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       # taz.de -- Kaukasus-Experte über Putins Invasion: „Ein sehr unpopulärer Krieg“
       
       > Die Tschetschenien-Kriege zeigen Parallelen zu Putins Vorgehen in der
       > Ukraine heute, sagt der Politologe Emil Aslan. Gleichwohl gebe es
       > Unterschiede.
       
   IMG Bild: Auch damals zerbombte die russische Armee Wohnhäuser: Grosny in Tschetschenien 1995
       
       taz: Herr Aslan, Tschetschenien kämpfte einst für die Abnabelung von
       Russland, ähnlich der Ukraine heute. Wie reagierte die russische Politik
       damals? 
       
       [1][Emil Aslan]: Nach der Auflösung der Sowjetunion wählten die
       Tschetschenen separatistische Eliten und gründeten einen unabhängigen
       Staat. In den frühen 90er Jahren unterstützte das der russische Präsident
       Boris Jelzin. Diese Zeit nennt sich „Parade der Souveränitäten“. Zumindest
       rhetorisch war das ganz anders als unter Präsident Putin heute.
       
       Letztlich versuchte Russland aber doch, diese Abspaltung zu verhindern. 
       
       Pawel Gratschow, der unter Jelzin Verteidigungsminister war, prophezeite
       damals, dass die russische Armee mit nur zwei Fallschirmjägerbrigaden
       innerhalb weniger Tage ganz Tschetschenien einnehmen würde. Es war ein sehr
       ähnlicher Plan wie der, den wir heute in der Ukraine sehen.
       
       Doch er scheiterte. 
       
       Der erste Tschetschenien-Krieg war blutig und zermürbend. Die Tschetschenen
       gewannen, die Russen zogen ab. Der Krieg war sehr unpopulär in Russland,
       die russischen Medien berichteten ausführlich darüber. Tausende russische
       Soldaten starben, in Tschetschenien wurden ganze Städte und Dörfer
       zerstört.
       
       Auch der Krieg in der Ukraine ist bei vielen Russen unpopulär: Sie
       protestieren, trotz der Gefahr, festgenommen zu werden. 
       
       In Jelzins Russland konnten sich die Menschen und die Medien noch frei
       äußern. Sie zeigten, was dort vor sich ging – die getöteten russischen
       Soldaten, die auf den Straßen der Dörfer Tschetscheniens lagen. Das hatte
       große Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Russland. Putin arbeitet
       seit etwa zwanzig Jahren daran, die freien Medien loszuwerden, lange bevor
       der Krieg in der Ukraine begann.
       
       Dennoch begann wenig später der zweite Tschetschenien-Krieg. 
       
       Als Vorwand dienten die angeblich von tschetschenischen Terroristen
       begangenen [2][Bombenanschläge auf Wohnhäuser], die dem heutigen
       Staatspräsidenten und damaligen Ministerpräsidenten Wladimir Putin
       zugeschrieben werden. Es gibt ein Buch darüber von [3][Yuri Felshtinsky,
       einem ehemaligen KGB-Agenten]. Damals galt das eher als
       Verschwörungstheorie als heute, wo wir wissen, wie Putin arbeitet. Der
       Krieg war noch blutiger als der erste: Die Zahl der Todesopfer unter den
       Tschetschenen belief sich auf etwa 100.000 Menschen, bei einer Bevölkerung
       von nur 1,3 Millionen Menschen.
       
       Diesen Krieg hat Moskau gewonnen – wie? 
       
       Mithilfe tschetschenischer Stellvertreter – der Familie Kadyrow, deren
       Mitglied Ramsan heute Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien
       ist. Eine von Moskaus Methoden bestand darin, pro-russische
       [4][paramilitärische Kräfte, die so genannten Kadyrowtsy], zu bilden. Diese
       Kadyrowtsy kannten die Identität der Aufständischen und nahmen deren
       Verwandte ins Visier. Durch diese Bedrohung kapitulierten viele oder liefen
       über. So wurden Blutfehden geschaffen, die Brücken zurück in ein
       friedliches Leben abgebrochen. Moskau tat das bewusst und wissentlich. Es
       gibt noch immer Familien, die darauf warten, dass sich Russland
       zurückzieht, um [5][Ramsan Kadyrow], die Kadyrowtsy und ihre Familien
       auszulöschen. Er braucht den Schutz Putins.
       
       Die Kadyrowtsy – sind das die gleichen Einheiten, die nun in die Ukraine
       geschickt wurden? 
       
       Ja, genau. Kadyrow will seine Position gegenüber Putin stärken, sich als
       sein treuester Anhänger zeigen. Bisher wurden Dutzende, wenn nicht Hunderte
       von ihnen durch ukrainische Kräfte getötet. Darüber gibt es ein absolutes
       Informationstabu. [6][Kadyrow hat von nur zwei in der Ukraine getöteten
       Tschetschenen gesprochen]. In Russland gibt es nur wenige Informationen zu
       im Ukraine-Krieg gefallenen Soldaten, in Tschetschenien ist es noch
       schlimmer.
       
       Das sind also Putins Methoden: brutale Gewalt und die Bildung von
       Bündnissen mit lokalen Akteuren. 
       
       In der Ukraine hat er diese paramilitärischen Kräfte nicht nur genutzt,
       sondern sie selbst geschaffen. Es gab bis 2014 keine organisierte
       separatistische Bewegung in Donetsk und Luhansk. Nur wenige Menschen
       wollten sich wirklich von der Ukraine abspalten. Natürlich gab es
       Spannungen: Zum Beispiel sollte die ukrainische Sprache wieder stärker
       etabliert werden. Aber niemand wollte für die Verwendung der russischen
       Sprache töten.
       
       In den Tschetschenien-Kriegen kämpfte die rechtsextreme ukrainische
       Paramilitärgruppe UNA-UNSO auf tschetschenischer Seite gegen Russland. Gibt
       es heute ähnliche Truppen in der Ukraine? 
       
       Schon [7][im Konflikt 2014/15 im Donbass gab es ein Bataillon, in dem
       Tschetschenen gegen russische Separatisten kämpften]. Viele Tschetschenen
       in den europäischen Diaspora-Gemeinschaften sagen: Wir sind den Ukrainern
       etwas schuldig, wir müssen ihnen helfen. Einige sind in den Kampf gezogen.
       Ich glaube, dass die auf ukrainischer Seite Kämpfenden loyaler und
       engagierter sind als die Kadyrowtsy. Die haben im Grunde keinen wirklichen,
       ideologischen Grund, dort zu sein.
       
       16 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://ims.fsv.cuni.cz/en/contacts/people/82202235
   DIR [2] https://www.rferl.org/a/putin-russia-president-1999-chechnya-apartment-bombings/30097551.html
   DIR [3] https://www.perlentaucher.de/buch/yuri-felshtinsky-alexander-litwinenko/eiszeit-im-kreml.html
   DIR [4] https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/01402390.2014.942035
   DIR [5] /Menschenrechte-in-Tschetschenien/!5827979
   DIR [6] https://www.spiegel.de/ausland/tschetschenfuehrer-ramsan-kadirow-meldet-tod-von-elite-kaempfern-in-ukraine-a-e42fec22-b496-4357-a883-e8779370dc6f
   DIR [7] https://www.deutschlandfunk.de/tschetschenische-kaempfer-in-der-ukraine-die-menschen-im-100.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lisa Schneider
       
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