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       # taz.de -- Indigener Aktivist über die Klimakrise: „Unsere Weisheit hat sich bewährt“
       
       > Durch ihre Lebensweise wüssten Indigene viel über Klimaschutz, sagt
       > Steven Nitah, Vertreter der kanadischen First Nations. Beachtet werde das
       > kaum.
       
   IMG Bild: Umweltprotest in Kanadas Hauptstadt Toronto im Dezember 2021
       
       taz: Herr Nitah, wie erleben Sie den [1][Klimawandel]? 
       
       Steven Nitah: Indigene Gruppen sind mit Orten verbunden. Wir leben seit
       Tausenden von Jahren an den gleichen Orten, haben eine intime Beziehung mit
       unseren Territorien, und diese Territorien sind vom Klimawandel betroffen.
       Bis zu 90 Prozent der Proteine, die indigene Gruppen in Nordkanada zu sich
       nehmen, kommen von diesem Land. Durch den Klimawandel gibt es aber
       Unwägbarkeiten in Bezug auf die Nahrung, die wir sammeln, und die
       Ökosysteme, aus denen sie stammt.
       
       Wie gehen Sie damit um? 
       
       Wir greifen auf unser Wissen zur Anpassung an die Natur zurück. Wir stärken
       die Beziehung mit den Territorien, um den Effekt zu mildern, wo wir können,
       und uns anzupassen, wo wir müssen. Wir geben dieses Wissen an die
       Generation weiter, die jetzt hier ist, und an diejenigen, die noch kommen.
       So wie wir es Tausende Jahre lang getan haben.
       
       Eine Gemeinsamkeit aller indigenen Gruppen auf der Welt ist die Einsicht,
       dass wir alle Teile der Natur sind, dass alles miteinander verbunden ist
       und dass es unmöglich ist, Natur getrennt zu verwalten.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Wenn du Natur als einen Teil von dir begreifst und dich als Teil der Natur,
       dann ergeben sich daraus bestimmte Werte. Ein Beispiel: Im Westen von
       Vancouver Island…
       
       … einer Pazifikinsel im Südwesten Kanadas … 
       
       … leben die [2][Nuu-chah-nulth]. Sie wollten ein Laufwasserkraftwerk
       errichten und verlangten, dass es so wenig Einfluss wie möglich auf den
       Fluss ausübt. Dafür haben sie mehr Zeit und Geld in die Planung gesteckt,
       damit keine Fische in das Wasser geraten, das umgeleitet wird. Aber noch
       wichtiger war, dass die Umleitung die Wassertemperatur nicht verändert,
       denn das hätte Folgen für den Lachs, was wiederum alle Lebensformen
       beeinträchtigen würde, die auf den Lachs angewiesen sind.
       
       Am Montag ist ein neuer Bericht des [3][Weltklimarats IPCC] erschienen, in
       dem es um Strategien im Umgang mit der Klimakrise geht. Hunderte
       Wissenschaftler:innen haben systematisch alle relevanten Studien
       ausgewertet und abgewogen, jetzt präsentieren sie den Regierungen und der
       Gesellschaft den aktuellen Sachstand der Klimawissenschaft. Was können
       indigene Erfahrungen da hinzufügen? 
       
       Der technische Charakter, der in diesem Bericht zum Ausdruck kommt, basiert
       auf den Prinzipien westlicher Wissenschaft. Sie hat eine Neigung, sich auf
       einen Bereich zu konzentrieren und alles andere zu vergessen. Indigene
       Wissenssysteme betrachten das ganze Bild und wie alles aufeinander Einfluss
       nimmt. Beides hat seinen Wert. Es geht nicht darum, dass die indigenen
       Nationen das Ruder an sich reißen. Wir sollten beide Systeme kombinieren
       und schauen, wie sie unsere Welt reparieren können.
       
       Ja, wie denn? 
       
       Im heutigen Wirtschaftssystem und den Werten, die daraus entstanden, geht
       es um das geringste Investment und den höchsten Ertrag. Alles andere kann
       man opfern. Wenn wir das indigene Wertesystem hinzufügen, bedeutet das eine
       gesündere Beziehung mit der Natur, sodass wir sie nicht aus Profitmotiven
       zerstören. Indigene Gruppen sollten die Möglichkeit erhalten, auch
       internationale Klimaschutzinitiativen zu beeinflussen.
       
       Welche Erfahrungen haben Sie bisher bei Verhandlungen auf nationaler Ebene
       gemacht? 
       
