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       # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Warten auf Erlösung
       
       > In der Hafenstadt Mariupol warten die Menschen immer noch auf einen
       > Hilfskonvoi. Bislang vergeblich. Es soll dort bereits mehr als 2.000 Tote
       > geben.
       
   IMG Bild: Unter Beschuss: Ein Wohnhaus in Mariupol wird am vergangenen Freitag von einer Bombe getroffen
       
       Mariupol taz | Während westliche Politiker*innen darüber nachdenken,
       ob man der Ukraine mit einem Flugabwehrsystem helfen solle, [1][tötet der
       Himmel jeden Tag Einwohner*innen von Mariupol]. An den Ufern des warmen
       Asowschen Meeres spielt sich eine wahrhaftige Tragödie ab, die einen Namen
       trägt: Tod.
       
       In den vergangenen 24 Stunden haben feindliche Flugzeuge 22 Bombenangriffe
       auf die friedliche ukrainische Stadt geflogen. Am Sonntag hat die
       Stadtverwaltung die Zahl der Getöteten mit 2.158 angegeben – Männer,
       Frauen, Kinder. Das sind nur diejenigen, die die kommunalen Dienstleister
       zählen und begraben konnten. Wie viele Leichen unter den Trümmern
       zerstörter, niedergebrannter Häuser liegen, ist unbekannt.
       
       Tausende verlorene Leben! In nur einer einzigen Stadt! Die Verteidiger von
       Mariupol – das sind die Nationalgardisten und Marinesoldaten – bitten das
       Militärkommando, Mariupol mit Luftverteidigungssystemen zu helfen. Doch von
       diesen Systemen gibt es in der Ukraine nur wenige, in Mariupol gar keine.
       Daher sterben in der Stadt jeden Tag, JEDEN Tag durch Luftangriffe und
       Raketen über 100 Menschen.
       
       „Gestern haben ich und mein Mann uns vom Leben verabschiedet. Bomben gingen
       in der Nähe unseres Hauses nieder. Ich dachte, das sei das Ende …“, sagt
       Nastja, eine Einwohnerin von Mariupol. Das Leben schien noch so viele
       glückliche Momente für die Familie bereitzuhalten. Und als am 24. Februar
       die ersten Explosionen am Stadtrand von Mariupol zu hören waren, wollte
       Nastja nicht glauben, dass das ein wirklicher Krieg sei.
       
       ## Mit einem Baby im Arm
       
       Sie dachte, es werde geschossen wie 2014, doch alle würden auf ihren
       Positionen ausharren. Heute bedauert sie ihre Naivität sehr. Sie blieb mit
       einem Baby im Arm zurück und wie alle [2][ohne Essen, Wasser, Licht und
       Heizung.] Aber das alles ist nicht so beängstigend wie die täglichen
       Bombenangriffe der Flugzeuge. Du kannst dich nicht vor ihnen verstecken und
       dich nicht einmal in einen Luftschutzkeller retten.
       
       „In Mariupol zu bleiben ist wie zu sterben. Mariupol unter diesem
       unaufhörlichen Beschuss zu verlassen, ist ein wahnsinniges Risiko. Aber je
       länger wir hier bleiben, desto mehr wird uns klar, dass wir dringend eine
       Entscheidung treffen müssen. Wir müssen unter zwei Bedrohungen die kleinere
       wählen. Denn es kann passieren, dass es morgen einfach nichts mehr gibt, um
       die Stadt zu verlassen – die Besatzer können das Auto jederzeit in die Luft
       jagen“, sagt Nastja.
       
       Vor zwölf Tagen hat die russische Armee einen engen Ring um die Stadt
       gezogen. Seitdem konnten keine Lebensmittel, Medikamente und kein
       Treibstoff mehr nach Mariupol gebracht werden. Alles, was in den Läden, in
       den Lagern war, haben die Menschen gekauft und gegessen. Alles, was in den
       Apotheken war, wurde längst in die Krankenhäuser gebracht, wo es an
       Analgetika und Schmerzmitteln fehlt. Ärzt*innen sind gezwungen, die
       Wunden von Verletzten ohne Betäubung zu versorgen.
       
       Seit sechs Tagen versucht ein Hilfskonvoi nach Mariupol vorzudringen. Am
       vergangenen Samstag wurde ein weiterer Versuch unternommen. Ein Konvoi mit
       60 Fahrzeugen startete von Saporischschja in Richtung Mariupol. Er hatte 90
       Tonnen Hilfsgüter geladen – Wasser, Lebensmittel und Medikamente. Aber, was
       noch wichtiger war: In dem Konvoi fuhren auch 50 Reisebusse mit. Der Plan
       war, dass sie auf dem Rückweg Menschen mitnehmen sollten, so viele, wie in
       die Busse und Privatfahrzeuge hineinpassen würden.
       
       ## Priester als Begleitung
       
       Es ist schwer, das Risiko mit Worten zu beschreiben, das die Fahrer
       eingingen. Während der gesamten Fahrt wurde der Konvoi ständig beschossen.
       Und das ungeachtet der Tatsache, dass Priester der Ukrainisch-Orthodoxen
       Kirche des Moskauer Patriarchiats den Konvoi begleiteten.
       
       Sogar der Metropolit Luka von Saporischschja machte sich auf, um der
       Fahrzeugkolonne einen Weg durch Minenfelder und russische Panzer zu bahnen.
       Aber den Russen ist nichts heilig. Der Konvoi wurde beschossen – trotz
       „heiliger Begleitung“.
       
       Am Sonntag kam der Konvoi nah an Mariupol heran, jedoch 40 Kilometer vor
       der Stadt wurde er angehalten und durfte nicht weiter fahren. Warum? Was
       war passiert? Welche Provokationen plant die russische Armee jetzt schon
       wieder?
       
       ## Wir geben nicht klein bei
       
       Diese Fragen stellen sich nicht nur diejenigen mit Entsetzen, die den
       Konvoi an sein Ziel bringen sollen, sondern auch den Menschen, die in der
       belagerten Stadt mit angehaltenem Atem auf die Erlösung warten.
       
       „Der Konvoi musste umkehren und nach Berdjansk (eine Stadt 80 Kilometer von
       Mariupol entfernt, Anm. d. Red.) fahren. Was passiert ist, wissen wir noch
       nicht. Vielleicht gibt es Probleme beim Verhandlungsprozess, wir schließen
       jedoch auch Provokationen nicht aus.
       
       Doch alle sollen wissen: Wir geben nicht klein bei. Wir werden morgen früh
       um jeden Preis versuchen, in die Stadt zu kommen“, sagt der Berater des
       Bürgermeisters von Mariupol, Petr Andrjuschtschenko.
       
       Nastja hat sich entschieden, nicht mehr auf den Hilfskonvoi zu warten. Am
       Sonntagmorgen ist sie mit ihrem Mann und dem wenige Monate alten Baby ins
       Auto gestiegen, um Mariupol zu verlassen. Jetzt können wir nur noch beten,
       dass der Himmel über ihnen an diesem Tag nicht zu einer tödlichen Bedrohung
       wird.
       
       Aus dem Russischen von Barbara Oertel
       
       14 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Murlykina
       
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