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       # taz.de -- Daniel Cohn-Bendit über Frankreich: „Das ist mir zu billig“
       
       > Daniel Cohn-Bendit ist linke Ikone und Kenner Frankreichs. Ein Gespräch
       > über die Wiederwahl-Chancen Macrons, den Ukrainekrieg – und die atomare
       > Frage.
       
   IMG Bild: High Tech für neue AKWs: Präsident Macron beim Turbinenhersteller GE Steam Power in Belfort, 2022
       
       taz: Herr Cohn-Bendit, Sie pendeln immer noch zwischen Frankfurt und Paris? 
       
       Daniel Cohn-Bendit: Ja. Ich habe wöchentlich eine Fernsehsendung im TV, bei
       einem französischen Nachrichtensender. „Die Debatte“, zusammen mit dem
       liberalkonservativen Luc Ferry. Da bilanzieren wir, was politisch in der
       Woche so angefallen ist.
       
       Zuletzt sicher auch den Krieg in der Ukraine. Wie nahe ist die Ukraine von
       Frankreich aus betrachtet? 
       
       Sehr nah. Der Krieg in der Ukraine ist natürlich jetzt auch Thema im
       Präsidentschaftswahlkampf. Emmanuel Macron war als Vermittler und Sprecher
       der Europäischen Union gegenüber Putin sehr präsent.
       
       Wie sind Macrons Bemühungen in der französischen Öffentlichkeit angekommen? 
       
       Also bezüglich der Ukraine sehr gut. Seine Position genießt eine hohe
       Akzeptanz, Frankreich steht ganz klar auf der Seite der Ukraine und
       unterstützt diese im Krieg gegen Putin. Im Gegensatz zu US-Präsident Biden
       beschimpft Macron aber Putin nicht verbal. Er versucht bei aller Distanz zu
       Putin-Russland sich weiterhin als Vermittler anzubieten. Was sich aber
       derzeit als eher schwierig erweist.
       
       Waren Frankreich und Macron besser als Deutschland auf den Angriff Putins
       vorbereitet? 
       
       Ja und nein. Also in Frankreich ist das Bewusstsein, sich im Zweifelsfall
       auch militärisch verteidigen zu müssen, sicher viel stärker verbreitet als
       in Deutschland. Das hat mit der Geschichte zu tun. Macron vertrat in den
       letzten Jahren dabei auch ziemlich einsam die Idee einer autonom
       funktionierenden Verteidigungsfähigkeit Europas. Für ihn hängt die
       Verteidigungsfähigkeit Frankreichs von einer gemeinsamen Europas ab. Man
       muss auf Eventualitäten wie den Einmarsch der Russen in die Ukraine
       vorbereitet sein. Aber er ging sicher nicht davon aus, dass Putin
       tatsächlich so handelt, wie er es jetzt tut.
       
       Hat Frankreich ein anderes Realitätsbewusstsein für mögliche unangenehme
       Entwicklungen als Deutschland? 
       
       Absolut. Frankreich hat nach 1945 nicht allein von einer unendlichen
       Friedensdividende geträumt, sondern auch auf die Verteidigung seiner
       Unabhängigkeit durch die Bejahung militärischer Dominanz gesetzt, inklusive
       atomarer Abschreckung. Ähnlich ist das auch bei der Atomenergie. Man will
       zwar erneuerbare Energien entwickeln, aber solange die
       Energieunabhängigkeit nicht gesichert ist, will man an der Atomenergie
       festhalten.
       
       Hat man in Frankreich verstanden, warum die Deutschen die letzten
       Jahrzehnte so unverdrossen an der Energiepartnerschaft mit Russland
       festhielten und diese immer weiter ausbauten? 
       
       Nein, das erscheint hier als ein großes Rätsel. Ist es mir selber auch.
       Diese Blindheit. Das hatten ja weder die deutsche Politik, Gerhard Schröder
       oder Angela Merkel, noch Wirtschaft, Mehrheitsgesellschaft und Medien
       wirklich in Frage gestellt. Es wäre von daher falsch, die Fehler allein der
       deutschen Politik in die Schuhe zu schieben. Billige Energie war den
       Deutschen mehrheitlich wichtiger als jegliche andere Überlegung. Dass man
       in Deutschland so schnell aus der Atomenergie ausgestiegen ist, bevor man
       aus der schmutzigen Kohleenergie rauskam, das versteht man in Frankreich
       aber auch nicht. Vom CO2-Ausstoß müsste es andersherum sein.
       
       Herr Cohn-Bendit, für das erste Kabinett Präsident Macrons wurden Sie 2018
       als künftiger Umweltminister gehandelt. Warum sind Sie es nicht geworden? 
       
       Ich bin nicht ministrabel.
       
       Warum nicht? 
       
