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       # taz.de -- Litauen fürchtet russischen Angriff: Auf dem Pulverfass
       
       > Viele Litauer fürchten, dass Russland auch ihr Land bald angreifen könnte
       > – über die Schließung der „Suwalki-Lücke“ zwischen Kaliningrad und
       > Belarus.
       
   IMG Bild: Ein Grenzpfosten bei Kaliningrad im Dreiländereck: Russland, Litauen und Polen
       
       Vilkaviskis/Marijampole/Druskininkai taz | Die Lkws donnern Richtung
       Suwalki im Nordosten Polens, als sei der Teufel hinter ihnen her. Rechts
       und links der Schlaglochpiste verläuft die rund 1.700 Kilometer lange
       Europastraße 67, die von Tschechien über Polen und die baltischen
       Republiken bis nach [1][Finnland] führen soll. Doch die Via Baltica, wie
       die Fernstraße auch heißt, besteht vor allem aus aufgerissenem Erdreich.
       
       Über Hunderte Kilometer zieht sich die Schneise durch die grüne Landschaft.
       Bauarbeiter sind kaum zu sehen. Dabei sollte dem Projekt höchste Priorität
       zukommen, denn ohne eine ausgebaute Infrastruktur in Polen – Straßen,
       Brücken und Schienen für den Zugverkehr – könnten die baltischen Staaten im
       Falle eines Angriffs kaum verteidigt werden.
       
       Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar fürchten immer
       mehr Litauer, dass sie das nächste Ziel sein könnten. Das Einfallstor
       könnte die „Suwalki-Lücke“ sein, wie die nur 100 Kilometer kurze
       polnisch-litauische Grenze genannt wird. Sie liegt zwischen der
       hochgerüsteten russischen Exklave Kaliningrad im Norden und dem mit
       Russland verbündeten Belarus im Süden.
       
       „Wir sitzen hier wie auf einem Pulverfass“, sagt Renata Medeliene (48), die
       Direktorin des Kulturzentrums im litauischen Grenzort Vilkaviskis. „Ein
       Funke genügt, und uns fliegt alles um die Ohren.“ Die anderen
       Mitarbeiterinnen, die im kleinen Besprechungszimmer Platz genommen haben,
       nicken zustimmend. „Wir haben alle Angst, immerhin ist Kaliningrad nur ein
       paar Kilometer entfernt“, fährt sie fort. „Aber wir arbeiten weiter, als
       würde es den russischen Krieg in der Ukraine und die aktuelle Bedrohung für
       uns nicht geben.“
       
       ## Wo stehen die Panzer?
       
       Ingrida Bunikiene (48), die Computerdesignerin im Kulturzentrum, kann seit
       dem Kriegsbeginn in der Ukraine kaum noch schlafen: „Ich weiß nie, ob die
       Explosionen vom russischen Truppenübungsplatz im Oblast [2][Kaliningrad]
       direkt hinter der Grenze kommen, oder ob die russischen Panzer schon vor
       meiner Tür stehen.“ Es gebe zwar ein litauisches Militärschulungszentrum
       rund 40 Kilometer entfernt von Vilkaviskis. „Aber das beruhigt mich leider
       überhaupt nicht.“
       
       Die Theaterregisseurin Daiva Kasulaitiene (55) bereitet gerade ein neues
       Stück vor, in dem der Erste und Zweite Weltkrieg eine Rolle spielen: „Und
       jetzt kommen bei den Schauspielern die alten Traumata wieder hoch.
       Vilkaviskis war immer wieder Frontstadt. Hier zogen Soldaten und
       marodierende Banden durch. Nach dem Ersten Weltkrieg überfielen uns die
       Polen, im Zweiten Weltkrieg waren es die Deutschen und Russen.“
       
