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       # taz.de -- Hafenstadt Odessa im Ukrainekrieg: Stadt im Widerstand
       
       > Odessa wird seit Kriegsbeginn attackiert. Doch die Menschen in der
       > Schwarzmeerstadt tun alles, um Moskaus Angriff standzuhalten. Ein
       > Ortsbericht.
       
   IMG Bild: Vom Richter bis zum Friseur: Alle helfen bei der Befüllung von Sandsäcken (Odessa am 14. März)
       
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       Odessa taz | Odessas Strände sind vermint, und auf den Hauptstraßen der
       Stadt stehen Panzerigel, jene Stahlgestelle, die zur Panzersperre dienen.
       Das Denkmal des Stadtgründers, des Herzogs von Richelieu, ist durch
       Sandsäcke geschützt. Das Foto des berühmten Odessaer Opernhauses hinter
       Barrikaden ging um die Welt.
       
       All das weckt schmerzliche Erinnerungen daran, wie der Theaterplatz während
       der Besatzung im 2. Weltkrieg aussah. Wie fürsorgliche Eltern verpacken die
       Einheimischen die Dinge, die ihnen am Herzen liegen, um sie zu schützen.
       
       Hier in Odessa hat man bis zum letzten Augenblick nicht geglaubt, dass
       Russland die Ukraine überfallen könnte. Der überwiegende Teil der Menschen
       in dieser Stadt ist russischsprachig, und niemand hat je ihre Rechte
       verletzt.
       
       Und doch sind die Odessiten, wie die übrigen Ukrainer, am 24. Februar um 5
       Uhr morgens von den Salven der feindlichen Raketen aufgewacht. Die Stadt
       wurde von russischen Streitkräften beschossen. So etwas hätte man sich in
       seinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können.
       
       ## Sirenen und Solidarität
       
       Seit diesem Tag sind mehr als drei Wochen vergangen. [2][Einige Menschen
       haben die Stadt verlassen], andere sind geblieben. Sie sind unter
       psychischer Dauerbelastung. Sogar mit ungeschultem Auge kann man die
       russischen Kriegsschiffe vor der Küste liegen sehen. Mal kommen sie näher,
       mal bewegen sie sich in Richtung Krim und an der gesamten Küste entlang.
       
       Jeden Tag sind in der Stadt die Sirenen zu hören. Sie warnen vor der Gefahr
       von Luftangriffen. Regelmäßig hört man auch Explosionen und Schüsse. Die
       Menschen verstecken sich in Kellern, Bunkern und Tiefgaragen. Viele haben
       sich diese Schutzräume bereits mit Sesseln und Decken eingerichtet. In
       einem Haus haben die Bewohner schon vorsichtshalber die Bilder von den
       Wänden genommen, damit sie bei einem Angriff nicht herunterfallen und
       kaputt gehen.
       
       Doch trotz der Unvorhersehbarkeit der Situation lebt die Stadt weiter. In
       Odessa gibt es eine der stärksten Freiwilligenbewegungen im Land.
       Wohltätigkeitsorganisationen haben die Arbeit unter sich aufgeteilt. Einige
       verteilen Essen an Flüchtlinge, andere beliefern Obdachlosen mit
       Lebensmitteln und alte Menschen mit Medikamenten. Wieder andere versorgen
       die Verteidiger der Ukraine mit allem, was sie benötigen.
       
       Das allgemeine Elend vereint auch die Geschäftswelt. Die Spitzenrestaurants
       und die besten Köche der Stadt kochen Essen für die Menschen, die an
       vorderster Front stehen. Es gibt schon Engpässe bei Lebensmitteln, man muss
       praktisch aus dem Untergrund versorgt werden, aber die Menschen tun alles,
       um dem Sieg näher zu kommen und zum [3][friedlichen früheren Leben
       zurückkehren] zu können.
       
       ## Tausende Kuchen
       
       Auch an den Stadtstränden wird täglich auf Hochtouren gearbeitet. Zur
       Verteidigung nutzen die Odessiten Sandsäcke. Alle sind damit beschäftigt,
       diese zu füllen, vom Richter bis zum Friseur. Schulturnhallen wurden
       temporär zu Werkstätten umgewandelt, in denen Tarnnetze geknüpft werden.
       Hier arbeiten vor allem Frauen und Kinder. Die Zoos und Klöster nehmen die
       Haustiere derjenigen in Obhut, die die Stadt verlassen.
       
