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       # taz.de -- Historiker über Pastoren in der NS-Zeit: „80 Prozent haben kollaboriert“
       
       > Helge-Fabien Hertz hat die Biographien aller evangelischen Pastoren
       > untersucht, die in der NS-Zeit in Schleswig-Holstein gearbeitet haben.
       
   IMG Bild: Allseits akzeptiert: Propaganda-Aktion der Deutschen Christen zur Kirchenwahl am 23.7.1933 in Berlin
       
       taz: Herr Hertz, wie regimetreu waren Schleswig-Holsteins evangelische
       Pastoren im Dritten Reich? 
       
       Helge-Fabien Hertz: In meinem Promotionsprojekt habe ich bundesweit
       erstmalig alle Pastoren einer Landeskirche untersucht: 729
       schleswig-holsteinische Geistliche. Diese Pastoren deckten ein breites
       Spektrum an Positionierungen ab. Insgesamt kann man aber sagen, dass 80
       Prozent regimetreu waren und aktiv kollaboriert haben.
       
       Woran haben Sie das festgemacht? 
       
       Ich habe einen Katalog aus 122 Kriterien entwickelt, der von
       NSDAP-Mitgliedschaft über die „Einschwörung der Gemeinde auf das
       Hitler-Regime“ bis zu „Antisemitismus“ reicht, aber auch das „Eintreten
       gegen Antisemitismus“ umfasst. Anhand dessen konnte ich das NS-relevante
       Verhalten ganzheitlich abdecken.
       
       Welche Quellen haben Sie genutzt? 
       
       Vor allem Personal-, aber auch Entnazifizierungsakten, die Berliner
       NSDAP-Mitgliederkartei, Nachlässe der Pastoren sowie Gemeindechroniken.
       Außerdem habe ich 1.000 Predigten und Katechesen – Entwürfe für
       Konfirmandenunterricht – ausgewertet.
       
       Nehmen wir das Markanteste: Wie viele von ihnen waren Parteimitglieder? 
       
       40 Prozent der Pastoren waren in den Kern-Organisationen NSDAP, SA, SS.
       Angesichts der Tatsache, dass Pastoren nicht in die Partei eintreten
       mussten, um berufliche Vorteile zu haben, ist das eine auffallend hohe
       Zahl.
       
       Warum taten sie es dann? 
       
       Vermutlich aus Überzeugung. Die [1][Aufgeschlossenheit für den
       Nationalsozialismus] war sehr groß. Denn Schleswig-Holstein war sehr
       ländlich und protestantisch geprägt und damit tendenziell NS-affin, zumal
       der Protestantismus nationalistischer orientiert war als der Katholizismus,
       der mit der Zentrumspartei auch eine eigene Milieupartei hatte.
       Protestanten sammelten sich vor allem in der Deutschnationalen Volkspartei
       (DNVP) und später in der NSDAP.
       
       Wobei der Nationalsozialismus ein „germanisches Heidentum“ predigte. Wie
       brachten Pastoren das mit christlichen Inhalten zusammen? 
       
       Da muss man differenzieren. Natürlich war dieser dem Germanentum zugewandte
       Flügel sehr stark. Das waren die Kreise um Heinrich Himmler und Baldur von
       Schirach. Aber die NSDAP hatte auch einen christlichen Flügel. Adolf Hitler
       war bis zuletzt Mitglied der katholischen Kirche und Hermann Göring hat
       kirchlich geheiratet. Im NSDAP-Parteiprogramm war vom „positiven
       Christentum“ die Rede. Da konnten Pastoren ideologisch durchaus andocken.
       
       Wie viele waren bei den NS-nahen Deutschen Christen, wie viele bei der
       Bekennenden Kirche? 
       
       Ungefähr die Hälfte der 729 Pastoren war Mitglied der Bekennenden Kirche,
       ein Viertel bei den Deutschen Christen und ein weiteres Viertel
       kirchenpolitisch neutral.
       
       War die Bekennende Kirche nicht ein Hort des Widerstands? 
       
       Nein. Wenn es überhaupt Widerstand gab, dann zwar ausschließlich in der
       Bekennenden Kirche. Aber er blieb auch dort die Ausnahme.
       
       Wie gefährlich war es für Pastoren, Widerstand zu leisten? [2][Pastor
       Friedrich Stellbrink] – einer der „Lübecker Märtyrer“ – wurde 1943
       hingerichtet. 
       