       Die 55-Jährige mit dem schwarz-roten Kurzhaarschnitt presst die Hand gegen
       den Mund, fährt dann mit leicht zitternder Stimme fort: „Die Deutschen
       waren mal unsere Nachbarn, Königsberg die Hauptstadt Ostpreußens. Und dann
       zogen sie sich SS- und Wehrmachtsuniformen an, ermordeten uns und
       zerstörten hier alles.“ Sie schluckt. „Den Terror der Russen nach dem Krieg
       können wir auch nicht vergessen. Wir wollen das nicht mehr. Wir sind in die
       Nato und die EU eingetreten, weil wir keinen Krieg und keine Unterdrückung
       mehr wollen. Wir hoffen, dass die Nato uns verteidigt.“
       
       Der friedlich in der Frühlingssonne liegenden 10.000-Einwohner-Stadt sieht
       man ihre turbulente Geschichte nicht an. In den letzten drei Jahrhunderten
       war Vilkaviskis zunächst Teil des polnisch-litauischen Doppelstaates, wurde
       dann dem Königreich Preußen einverleibt und nach dessen Niederlage dem
       Herzogtum Warschau zugeschlagen. Ab 1815 gehörte die Stadt zum Russischen
       Reich und wurde zu einem bedeutenden Zentrum jüdischer Kultur.
       
       Im Ersten Weltkrieg war Vilkaviskis deutsch besetzt. Ab 1918 war die Stadt
       Teil der nunmehr unabhängigen Republik Litauen. 1940 wurde Litauen von der
       Sowjetunion annektiert, 1941 von den Deutschen besetzt und 1944 von der
       Roten Armee zurückerobert. Vilkaviskis und mit ihr ganz Litauen
       verschwanden hinter dem Eisernen Vorhang – bis 1991, als der Staat seine
       Unabhängigkeit zurückerlangte.
       
       ## Manöver zur Beruhigung
       
       Um Präsenz zu zeigen und die Menschen zu beruhigen, startete Litauens Armee
       am 13. März in der Grenzregion Suvalkija ein Manöver, an dem auch die in
       der litauischen Stadt Rukla stationierten [3][Nato-Verbündeten] – allen
       voran die Deutschen – teilnehmen.
       
       Mit einem roten VW Polo geht die Reise entlang der Suwalki-Lücke weiter.
       Auf der schmalen Straße nach Marijampole überholen sich in riskanten
       Manövern immer wieder Lkws, Sattelschlepper und Autotransporter. Ihr Ziel
       ist der einst größte Gebrauchtwagenmarkt Osteuropas in Marijampole und der
       litauische Grenzübergang nach Kaliningrad – Kybartai. Militärfahrzeuge sind
       weder auf der Landstraße unterwegs noch in der 47.000-Einwohner-Stadt
       Marijampole selbst. Von einem Hügel der Industriestadt aus ist der
       Gebrauchtwagenmarkt zu sehen – viel kleiner als noch vor 30 Jahren, aber
       immer noch imponierend. Verrostete Schilder weisen auf Autowerkstätten,
       Lackierereien, Servicestationen und Autotransporte in alle Welt hin, doch –
       so winkt Stasys L. ab: „Die guten Zeiten sind längst vorbei.“
       
       Der 65-jährige „Veteran des Gebrauchtwagenhandels“, wie er sich selbst
       nennt, klagt: „Seit die Russen weg sind und jetzt auch noch die Ukrainer,
       geht hier gar nichts mehr.“ Mit einer weiten Armbewegung deutet er auf den
       halbleeren Platz. „Ich bin mit 20 deutschen Mittelklasseautos am Stand und
       habe noch kein einziges verkauft! Der Krieg ist schlecht fürs Geschäft.“
       Gehandelt wird im Winter wie im Sommer. Die Verkäufer mieten weiße Buden in
       der Größe eines halben Containers, können dort einen Elektroofen
       aufstellen, Tee und Kaffee kochen und die Papiere und Nummernschilder der
       Autos aufbewahren.
       
