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       # taz.de -- Roman über Facetten der Weiblichkeit: Proletarische Prinzessinnen
       
       > Heike Geißler verhandelt Themen wie Mieterhöhungen und Mutterschaft
       > literarisch. Ihr Roman „Die Woche“ ist für den Leipziger Buchpreis
       > nominiert.
       
   IMG Bild: Tatsächlich ein Manifest: Heike Geißlers Roman „Die Woche“ hat starken literarischen Formwillen
       
       Der Tod klopft an die Tür, Nachbarn fallen von den Dächern und
       proletarische Prinzessinnen proben den Aufstand: Heike Geißlers Roman „Die
       Woche“ erzählt von einer wunderlichen Woche, einer Woche voller Montage.
       Sie beginnt mit einem Sonntag, und nähert sich doch unausweichlich und
       immer wieder dem Montag, der sich, nicht nur in Kapitelform, zwischen alle
       anderen Wochentage schiebt.
       
       Was ist dieser Montag? Ein Symbol für die Zeit- und Arbeitsregimes, denen
       Arbeitnehmer, Mütter, arbeitende Mütter unterworfen sind – [1][in dem
       Vorängerroman „Saisonarbeit“, einem Überraschungserfolg, hatte Heike
       Geißler bereits ihre Aushilfstätigkeit bei Amazon dokumentiert.] Montag ist
       traditioneller Demonstrationstag, jedenfalls im Osten, wo Pegida-Demos und
       Querdenkermärsche stattfinden, aber auch Hartz-IV-Demos.
       
       Ein Tag also, an dem einzeln und kollektiv immer wieder echte und
       vermeintliche Zumutungen des Systems verhandelt werden, sich sogar Demos
       gegen Demos formieren. Auch die Ich-Erzählerin protestiert gegen
       Rechtsradikalismus, Kapitalismus, das System. Die Woche, jede Woche, führt
       die Ich-Erzählerin bis an den Rand der Erschöpfung; Erschöpfung hat System.
       
       Zu den verhandelten Themen gehören steigende Mieten, Mutterschaft, die
       Rolle der Autorin als Mutter, das Unbehagen an den Zuständen und etwas, das
       man als weiblichen Protest bezeichnen könnte. Das Alter der Erzählerin, das
       Um-die-vierzig-Sein, wird immer wieder thematisiert, weil es für eine
       soziale Ungerechtigkeit steht: Mit 40 wird eine Frau unsichtbar, kulturell
       und sexuell, und Kinder kann sie meist auch keine mehr bekommen – was taugt
       sie dann noch als Frau?
       
       ## Ein hypothetisches Kind schreibt sich ein
       
       Die Kinder als verheißungsvolle Option und als Bedrohung der
       Subjektposition der Mutter geistern durch Geißlers Text. Neben den
       geborenen Kindern gibt es noch ein hypothetisches Kind, das sich in den
       Text einschreibt (Buch und Bauch sind einander nicht unähnlich).
       
       „Aus meinem Bauch kommt kein Baby mehr heraus, sage ich, zwei Kinder sind
       leider genug. Meine Nerven reichen nicht für mehr. Meine Nerven wurden
       nicht von meinen Kindern, aber von den Nachrichten, den Reaktionen auf die
       Nachrichten und den Reaktionen auf die Reaktionen verbraucht.“ Der
       Textfluss ist halb Stream of Consciousness, halb Dialog mit der Freundin
       Constanze, die eine Doppel- und Wiedergängerin der Erzählerin ist. Der
       Modus der Wiederholung erscheint so auch auf der Figurenebene.
       
       Constanze wiederum spiegelt die Ideen der Erzählerin, die sich und ihre
       Freundin als „proletarische Prinzessinnen“ charakterisiert. Der Text
       reflektiert also formal, was er inhaltlich behandelt, und dieses
       Zusammenwirken von Inhalt und Form ist entscheidend.
       
       ## Heftige Jurydebatte
       
       Bei der Lesung im Rahmen [2][des letztjährigen Bachmann-Wettbewerbs]
       entfachte der Auszug aus dem Roman eine heftige Jurydebatte, die um den
       Vorwurf kreiste, hier würden in Form der im Text angerissenen
       Mietenproblematik first world problems verhandelt, und noch dazu sei all
       das nur so heruntergeschrieben. Letzteres war besonders böse, gleichzeitig
       in der Verkennung des Modus beim Bewusstseins- und Schreibstrom
       unbeabsichtigt komisch und uninformiert.
       
       Abgesehen davon, dass die Frage von bezahlbarem Wohnraum für viele Menschen
       eine existenzielle ist, erscheint sie als wenig relevant für die
       Beurteilung der Güte von literarischen Texten: Denn dabei geht es
       offenkundig um das Wie, und nicht nur um die Frage, was erzählt wird. Auch
       der Umstand, dass das Mietenthema bereits von Anke Stelling behandelt
       wurde, heißt nicht, dass keine Autor:in es je wieder behandeln dürfte.
       
       In gewisser Weise offenbart die Jurydiskussion just jenes Problem, das „Die
       Woche“ adressiert: dass sich die Verhältnisse trotz der wiederholt
       vorgetragenen Kritik fortschreiben. Dafür wurde der Roman immerhin für den
       Leipziger Buchpreis nominiert, dessen Preisträger*in dieser Woche
       verkündet wird.
       
       Doch stimmt es womöglich, dass „Die Woche“ als Textauszug nicht
       funktionieren konnte. Eben weil der Text so stark auf dem Modus der
       Wiederholung gründet. In geschlossener Form mutet der Roman – so legt es
       auch das Cover nahe – wie ein Kassenbon an, der Position an Position reiht
       und so mit den Verhältnissen abrechnet. Dieses Schreiben über die ewige
       Wiederkehr des Gleichen ist tatsächlich ein Manifest. Eines mit starkem
       literarischem Formwillen.
       
       15 Mar 2022
       
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