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       # taz.de -- Lockdown in Chinas Metropole Shanghai: Zwei Tüten Chips gegen Kohl
       
       > Der Lockdown in Schanghai hat den Alltag auf das Notwendige reduziert.
       > Das Tauschgeschäft ist zurück. Die stärkste Währung: Gemüse.
       
   IMG Bild: Wer positiv getestet ist, muss ins Quarantänezentrum, hier im Messegelände in Shanghai
       
       Peking taz | Chinas führende Finanzmetropole [1][Schanghai] befindet sich
       nicht nur im flächendeckenden [2][Lockdown], sondern hat sich auch zu einer
       primitiven Tauschwirtschaft zurückentwickelt. Auf sozialen Medien berichtet
       eine Fondsmanagerin zynisch, dass sie gerade die Transaktion mit der
       höchsten Rendite in ihrer bisherigen Karriere getätigt habe: Mit einer
       Nachbarin tauschte sie zwei Tüten Chips gegen immerhin vier Limonaden,
       einen Kohl, Erdbeeren und Oolong-Tee. Die Gewinnrate betrug über 400
       Prozent.
       
       Fast sämtliche der über 26 Millionen Bewohner Schanghais befinden sich
       derzeit im Lockdown – manche seit einigen Tagen, andere bereits seit über
       zwei Wochen. Doch trotz der Ausgangssperren steigen die Coronazahlen
       weiter: Am Sonntag meldeten die Behörden 8.226 Infektionen im gesamten
       Stadtgebiet, wenn auch die allermeisten von ihnen als „asymptomatisch“
       gelistet werden.
       
       Doch aufgrund Chinas rigider „Null Covid“-Strategie dürfen die Menschen
       derzeit nur zum Massentest kurz auf die Straße, ansonsten bleiben sie in
       ihren Apartmentanlagen weggesperrt. Und wer sich mit dem Virus ansteckt,
       wird in Isolationszentren abtransportiert, wo Tausende Infizierte in
       unterkühlten Hangarhallen lagern. Mehr als spartanische Betten, tägliche
       Essensausgaben und ein paar „Heilkräuter“ kann man ihnen dort nicht bieten.
       
       Auch für den Rest der Bevölkerung ist der Lockdown eine staatlich
       angeordnete Ohnmacht, denn die Versorgung mit dem Allernötigsten hängt nun
       von Lieferpaketen der Regierung ab. Diese kommen jedoch nicht überall
       ausreichend an.
       
       ## Essensvorräte gehen aus
       
       „Es ist Tag 16 von unserem Lockdown in Schanghai und Essen ist das derzeit
       Wichtigste in den Köpfen der Menschen“, berichtet Jared Nelson, ein Anwalt.
       Auf seinem persönlichen Twitter-Account schreibt er vom derzeit tristen
       Alltag: Liefer-Apps seien die einzige Möglichkeit, um an Gemüse oder
       Fleisch zu kommen. Doch die Onlinedienste sind heillos überlastet, wie
       Nelson schreibt: „Gestern bin ich um 6 Uhr morgens aufgestanden, um eine
       Bestellung aufzugeben – aber nichts war verfügbar. Heute bislang dasselbe
       Resultat.“
       
       Es wirkt absurd: Menschen mit einem sechsstelligen Jahresgehalt sorgen sich
       über zur Neige gehende Essensvorräte. Andere Anwohner hingegen posten stolz
       – und voller Dank an die Lokalregierung – auf den sozialen Medien von ihren
       frisch gelieferten Essensrationen: Karotten, Tomaten, manchmal auch
       Meeresfrüchte sowie Fleisch.
       
       Dennoch kursieren im Internet immer mehr Videos, in denen sich der
       angestaute Frust entlädt. „Wir wollen essen!“, rufen die wütenden Anwohner
       einer Schanghaier Wohnanlage im Chorus. Die Aufnahme, mit dem Smartphone
       aus einem Fenster gefilmt, löschten die Zensoren schnell aus dem
       chinesischen Netz.
       
       Dort kursiert derzeit auch eine Notiz der Behörden, die vor
       Lebensmittelvergiftungen warnt. Einige Anwohner hatten in Schanghai
       Pflanzen entlang von Verkehrsstraßen geerntet – offenbar in der
       fälschlichen Annahme, dass es dabei sich um Lauch handeln würde.
       
       ## Scharfe Kritik kommt auch aus der EU
       
       Und erstmals seit 2020 zeichnet sich erneut ab, dass die offiziellen
       Coronadaten wohl nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Laut einer Recherche
       des Wall Street Journal haben sich etliche Mitarbeiter und Senioren in
       einem Schanghaier Altenheim mit dem Virus angesteckt. Zeugen berichten von
       mehreren Toten. In den offiziellen Statistiken tauchen sie jedoch nicht
       auf.
       
       Für den größten Aufschrei sorgten jedoch mehrere Videoaufnahmen aus einem
       Covidkrankenhaus für Kinder: Darin sind etliche Babys in Gitterbetten zu
       sehen, die vom Personal in weißen Schutzanzügen umhergeschoben werden. Wie
       die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, wurden offenbar mehrere Familien
       unter Zwang von ihren covidinfizierten Kindern getrennt. In einem Fall war
       das Neugeborene keine 60 Tage alt. Der französische Generalkonsul hat
       daraufhin ein Schreiben aufgesetzt, in dem er – stellvertretend für
       EU-Mitgliedsstaaten – die Regierung dazu auffordert, die grausame Praxis zu
       beenden.
       
       Doch eine generelle Lockerung der Maßnahmen wird es auf absehbare Zeit
       nicht geben. Erst am Samstag besuchte Chinas Vizepremierministerin Sun
       Chunlan den Coronahotspot Schanghai. Bei ihrem Inspektionsbesuch sagte sie
       der Presse, man werde „unbeirrt“ an der „Null Covid“-Strategie festhalten.
       Sie erwarte von den Behörden „rasche“ Maßnahmen, um das Infektionsgeschehen
       unter Kontrolle zu bringen.
       
       3 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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