       Früher wurden hier auch Lkws verkauft, Busse und Autotransporter. Doch
       zurzeit sind nur Pkws im Angebot. Nahe am Eingang stehen die Luxusmodelle
       Porsche, Jaguar, Bentley, BMW und Mercedes. Nicht weit entfernt werden vor
       allem Landrover angeboten. Weiter hinten auf dem mehrere Hektar großen
       Platz werden Oldtimer angeboten. In der großen Masse aber stehen hier
       Mittelklassewagen. „Es geht schon seit Jahren bergab“, sagt Stasys L.:
       „Erst der Beitritt Litauens zum Schengenraum 2007, wodurch das Visum für
       die Belarussen, die Ukrainer, die Russen und Kasachen teurer wurde. Und
       dann die Erhöhung des russischen Zolls 2009. Dadurch wurde die Einfuhr
       eines Gebrauchtwagens nach Russland unrentabel.“
       
       ## Rettende Ostsee
       
       Der kräftig gebaute Autohändler Stasys L. knöpft die schwarze Lederjacke
       zu, zum Schutz vor dem Wind. „Wenn die Nato die Ukraine nicht rettet, sind
       wir in Litauen als Nächstes dran“, sagt er. Verstohlen fährt er sich mit
       dem Handrücken über die Augen: „Ich dachte, dass ich das nie erleben würde
       – Krieg. Und jetzt das!“ Ob er bei einem Angriff auf Litauen bleiben oder
       doch eher fliehen würde, wisse er noch nicht. „Die Suwalki-Lücke wird ja
       als Erstes zu sein“, so Stasys L. „Man müsste also versuchen, über den
       litauischen Ostseehafen Klaipeda rauszukommen.“
       
       Hier – an der Universität Klaipeda – und an der Militärakademie in Litauens
       Hauptstadt Vilnius arbeitet der gefragte Sicherheitsexperte Egidijus
       Papečkys (51). Seit einigen Jahren ist er auch Gebietskommandeur der
       Litauischen Schützen-Union im Bezirk Marijampolė nahe der Grenze zu Polen
       und zur Oblast Kaliningrad. Šauliai, wie die Schützen-Union auf Litauisch
       heißt, ist ein paramilitärischer Verband, der 1919 entstand, als Polen die
       litauische Hauptstadt Vilnius besetzte und dem polnischen Staat
       einverleibte. In der Sowjetzeit war Šauliai verboten und viele seiner
       Mitglieder landeten im Gulag, einem sowjetischen Zwangsarbeitslager.
       
       Nachdem Litauen seine Unabhängigkeit wiedergewonnen hatte, entstand die
       Schützen-Union von Neuem – als heute größte zivilgesellschaftliche
       Organisation Litauens. Das Angebot geht weit über die militärische
       Grundausbildung hinaus. Engagieren kann man sich auch im Zivilschutz, in
       Kultur, Bildung, der Armen- und Flüchtlingsfürsorge. Zurzeit hilft der
       Verband bei der Unterbringung und Verpflegung von Kriegsflüchtlingen aus
       der Ukraine und organisiert Kurse für den Fall eines russischen oder
       belarussischen Angriffs auf Litauen: Was gehört ins Fluchtgepäck? Welche
       Papiere muss ich unbedingt mitnehmen? Wo kann ich in einem Schnellkurs
       lernen, mich und meine Familie zu verteidigen? Das sind Fragen, die viele
       in Litauen umtreiben.
       
       Papečkys nimmt das Handy-Gespräch aus Brüssel an, wo er an einer
       informellen Tagung für Sicherheitsexperten aus Nato-Staaten teilnimmt. „Das
       Treffen war seit Langem geplant, aber jetzt sprechen wir vor allem über
       Russland, die Ukraine und den Worst Case für uns selbst“, sagt er. „In
       Belarus sind rund 30.000 russische Soldaten stationiert. Zudem hat
       Alexander Lukaschenko den Russen erlaubt, ihre Raketenstellungen im Krieg
       gegen die Ukraine zu nutzen. Wir haben es also mit zwei Aggressorstaaten zu
       tun: Russland und Belarus. Beide sind unsere Nachbarn.“
       
