mich!“ (…)
       
       Elizabeth und ich wollten unsere Tochter aus dem Land und in ein Flugzeug
       zurück nach London bringen. Die Einreise nach Polen, das direkt neben
       Lemberg liegt, schien unmöglich; die Wartezeit an der Grenze betrug fünf
       Tage. Stunden nach unserer Ankunft in Lemberg saßen wir also, immer noch
       müde, wieder in unserem Auto und fuhren zur ungarischen Grenze.
       
       [1][Die Fahrt von Lemberg] zur ungarischen Grenze führt über den Teil der
       Karpaten, der sich bis in die Ukraine erstreckt. Es ist eine landschaftlich
       reizvolle Strecke. Die Hotels waren überfüllt, aber ein Bekannter hatte uns
       einen Tipp für eine Skiherberge gegeben, in der vielleicht noch etwas frei
       war. Wir fanden sie und wurden in Schlafsäle geführt, die vorbereitet und
       dann vergessen worden waren; es sah nicht so aus, als hätte dort in letzter
       Zeit jemand gewohnt. (…)
       
       Sonntag, 27. Februar 
       
       Wir brachen früh auf, um unsere Tochter über die ungarische Grenze zu
       bringen. Zum Glück war die Straße noch relativ frei. Um 10 Uhr morgens
       waren wir in Sichtweite der Grenze.
       
       Aus dem Englischen von Julia Hubernagel. Mit freundlicher Genehmigung von
       [2][www.grid.news]
       
       Anmerkung: Andrej Kurkow und seine Frau brachten ihre Tochter sicher nach
       Ungarn und fuhren dann zurück in die Ukraine. Sie wollen in ihrem Land
       bleiben. Im Diogenes Verlag ist zuletzt Kurkows Roman „Graue Bienen“
       erschienen.
       
       13 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ukrainischer-Autor-ueber-neuen-Roman/!5031000
   DIR [2] https://www.grid.news
       
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