       Ja, dieser Fall ist relativ bekannt. Da Lübeck damals eine eigene
       Landeskirche war, ist Stellbrink nicht Teil meiner Untersuchung. Und von
       den 729 schleswig-holsteinischen Pastoren wurde „nur“ einer im KZ ermordet,
       weil er sich 1945 weigerte, noch mehr Ost-Flüchtlinge aufzunehmen – ein Akt
       staatlicher Willkür. Insgesamt boten die Kirchen aber einen guten
       Schutzraum.
       
       Für wen zum Beispiel? 
       
       Pastor Friedrich Slotty etwa blieb, obwohl er sich zwischen 1934 und 1939
       immer wieder regimekritisch äußerte, unbehelligt. Er nahm Juden in Schutz
       und erklärte seinen Konfirmanden, dass der Erste Weltkrieg ohne die für
       Deutschland kämpfenden jüdischen Soldaten viel früher verloren gewesen
       wäre. Er hat Hitler attackiert und ihn in seinen Predigten Emporkömmling
       und Blutsauger genannt. Vor Gericht wurde er zweimal freigesprochen. 1939
       versetzte ihn die Landeskirche in den Ruhestand. Allerdings bekam er
       weiterhin sein Gehalt ausgezahlt und übernahm Vertretungen in anderen
       Kirchengemeinden. Das zeigt, welchen Handlungsspielraum Pastoren hatten –
       den die meisten nicht nutzten.
       
       Auch Boye Gehrckens nicht. 
       
       Im Gegenteil. Er ist schon 1930 – drei Jahre vor Hitlers „Machtergreifung“
       – sowohl in die NSDAP als auch in die SA eingetreten.
       
       In Hitlers Schlägertrupp? 
       
       Ja. Man wundert sich, wie viele Pastoren der SA beitraten – ungefähr 140
       von ihnen. Für einige konnte ich konkrete Gewalttätigkeiten nachweisen. Sie
       nahmen an sogenannten Saalschlachten teil oder prügelten sich auf der
       Straße mit Kommunisten.
       
       Wurden Pastoren auch zu Denunzianten? 
       
       Ja, ungefähr 20 von ihnen haben Menschen, meist Amtsbrüder, an die Gestapo
       oder die Kirchenbehörde verraten. Einer räumte sogar ganz frei ein, gern
       als Gestapo-Informant tätig zu sein. In Hamburg-Wandsbek zum Beispiel hat
       ein Propst einen seiner Pastoren aus dem Amt gedrängt, der mit einer
       Christin jüdischer Herkunft verheiratet war und sich nicht scheiden lassen
       wollte. Der Propst hat ihn an verschiedenen Stellen denunziert, bis er aus
       dem Dienst entlassen wurde.
       
       Waren Pastoren in Schleswig-Holstein regimetreuer als anderswo? 
       
       Das kann ich nicht beantworten, denn dies ist bundesweit das erste Mal,
       dass das für eine Landeskirche komplett erhoben wurde und dass eine solide
       empirische Grundlage existiert. Schleswig-Holstein war allerdings eine sehr
       frühe und markige NS-Hochburg, und man kann vermuten, dass manche Dinge
       hier extremer ausfielen als andernorts.
       
       Warum kommt diese Studie erst 77 Jahre nach Kriegsende? 
       
       Weil die Aufarbeitung – wie in vielen Bereichen – auch hier lange gestockt
       hat. Aber seit der Jahrtausendwende zeigt die evangelische Kirche ein
       echtes Interesse an der Aufarbeitung, die Nordkirche hat das Projekt
       unterstützt. Seitdem hat es auch kritische Studien gegeben, die das Bild
       von der Bekennenden Kirche als Widerstandsgruppierung hinterfragen. Bislang
       hat sich das aber weder in der Forschung noch im öffentlichen Bewusstsein
       durchgesetzt.
       
       Wie erging es den NS-treuen Pastoren eigentlich nach 1945? 
       
       Wie in der gesamten deutschen Nachkriegsgesellschaft wurden sie auch in der
       Kirche [3][praktisch nicht entnazifiziert]. Hinzu kommt, dass sowohl die
       evangelische als auch katholische Kirche nach 1945 darangingen, Mythen von
       sich selbst als Widerstands- und Opfergruppe zu erschaffen. So begann man
       nach 1945, Opferlisten zusammenzustellen, anstatt zu prüfen, wer
       NSDAP-Mitglied gewesen war. Dieses Narrativ wurde von der Forschung dann
       erst mal übernommen und noch lange so tradiert.
       
       15 Apr 2022
       
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   DIR Petra Schellen
       
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