       ## Die größte Gefahr für die Nato
       
       Eine Flughafendurchsage unterbricht das Gespräch. Danach sagt er: „In der
       EU und der Nato sind sich alle bewusst, dass die Suwalki-Lücke, also die
       kurze Grenze zwischen Polen und Litauen, die derzeit größte Gefahr für das
       Bündnis darstellt.“
       
       Litauen selbst habe seinen Verteidigungshaushalt bereits auf 2,5 Prozent
       des Bruttoinlandsprodukts erhöht. Aber auch die Nato müsse ihre
       Anstrengungen zum Schutz der baltischen Republiken verstärken. In Litauens
       Armee dienten rund 16.000 Soldaten, hinzu kämen noch einmal rund 15.000
       Schützen, die im Fall eines Krieges voll in die Armee integriert würden.
       Zudem seien inzwischen rund 4.000 Nato-Soldaten unter Führung Deutschlands
       in Litauen stationiert.
       
       „Seit dem Überfall Putins auf die Ukraine haben sich rund 3.000 weitere
       Freiwillige bei Šauliai gemeldet“, berichtet Papečkys. „Die Ukrainer sind
       uns ein großes Vorbild. Sollten wir angegriffen werden, werden wir uns und
       unser Land verteidigen. Wir werden kämpfen.“ Die Nato sei auf diesen Fall
       vorbereitet. „Es ist klar, dass man vieles nicht öffentlich sagen kann. Wer
       wohin Waffen liefert etwa. Oder was rote Linien sind, die Putin auf keinen
       Fall überschreiten darf.“
       
       Klar sei allerdings, dass die gesamte Nato in den Krieg eintreten werde,
       sollte Litauen angegriffen werden. Das garantiere die Beistandsklausel in
       Artikel 5 des Nato-Vertrages. Es sei verständlich, dass der Präsident der
       Ukraine von der Nato fordere, [4][den Himmel über seinem Land zu
       schließen], aber um das zu tun, müssten Hunderte, wenn nicht Tausende
       Nato-Jagdbomber russische Flughäfen und Militärbasen von oben ausschalten.
       „Das bedeutet Krieg mit Russland!“, stellt der Sicherheitsberater klar.
       
       „Niemand weiß, ob es am Ende nicht doch dazu kommt. Aber die Nato wird
       diesen Krieg nicht von sich aus beginnen.“ Sie sei ein
       [5][Verteidigungsbündnis], in dem jedes der 30 Mitglieder eine gewichtige
       Stimme habe. „Wir entscheiden gemeinsam, wie wir uns verteidigen werden“,
       so Papečkys. „Ich betone: Verteidigen, nicht angreifen!“
       
       ## Rostender Stacheldraht
       
       Mit dem roten VW Polo geht es weiter zur litauischen Kleinstadt Lazdijai.
       Die schmale Straße führt durch einen lichten Wald, vorbei am ehemaligen
       Grenzübergang Burbiszki–Galiniai zwischen der Volksrepublik Polen und der
       Sowjetrepublik Litauen – dort stehen heute die grünen Tore sperrangelweit
       offen und der einst trennende Stacheldraht rostet vor sich hin. Ein paar
       Meter weiter ist er ganz abmontiert. Rechts und links der Landstraße
       buckelt die Erde, als sei hier ein Riesenmaulwurf unterwegs gewesen.
       Schmelzende Eisgletscher haben diese Moränenlandschaft mit den vielen
       Hügeln, Seen und Sümpfen entstehen lassen.
       
       „Hier ist es schwer, uns anzugreifen“, erklärt Tomas Marcinkevičius, der
       litauische Fahrer des roten VW Polo. „Da man die Hügel mit einem Panzer
       schlecht rauf und runter fahren kann, müsste man im Slalom um sie
       herumfahren – und da landet man dann irgendwann in einem See oder Sumpf.“
       Die Grenze verläuft dann durch einen rund zehn Kilometer langen See – auf
       polnischer Seite heißt er Galadus, auf litauischer Galadusys. Die Grenze
       verläuft genau in der Mitte – jeweils 750 Meter vom Ufer entfernt.
       
