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       # taz.de -- Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung: „Wir sind Herzensgewinner“
       
       > Anetta Kahane war 24 Jahre lang Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung,
       > nun tritt sie ab. Die Stiftung sei auch eine ostdeutsche Erfolgsstory.
       
   IMG Bild: Anetta Kahane: „Die Leute haben etwas kapiert“
       
       taz: Frau Kahane, am Donnerstag geben Sie nach 24 Jahren den Vorsitz der
       Amadeu Antonio Stiftung ab. Wie schwer fällt Ihnen das? 
       
       Anetta Kahane: Es fällt mir schwer und leicht zugleich. Schwer, weil die
       Leute hier so cool, professionell und einfach toll sind. So hatte ich mir
       das gewünscht, als wir die Stiftung gegründet haben. Aber es fällt mir auch
       leicht, weil ich diesen operativen Kram – Anträge, Gespräche, Arbeitsrecht
       – hinter mir lassen kann.
       
       1991 standen Sie [1][in Hoyerswerda], wo zuvor Migranten vertrieben wurden,
       inmitten einer Menge auf dem Markt und wurden ausgebuht, weil Sie gesagt
       haben: „Ich bin für die Ausländer.“ Hatten Sie da keine Angst? 
       
       Ich hatte keine Angst, weil die Angst, dass es schlimmer wird, viel größer
       war. Natürlich hatte ich in diesem Mob Respekt. Aber es war eben auch die
       Chance, in dem Moment etwas zu tun. Und diese Momente liebe ich. Schon in
       der DDR habe ich Rassismus im Umgang mit den Vertragsarbeitern
       angesprochen, weil der für mich nicht auszuhalten war. Der
       antifaschistische Staat war eine Illusion. Die DDR war, genau wie
       Westdeutschland, eben auch eine Nachfolgegesellschaft des
       Nationalsozialismus. Auch hier gab es Nazis.
       
       Stand Ihnen die Wut schon immer näher als die Angst? 
       
       Ich bin nicht nur wütend. Ich bin auch wahnsinnig begeisterungsfähig. Und
       ich mag Menschen. Ich bin wütend, wenn Menschen, die ich mag, etwas
       passiert. Das will ich einfach nicht. Wenn die bedroht werden, dann werde
       ich wütend. Tatsächlich ist dazwischen wenig Platz für Angst.
       
       1998 gründeten Sie die [2][Amadeu Antonio Stiftung], die die ostdeutsche
       Zivilgesellschaft im Umgang mit Rechtsextremismus stärken sollte. Ihre
       Analyse damals war düster: Migranten und linke Jugendliche würden im Osten
       gemobbt und verprügelt, die Gesellschaft schaue weg. 
       
       Schlimmer als die Nazis war die Schwäche der Politik und die Schwäche der
       Leute, die nichts gegen diesen Hass gemacht haben und die zugelassen haben,
       dass Menschen schlecht behandelt, gejagt oder getötet wurden.
       
       [3][2015 brannten wieder Unterkünfte für Geflüchtete], Polizei und Politik
       gingen wieder auf die Hetzer zu. Die AfD sitzt in allen Parlamenten, die
       Polizei lässt Querdenker-Demonstranten unbehelligt. Wiederholen sich die
       Neunziger? 
       
       Wir kommen leider immer wieder an ähnliche Punkte. Aber es gibt Dinge, die
       sich wirklich verändert haben. In den Neunzigern hatte ich das Gefühl, dass
       wir diesen Kampf gegen den Rechtsextremismus wirklich verlieren können,
       weil es so viele Zentrifugalkräfte gab und es Konsens war, dass arbeitslose
       Deutsche eben Nazis werden. Heute ist sehr vieles besser, der Diskurs
       weiter. Jetzt wissen viele, dass dieses „Wir müssen mit den Rechten reden“
       nicht funktioniert. Die Leute haben etwas kapiert.
       
       Aber die AfD und die Rechtsextremen sind trotzdem da, es gab Attentate in
       [4][Halle], [5][Hanau] oder auf [6][Walter Lübcke]. 
       
       Ja, aber auf der anderen Seite haben wir auch viele Leute, die explizit
       gegen die AfD sind und sich demokratischen Parteien zuwenden. Das war
       damals nicht so. Da war es diffuser und gefährlicher. Wir haben immer
       gesagt, 30 Prozent der Bevölkerung sind rechts oder rechtsextrem. Das
       bildet sich nun in der AfD ab. Das ist gruselig, aber es ist auch nicht
       mehr geworden. Jetzt können es nur alle sehen. Es hat sich etwas sortiert.
       
       Ist das nicht bitter nach 24 Jahren Stiftungsarbeit: dass man die Nazis
       einfach nur besser sieht? 
       