       Kein Odessit bleibt außen vor. Man kann in irgendein kleines Café gehen, um
       eine Tasse Kaffee zu trinken und erfährt, dass hier außer Kaffee jetzt auch
       jeden Tag mehrere Tausend Kuchen für Soldaten und Flüchtlinge gebacken
       werden. Und diesen riesigen Backprozess organisiert ein junges Mädchen.
       
       „Wegen des Kriegs hat der Kindergarten in der Nachbarschaft die Arbeit
       eingestellt. Aber dort sind Menschen, die ohne Bezahlung Piroggen backen.
       Ich backe auch“, erzählt eine Angestellte des Cafés Darja. „Also, wir
       backen jetzt gemeinsam und suchen gemeinsam nach Zutaten. Bisher hatten wir
       an keinem einzigen Tag geschlossen. Wir arbeiten, zahlen Steuern und
       Kommunalabgaben, Miete und Löhne. Wir bemühen uns, so gut es geht.“
       
       Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hat sich neulich mit einem
       Appell an die Regionen des Landes gewandt, in denen es noch verhältnismäßig
       ruhig ist. Er hat darum gebeten, zur Arbeit zu gehen und die Wirtschaft des
       Landes anzukurbeln. Märkte, kleine Cafés, Kosmetiksalons, Postämter,
       Apotheken und Geschäfte haben geöffnet. Zwar mit eingeschränkten
       Öffnungszeiten wegen des Krieges und der Sperrstunden, aber Arbeit ist
       absolut notwendig. Das verstehen alle.
       
       ## Gedichte gegen Panzer
       
       Die Regale in den Lebensmittelgeschäften leeren sich, aber niemand hungert.
       Vor allem Getreideprodukte, Fleischkonserven und Zucker sind schwer zu
       bekommen. Auch Mineralwasser ohne Kohlensäure gibt es nicht mehr. Der
       Verkauf von Alkohol ist streng verboten. Der Wechselkurs von Dollar und
       Euro stieg um einige Griwni, massiv angestiegen sind die Preise für Benzin
       und Gas. Man kann beides auch nicht mehr an allen Tankstellen bekommen.
       
       Vor einigen Tagen haben die örtlichen Schulen beschlossen, den Unterricht
       wieder aufzunehmen. Schule findet jetzt online statt, mit nur drei Stunden
       pro Tag, und besteht vor allem aus Wiederholungen des bisherigen
       Unterrichtsstoffes. Aber so sehen sich Kinder und Lehrkräfte immerhin
       wieder.
       
       In der Stadt tauchen immer mehr patriotische Graffiti, Bilder nationaler
       Symbole und ukrainische Flaggen auf. „Odessa – das ist die Ukraine!“ Selbst
       mitten im Krieg kann man hier Musik und Gedichte hören. Die Künstler der
       Stadt veranstalten Konzerte, ab und zu organisiert eine Militärblaskapelle
       Flashmobs, um damit die Stimmung der Stadtbewohner zu heben, sagen sie.
       
       Der Feind fährt zur gleichen Zeit fort, uns mit seine Kriegsschiffen zu
       bedrohen, beschießt regelmäßig die touristischen Küstenstreifen, allein
       neunzig Granaten sind in einem Naturschutzgebiet eingeschlagen. Jeder
       Odessit beginnt den Tag damit, sich durch die Nachrichten zu scrollen, dann
       nimmt er seinen Mut zusammen und geht zur Arbeit, setzt sich an den
       Schreibtisch oder leistet seinen Freiwilligendienst an der
       Wohltätigkeitsfront.
       
       Odessa wird auch das Lächeln Gottes genannt. Und trotz der Angst, des
       Schmerzes und der Traurigkeit in den Augen bleibt das Lächeln im Gesicht.
       Bis zum endgültigen Sieg. Dann werden die Tränen fließen. Salzige, wie die
       Tropfen des Schwarzen Meere. Die Tränen der Freude darüber, dass der Krieg
       vorbei sein wird.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       Tatjana Milimko ist Autorin des Tagebuchs „Krieg und Frieden“, einem
       Projekt der [5][taz Panter Stiftung],die auch diese Reportage finanziert.
       
       20 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tatjana Milimko
       
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