       „Es darf auf keinen Fall Panik ausbrechen“, sagt Saulius Petrauskas (58),
       der stellvertretender Verwaltungsdirektor der Region Lazdijai im Südwesten
       Litauens. „Das wäre das Schlimmste überhaupt. Wir beschäftigen uns daher
       seit Tagen mit dem Zivilschutz, erklären beispielsweise, dass die Handys
       ausfallen können und dann alle dort gespeicherten Nummern und Informationen
       weg wären.“ Er zieht sein Handy aus der Hosentasche und legt es auf den
       Bürotisch des Verwaltungsgebäudes in Lazdijai. „Wir alle müssen daher die
       wichtigsten Informationen auf Papier und wasserdicht verpackt am Körper
       tragen.“
       
       Er geht ans Fenster und schaut auf den Marktplatz: „Wir haben für unsere
       Unabhängigkeit von Moskau hart gekämpft. Es hat 1991 Tote in Litauen
       gegeben. Wir lassen uns unsere Freiheit und unsere Demokratie nicht einfach
       wieder nehmen.“ Die Solidarität mit der Ukraine sei gigantisch. „Immerhin
       waren große Teile der Ukraine, Litauens, Belarus und Polens über gut zwei
       Jahrhunderte in einem Staat vereint“, erläutert Petrauskas. „Wir sind im
       Grunde genommen eine große Familie.“
       
       ## Keine russischen Gäste mehr
       
       Die Landstraße nach Druskininkai im Südosten Litauens schlängelt sich
       wieder durch Wälder und entlang an Seen und zahlreichen Hügeln. Das
       Städtchen mit gerade mal 15.000 Einwohnern ist ein Kurort, dessen
       Heilquellen und hervorragende Luftqualität seit Jahrhunderten bekannt sind.
       Hier suchten bislang vor allem Kurgäste aus Litauen, Belarus, Russland,
       Polen, Israel und Deutschland Erholung. „Damit ist es nun erst mal vorbei“,
       sagt Mantas Sabaliauskas (36), der als Assistent der Geschäftsführung des
       größten litauischen Sanatoriums Egle zuarbeitet.
       
       „Die Gästezahlen sind schon in der Covid-Zeit dramatisch eingebrochen.
       Dabei können wir in zwei Orten – in Druskininkai und in Birstonas –
       insgesamt 2.000 Gäste gleichzeitig aufnehmen.“ Das Sanatorium liegt
       friedlich in der Sonne. Mantas Sabaliauskas führt durch die Anlage mit
       ihren mehreren Gebäuden, viel Grün, etlichen Spielplätzen und öffnet dann
       die Tür zu einem Studentenwohnheim. „Direkt nach dem Angriff Putins auf die
       Ukraine haben die Aktionäre eine außerordentliche Sitzung einberufen und
       entschieden, auf eigene Kosten 60 ukrainische Geflüchtete hier aufzunehmen
       und auch zu verpflegen.“ Sein Handy klingelt. Er muss ins Hauptgebäude.
       „Die Idee ist, demnächst ukrainische Kriegsversehrte in unserem Sanatorium
       aufzunehmen und sie in einem Rehabilitationszentrum gesund zu pflegen.
       Hoffen wir, dass der Krieg bald vorbei ist.“
       
       Ein paar Straßen weiter in der Stadtverwaltung von Druskininkai breitet
       Antanas Urbonas (31), der Kultur- und Tourismusmanager der Stadt,
       Schaubilder und Statistiken auf dem Tisch aus. „Fast 80 Prozent unserer
       Bevölkerung leben vom Tourismus und von Dienstleistungen im
       Gesundheitswesen.“ Die Coronapandemie habe alle hart getroffen. Die Gäste
       seien ausgeblieben, und viele in Druskininkai seien arbeitslos geworden.
       Doch statt nun neu durchstarten zu können, müsse man vollkommen umdenken.
       „Der Krieg verändert alles“, so Urbonas.
       