       Damals habe ich das so begründet: Angenommen, ich bin jetzt Umweltminister.
       Dann kann ich wichtige Entscheidungen zur ökologischen Transformation
       vorantreiben. Stimmt. Aber gleichzeitig hätte ich zum Beispiel die
       französische Flüchtlingspolitik mittragen müssen. Und das kann ich nicht.
       All die Flüchtlinge auf den Schiffen da, die Frankreich abweist. In eine
       solche Kabinettsdisziplin kann ich mich nicht einbinden. Und da hätte ich
       ganz schnell wieder zurücktreten müssen. [1][Ich bin immer ein überzeugter
       Abgeordneter im Europäischen Parlament gewesen], aber Minister sind besser
       andere geworden.
       
       Sie sprachen es an, die Franzosen gelten klimapolitisch als relativ
       unbekümmert und bei Atom geradezu als unerschrocken. Der Ukrainekrieg hat
       dies wohl eher noch verstärkt? 
       
       Wenn wir den Klimawandel als Herausforderung betrachten, ist der schnelle
       Ausstieg aus der Kohleenergie wichtiger als der aus der Atomenergie.
       
       Sagt der grüne Dany oder sagen die Franzosen? 
       
       Sagen diejenigen, die rasch eine bessere CO2-Bilanz wollen. Aufgrund der
       kriegerischen Situation wird sich jetzt jedoch einiges verschieben. Es gibt
       schmerzhafte Diskussionen. In Belgien haben die Grünen gerade akzeptieren
       müssen, dass der Ausstieg aus der Atomenergie sich um zehn Jahre verzögern
       wird. Auch die Deutschen werden nun manches überdenken, ohne dass man sich
       gleich in Verratsvorwürfen ergehen sollte.
       
       Verstanden, wir stehen vor neuen Herausforderungen, aber wie sieht der
       französische Energiemix derzeit aus? Plant Macron bei einer zweiten
       Amtszeit größere Veränderungen in Richtung der Erneuerbaren? 
       
       Macron wird derzeit keine weiteren Atomkraftwerke mehr abschalten. Er will
       die bestehenden rundum erneuern und sie länger laufen lassen. Gleichzeitig
       plant er eine Offensive in Richtung erneuerbare Energien. Wobei man wissen
       muss, die Ablehnung von Windenergie ist in Frankreich geradezu
       atemberaubend.
       
       Warum das? 
       
       Die französische Kultur hat ein ästhetisches Problem damit. Man will sie
       nicht in der Landschaft stehen sehen. Aber auf dem Meer,
       Offshore-Windparks, das geht. Sonnenkollektoren fördern, das auch. Macron
       will auch in neuste Atomkraftwerke investieren, solche, wie in Finnland
       gebaut werden. Die Sicherheitsanforderungen sind sehr hoch; bis sie in
       Betrieb gehen, wird es dauern. Für die Mobilität setzt man zugleich sehr
       stark auf Energie durch CO2-neutralen Wasserstoff. Bis das alles so weit
       ist, setzt Frankreich für den Übergang auf die Atomenergie.
       
       Und der grüne Dany? 
       
       Der hört sich alles an und sagt: Die Texte, die wir in den 1970er Jahren
       geschrieben haben, waren gegen die Atomenergie. Es ging um die Gefahren
       durch Verstrahlung, den Atommüll, die einseitigen Interessen der
       Energiewirtschaft. Aber die Dramatik des Klimawandels hatten wir noch gar
       nicht richtig auf dem Schirm. [2][Das ist heute eine andere Diskussion.]
       Aber noch einmal zu Frankreich und seinem Verhältnis zu Atomenergie und
       Atomwaffen: In Frankreich bedeutet die Parole „Nie wieder …“ etwas anderes
       als in Deutschland. In Frankreich meint dieses „Nie wieder …“ nie wieder
       feindliche Soldaten auf unserem Gebiet. Während man in Deutschland mit „Nie
       wieder …“ meint: nie wieder deutsche Soldaten außerhalb der deutschen
       Grenzen. Das waren zwei unterschiedliche Lehren aus zwei Weltkriegen. Für
       Frankreich bedeuten Atomenergie und Atomwaffen die Garantie für seine
       Souveränität.
       
       Die französischen Grünen sind im jetzigen Wahlkampf relativ blass
       geblieben. Links von Macron werden die besten Chancen dem sehr
       klassenkämpferisch auftretenden Jean-Luc Mélenchon eingeräumt. Warum ist
       das so? 
       
