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       # taz.de -- Gastbeitrag vom FC St. Pauli-Präsidenten: Ideen für viel Dickbrettbohrerei
       
       > Oke Göttlich, Präsident des FC St. Pauli, setzt sich mit dem Buch der
       > taz-Autorin Alina Schwermer über eine bessere Zukunft des Fußballs
       > auseinander.
       
   IMG Bild: Zukunftsaufgabe: für nachkommende Generationen den Fußball kreativer und egalitärer gestalten
       
       Es ziemt sich zunächst in Form eines Disclaimers darauf hinzuweisen, dass
       mein Name in diesem 450 Seiten schweren, kompassartigen Buch für einen
       anderen Fußball erwähnt wird. [1][Der Fußballklub FC St. Pauli, dem ich als
       präsidialer Repräsentant der Mitgliedschaft angehöre], genannt wird und
       Institutionen wie DFL und DFB, in denen ich mich als Mitglied des
       Präsidiums und erweiterten Vorstand engagiere, deutlich – im übrigen häufig
       zu recht – kritisiert werden und ich vor langen Jahren für diese Zeitung
       arbeiten durfte. Die Autorin Alina Schwermer kenne ich nicht persönlich.
       
       Inmitten einer Zeit der stetigen Veränderungen und Anpassungen unserer
       Lebens(umstände)- und Verhaltensweisen widmet sich Alina Schwermer dem
       Fußballsystem und damit einem der vermeintlich letzten gemeinschaftlichen
       Feuerstellen des gesellschaftlichen Mainstreams. Das ist wichtig zu
       verstehen, denn viele der Themen, die in die Kapitel „Ideen zur Gegenwart“,
       „Ideen einer besseren Zukunft im bestehenden System“, „Ideen für ein
       besseres System“ und „Ideen zum Selbermachen“ eingeteilt sind, werden
       abseits der Theorie nicht in Zirkeln und mit Menschen verhandelt, die einem
       durch den gemeinsamen Stadiongang, die gleiche Kneipe, den Stadtteil oder
       die Arbeit der politischen Gruppe bekannt oder lieb sind.
       
       Es sind viele Menschen, die teils unterschiedliche Lebensmodelle, bestimmt
       aber gegensätzliche Sichtweisen vertreten, insbesondere wenn man es aus dem
       Blickwinkel einer irgendwie zusammenhängenden Gruppe von
       Fußballsystemkritiker:innen betrachtet. Hier sollten wir immer
       einen Perspektivwechsel wagen, so unangenehm er auch sein möge – in viele
       Richtungen.
       
       Gerade dies macht dieses Buch deutlich. Natürlich ist es ein Ausdruck einer
       in einem bestimmten Umfeld sozialisierten Autorin, deren Aufruf zu
       Aktivismus aber differenziert und ausgewogen Stärken und Schwächen darlegt,
       sowie Ideen auch nur als solche in den Raum stellt. Beim Lesen kommt
       Optimismus auf, der sich auf einem immerwährenden Kulturwandel (auch zum
       Guten!) aufbaut und bewusst allen vor Augen führt, dass ein
       Veränderungsprozess immer nur mit den Prinzipien Versuch, Rückschlag,
       Fortschritt passieren wird. Im besten Sinne also zu Mut aufruft.
       
       ## „Protest muss besser werden“
       
       Einem Mut, der im Übrigen auch nach Fertigstellung des Buches von gern
       kritisierten Funktionären bei den jüngsten Wahlen des DFB-Bundestags an den
       Tag gelegt wurde. Zeitlich auf den Punkt und mit höchster Flexibilität
       haben Menschen sich Wahlen gestellt, die kurz zuvor aussichtslos erschienen
       und zumindest weitere, kleine Schritte zu mehr Demokratie darstellen –
       arrangiert von Menschen, die nach dem Verständnis vieler Kritiker:innen
       wohl eher dem alten oder rückständigen System zugehörig schienen. Auch dazu
       nimmt das Buch Stellung: „Nicht der einzelne Verband, der Protest muss
       besser werden.“ Oder, wie es der Soziologe Armin Nassehi formulierte:
       „Genau genommen protestiert der Protest also gegen die Opposition, wenn
       diese zu schwach ist.“ Die Opposition muss viel breiter werden, radikaler,
       kreativer. Mutig, mitreißend, anstößig.
       
       Viele Dinge müssen im und durch den Fußball angesprochen werden und dürfen
       nicht nur symbolpolitisch vor sich her geschoben werden. Andernfalls werden
       drängende Probleme, wie Jugendliche überhaupt noch am Fußball aktiv oder
       passiv teilnehmen, Talente unter fragwürdigen Bedingungen aussortiert
       werden, Gewinne des Fußballs privatisiert und Kosten der Allgemeinheit
       aufgedrückt werden, undurchsichtige Geldflüsse oder Beteiligungsstrukturen
       von außen geklärt. Der Fußball sollte selbst an regulativen Prinzipien im
       Schulterschluss mit der Politik und den europäischen Gesetzgebungen
       interessiert sein.
       
       Ansonsten erschließt sich keine Alternative zu der im Buch ebenfalls
       dargestellten und so schön als „unterschiedliche Galaxien“ umschriebenen
       Zersplitterung der Ligen. Dann gäbe es Verhältnisse wie im Profiboxen, wo
       verschiedene Verbände Weltmeister küren. Auch das gehört zu einer ehrlichen
       Auseinandersetzung mit der Thematik und auch der Realität, dass jeder
       Wettbewerb derzeit auch ausgrenzend und unfair ist. Fragen wir mal die
       kleineren Ligen der europäischen Nachbarländer. Sonst bleibt nur der
       kleinste gemeinsame Nenner, der derzeit so bremsend wirkt und über den es
       sich so schön streiten lässt.
       
       [2][„Futopia“ ist eine Anregung zur Aktivität,] Gestaltung und
       Partizipation, statt nur aus der Anonymität heraus zu meckern. Inhaltlich
       setzt es sich gelungen mit Modellen in anderen Ländern und Sportarten
       auseinander, die spannende Sichtweisen aufzeigen. Wer sich für Themen wie
       Kaderobergrenzen (Einwurf des Autors: unbedingt!), Quotenregelung in
       Führungsgremien (auch für einen Verein wie St. Pauli mit Quote ein
       augenöffnendes Kapitel ), CMC (Fußball als Arbeitnehmer der Gesellschaft),
       PPS (feste Anzahl Spitzenspieler:innen pro Klub) und eine
       weitergedachte 50+1-Regelung interessiert, findet Argumente und Ideen für
       viel Dickbrettbohrerei und jahrelange Diskussionen in Entscheidungszirkeln.
       
       Dafür bedanke ich mich sehr und verbleibe mit einem starken Satz des Buches
       und einer Forderung, mit der ich mich gemein machen mag: „Ein
       revolutionäres System wäre schon eines, das Wege findet, menschliche
       Dämonen im Zaum zu halten.“ Das gilt für so vieles dieser Tage.
       
       29 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /St-Pauli-Praesident-ueber-Investitionen/!5493555
   DIR [2] https://www.werkstatt-verlag.de/buecher/fussball-allgemein/futopia-ideen-fuer-eine-bessere-fussballwelt
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Oke Göttlich
       
       ## TAGS
       
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