       Die Russen und Belarussen, die noch 2019 mit knapp 300.000 Übernachtungen
       im Jahr den Großteil der Gäste stellten, würden in den nächsten fünf bis
       zehn Jahren nicht mehr zur Kur nach Litauen kommen. „Wir können ja auch
       nicht zulassen, dass sich unter unsere Gäste aus der Ukraine oder aus
       Israel Kriegsverbrecher aus Russland mischen. Das ist ganz undenkbar!“
       Druskininkai müsse nun verstärkt um Gäste aus Westeuropa und Übersee
       werben.
       
       ## Flucht nach Australien?
       
       „Womit wir auch rechnen müssen, ist eine kriegerische Invasion von
       russischen und belarussischen Soldaten. Meine Frau, die
       Allgemeinmedizinerin ist, sucht zurzeit alle Informationen darüber
       zusammen, wie man Arbeit in Australien finden kann.“ Er fährt sich mit den
       Hand über den dunklen Dreitagebart und sagt: „Ich unterstütze sie darin
       voll und ganz!“ Sollte es auch in Litauen Krieg geben, solle sie mit dem
       kleinen Sohn nach Australien auswandern. „Ich selbst habe mich inzwischen
       der Schützenunion Šaulia angeschlossen. Ich habe noch nie eine Waffe in der
       Hand gehalten. Doch jetzt will ich lernen, uns zu verteidigen. Ich werde
       für Litauen kämpfen.“
       
       Wenige Kilometer hinter Druskininkai mit den vielen bunten Holzhäuschen
       wird die Straße breiter. Schließlich taucht ein Schild auf: „Raigardas –
       Privalka, Grenzübergang Litauen-Belarus, Richtung Grodno“. Die Lkws, die
       zuvor noch so gerast waren, stehen nun hier in einer kilometerlangen
       Schlange. Schwer zu sagen, wie viele es sind: Hunderte, Tausende? Direkt
       vor dem Schlagbaum und der roten Ampel stehen drei Lkw-Fahrer zusammen und
       unterhalten sich. Alle kommen aus Belarus. Sie warten schon zwölf Stunden
       auf die Abfertigung. „Ach, das ist gar nichts“, winkt Iwan (50) aus Grodno
       ab. „Ich habe hier schon mal zehn Tage gestanden! Aber jetzt ist es
       besonders ärgerlich, denn ich habe eine Leerfahrt.“
       
       Wassili (52) bringt einen Sattelschlepper voll mit Schokolade nach Belarus
       und Mischa (36) mehrere Tonnen Mais nach Minsk. „Wenn die Sanktionen so
       weitergehen wie bisher, wird es bald keinen Handel mehr geben“, sagt
       Wassili. „Dann werden wir arbeitslos“, glaubt Iwan und Mischa wirft ein:
       „Aber die Ukrainer hat es am schlimmsten getroffen! Die verlieren nicht nur
       die Arbeit, sondern vielleicht sogar ihr Leben.“ Das Wort „Krieg“ nimmt
       keiner der drei in den Mund. Sie schauen betreten auf den Boden, [6][als
       hätten sie schon zu viel gesagt], drehen sich schweigend um und gehen zu
       ihren Lkws.
       
       30 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Russlands-Nachbar-Finnland/!5838724
   DIR [2] /Kaliningrads-Sehnsucht-nach-Europa/!5595197
   DIR [3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5835173
   DIR [4] /Forderungen-nach-einer-Flugverbotszone/!5834090
   DIR [5] /Krieg-in-der-Ukraine/!5841162
   DIR [6] /Belarus-und-der-Ukraine-Krieg/!5840641
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
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