       Ich glaube, da zeigt sich ein grundsätzliches Problem der französischen
       Linken, einschließlich der Sozialistischen Partei. Man träumt immer noch
       gerne von Revolution, schätzt demokratische Reformprozesse gering. Da ist
       viel verbale Rhetorik dabei, vom Generalstreik, der Mythos des Mai 68 …
       
       An dem [3][Sie einst selbst führend beteiligt waren] … 
       
       Ja, aber ohne das für immer nostalgisch zu verklären. Aber auch die
       französischen Grünen wollen im traditionellen Sinne sehr radikal sein,
       reden vom Bruch mit dem Kapitalismus. Doch als Grüne haben sie eben auch
       einen Anspruch auf Vermittlung und ein Funktionieren der gesamten Ökonomie.
       Mélenchon hingegen setzt kulturell auf den Mythos des Proletariers. Er
       versucht das Erbe von François Mitterrand und der Sozialistischen Partei in
       Besitz zu nehmen. Wer den Kapitalismus nicht mindestens rhetorisch
       überwinden will, gehört da nicht dazu.
       
       Mélenchon ist autoritär, zentralistisch, Putin konnte er auch immer ganz
       gut verstehen, und Venezuela oder Kuba sollen vornehmlich Opfer des
       Yankee-Imperialismus sein. Man sollte nicht vergessen: Trotz der Millionen
       Opfer von Gulag- und Sowjetsystem kam die KP in Frankreich bis Anfang der
       1980er Jahre immer auf über 20 Prozent der Stimmen. Das ist alles nicht
       leicht zu begreifen. Aber in dieser Tradition steht ein Mélenchon.
       
       Links außen Mélenchon, auf der populistischen Rechten wütende Gelbwesten,
       die für billigen Sprit Geschäfte demolieren, dazu wahrscheinlich über ein
       Drittel rechtsextreme Wähler für Le Pen und Éric Zemmour – wie stabil
       erscheint die französische Demokratie im Jahr 2022? 
       
       Der rechtsextreme Éric Zemmour scheint derzeit wieder im freien Fall. Er
       hetzt ja gegen alles und jeden. Zu ukrainischen Flüchtlingen hat er gesagt,
       sie sollen in Polen bleiben. [4][Marine Le Pen ist vorsichtiger und dagegen
       gemäßigter], auch wenn sie ebenfalls grundsätzlich gegen Migration ist.
       Zemmour und Le Pen eint, dass sie Frankreich in seiner Bevölkerungsstruktur
       biologisch bedroht sehen, sie sprechen vom „großen Austausch“. Es sind
       rassistische Vorstellungen, die auch große Teile der ehemaligen
       Sarkozy-Partei vertreten. Etwa 35 bis 40 Prozent der französischen Wähler
       dürften wieder für solche Positionen stimmen, die in Deutschland als
       AFD-affine gelten würden.
       
       Was ist Ihre Prognose für die erste Wahlrunde am 10. April?
       
       Macron wird vorne liegen. Aller Wahrscheinlichkeit werden wir einen zweiten
       Wahlgang haben mit Macron und Le Pen. Mélenchon steigt gerade wieder ab.
       Laut letzten Umfragen stabilisiert sich Marine Le Pen bei 20 Prozent,
       Macron bei 27, 28 Prozent. Das Problem in Frankreich ist, dass wir eine
       radikal gespaltene Gesellschaft haben. Die Rechtsextremen kommen zusammen
       auf an die 40 Prozent. Debatten rational zu führen wird immer schwieriger.
       Etwa um die Rentenreform. Macron will den Renteneintritt von 62 auf 65
       Jahre anheben. Da tritt dann der linke Populist Mélenchon auf den Plan und
       bekämpft das Vorhaben mit all den alten rhetorischen Finessen.
       
       Was würden Sie ihm entgegnen? 
       
       Man lebt doch heute viel länger als früher! Und man kann doch nicht jede
       Reform als rechte Politik denunzieren. Das ist mir zu billig, zu
       ideologisch, egal ob man jetzt einen Vorschlag teilt oder nicht. Ich habe
       auch Kritik an Macron. Er ist in seinen Formulierungen, seinem Vorgehen oft
       zu technokratisch. Er hat wenig Gespür dafür, wie man mit der ganzen
       Gesellschaft spricht oder mit Gewerkschaften verhandelt. Das ist ihm fremd.
       Aber das Gefährlichste für Frankreich ist diese Präsidialdemokratie.
       
       In Deutschland gibt es das Verhältniswahlrecht, die Parteien müssen nach
       dem Anteil ihrer Stimmen Koalitionen bilden. In Frankreich muss ein Macron
       mit einer Mehrheit von 28 Prozent der Stimmen gegen eine Marine Le Pen mit
       20 Prozent der Stimmen antreten. Aber auch wer es am Ende schafft, mehr als
       50 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang auf sich zu vereinigen, hat
       keine 50 Prozent der Franzosen hinter sich. Und das bleibt ein reales
       Problem.
       
       3 Apr 2022
       
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