       Nein, der Erfolg ist, dass die Leute sich auch klar dagegen entscheiden.
       Mit der Stiftung wollten wir einen Paradigmenwechsel: Nicht mehr die Nazis
       pampern, sondern diejenigen stärken, die gegen die Nazis sind. Wir wollten
       mobile Beratungsstellen für die Kommunen, Opferbetreuung, Bildungsangebote.
       Politische Veränderung ist nicht per Beschluss vom Kanzler oder der
       Landrätin zu haben. Wir müssen das als Gesellschaft selbst durchdiskutieren
       und durcharbeiten. Organisationen wie unsere Stiftung haben die Leute dazu
       gebracht, dass sie das machen. Wir sind auch Herzensgewinner, nicht nur die
       Nazis.
       
       Glauben Sie Innenministerin Nancy Faeser, wenn sie den Rechtsextremismus
       als größte Bedrohung bezeichnet? 
       
       Ja, und das kommt, weil der Staat jetzt auf Zivilgesellschaft reagiert, das
       haben wir mit dem Paradigmenwechsel erreicht. Ohne dieses ganze
       Thematisieren, Drängeln und Nerven würde Frau Faeser das heute vermutlich
       nicht sagen. Die Einwanderungsgesellschaft kommt langsam an. In der
       Mehrheitsgesellschaft wird offen über Rassismus als grundsätzliches Problem
       gesprochen, auch über Antisemitismus. Da wird auch viel Blödsinn geredet,
       aber es wird gesprochen, das war in der Dumpfheit der 90er ganz anders.
       
       Also haben Sie gewonnen? 
       
       Es ist überhaupt noch nicht entschieden, wer da gewinnt. Es gibt genug
       autoritäre Kräfte, die alles wieder zurückdrängen können. Aber dass die
       Leute alles Gelernte wieder vergessen, das kann ich mir nicht vorstellen.
       
       Sind Sie eigentlich stolz, dass die Amadeu Antonio Stiftung auch eine
       ostdeutsche Erfolgsstory ist? 
       
       Ja, das ist schon cool, das ist eine Genugtuung. Heute gibt es so viele
       spannende ostdeutsche Träger und unsere Stiftung arbeitet längst
       deutschlandweit. Es zeigt, was man mit Eigeninitiative statt Meckern und
       Jammern erreichen kann.
       
       Sie wurden als Jüdin angefeindet und wegen Ihrer früheren Stasitätigkeit.
       Der Halle-Attentäter erklärte, Sie stünden ganz oben auf seiner Liste. Der
       [7][als Terrorist angeklagte Soldat Franco A.] spionierte Sie aus. Gab es
       einen Punkt, an dem Sie dachten: Ich schmeiße hin? 
       
       Nee. Ich bin da leider etwas zu tough und achte nicht so gut auf meine
       Grenzen. Aber ich musste anerkennen, dass der unglaubliche Hass mir
       natürlich an die Nerven geht. Ich muss als Symbol für ganz viele
       Projektionen herhalten.
       
       Bewaffnete Männer sind noch mal eine andere Stufe als Hass. 
       
       Wenn ich den Hass gegen meine Person ernst nehme, wieso sollte ich mich
       wundern, wenn dieser Hass konkret wird. Über die Polizei habe ich mich
       geärgert, weil die mich nicht informiert haben, als Franco A. wieder aus
       dem Gefängnis raus war und danach in Berlin herumgelaufen ist. Aber wie
       sollte ich meine Arbeit hinschmeißen? Ich kann nicht mit meiner
       Lebensgeschichte Schluss machen.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Ich kann ja nichts daran ändern, dass ich Jüdin aus dem Osten bin, Kind von
       Holocaustüberlebenden, dass ich meine Erfahrungen gemacht habe. Was hätte
       ich machen sollen? Schneiderin? Das ist mir nicht gegeben. Der Kampf gegen
       diesen Hass ist mein Thema. Die Stiftung hat mir Sicherheit gegeben. Hier
       konnte ich meine Ängste teilen und wurde verstanden. Und meine jüdische
       Perspektive hat unsere Arbeit mit geprägt: Wie geht man mit Opfern um? Wie
       sichtbar sind sie? Diese Fragen sind für uns zentral und das unterscheidet
       uns von anderen Organisationen.
       
       Auch als 2002 [8][Ihre Stasitätigkeit] publik wurde, war das kein Punkt, wo
       Sie gedacht haben, ich ziehe mich zurück? 
       
       Nein. Die IM-Tätigkeit wird eine ewige Schande in meiner Biografie bleiben.
       Aber ich bin als Mittzwanzigerin wieder bei der Stasi ausgestiegen, weit
       vor Ende der DDR. Normalerweise wird einem so etwas angerechnet in der
       Bilanz. Bei mir wurde die Stasitätigkeit aber immer wieder thematisiert.
       Und für mich hatten die Anfeindungen mehr mit meiner Arbeit gegen
       Rechtsextremismus zu tun, die sollte angegriffen werden. Dem habe ich
       natürlich nicht nachgegeben.
       
       Und was machen Sie jetzt? 
       
       Ich stehe der Stiftung weiter als Beraterin zur Seite, werde schreiben,
       eigene Projekte verfolgen, auch für andere Organisationen da sein, wenn sie
       das wollen. Ich freue mich auf eine Zeit, wo ich einfach mal gucken kann,
       was nun passiert.
       
       30 Mar 2022
       
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