       Ich habe meine Gemeinschaft, die Dene First Nations, in Verhandlungen mit
       Kanada und der Provinzialregierung angeführt. Wir wollten unsere Heimat vor
       Industrieprojekten schützen. Dadurch haben wir das Thaidene-Nëné-Gebiet
       geschaffen, ein Naturschutzgebiet mit 26.380 Quadratkilometer Fläche. Das
       Wichtige ist, dass Indigene die legislative, administrative und ökonomische
       Autorität haben, ihre Wertesysteme und Gesetze in den Vordergrund zu
       stellen, ohne von der Regierung überwältigt zu werden.
       
       Es geht also um Landrechte? 
       
       Kanada will 30 Prozent seines Landes, seiner Seen und des Ozeans unter
       Schutz stellen. Die Vereinten Nationen [4][werden im Herbst wahrscheinlich
       nachziehen].
       
       Offizielle Schutzgebiete führen [5][oft zur Verdrängung der indigenen
       Gruppen], die dort leben – obwohl sogar Studien zeigen, dass indigen
       verwaltete Flächen in gutem und teils besserem Zustand sind als das
       durchschnittliche Schutzgebiet. 
       
       Warum arbeitet man nicht mit indigenen Nationen und Gruppen an deren Orten
       und gibt ihnen die finanziellen Ressourcen, gleichwertige Partner mit
       Regierungen zu sein? Wir sind in einer Krisensituation und in einem
       Klimawandel, der auf der Erde viel Leben zu vernichten droht.
       
       Ein Prinzip der Ökonomie lässt sich hier anwenden: in das investieren, was
       funktioniert. Denn was funktioniert, sind indigene Gruppen, die eine
       gesunde Beziehung mit gesunden Ökosystemen bewahren. Ihre Weisheit im
       Umgang mit ihren Territorien hat sich bewährt.
       
       Ist so eine Beziehung zum eigenen Wohnort, wie Sie ihn für indigene Gruppen
       beschreiben, denn in urbanisierten Regionen wie Europa überhaupt möglich? 
       
       Warum nicht? Es ist eine Beziehung mit einem Ort. Man muss sich fragen, wie
       sich diese Werte bei der Neuordnung von Räumen anwenden lassen, sodass die
       Natur so viel Platz hat wie möglich. Nicht in geraden Linien denken, dafür
       Flüsse begradigen und Sümpfe trockenlegen – sondern um das herum bauen, das
       Leben ermöglicht. Dann können wir Natur innerhalb von urbanen Räumen
       respektieren und sie dort wieder aufbauen, wo sie verloren gegangen ist. Es
       gibt einen Grund, warum sie da ist.
       
       Verlangt das mehr Grundlagenwissen darüber, wie die Natur funktioniert? 
       
       Nicht nur Wissen, sondern Respekt dafür, wie Mutter Erde es vorgesehen hat,
       was sie uns gibt. Naturschutzgebiete schützen oft schöne Orte, an denen man
       einen tollen Ausblick hat. Aber es wird kein Wert auf die Feuchtgebiete
       gelegt.
       
       Dabei binden Moore wie Wälder Kohlenstoff, wenn sie denn gesund und nicht
       trockengelegt sind. 
       
       Diese Gebiete zu schützen und wieder aufzubauen könnte ein Weg sein, die
       erwähnten 30 Prozent zu erreichen, besonders in Deutschland, wo es wenig
       Platz gibt. Kanada bitten wir, die nördlichen Wälder nicht zu
       industrialisieren. Sie fassen 17 Prozent der Arten der Welt, sie sind ein
       funktionierendes Ökosystem.
       
       Aber was ist der ökonomische Anreiz für Firmen und für die Regierung – auch
       für indigene Gruppen, die gerade erst aus der Armut durch den Kolonialismus
       kommen –, den Wald zu erhalten? Das ist die Rolle von Orten wie Thaidene
       Nëné. Gemeinsam mit zwei anderen von Indigenen verwalteten
       Naturschutzgebieten sind das 50.000 Quadratkilometer, die eine Milliarde
       Tonnen Kohlenstoff binden können.
       
       Sie sprachen von ökonomischen Anreizen, die auch indigene Gruppen für den
       Waldschutz bräuchten. Was meinen Sie damit? 
       
       Wenn die Welt durch Kohlenstoffdioxid-Märkte und -Kompensation Einnahmen
       von Verschmutzern generiert, kann sie indigene Gruppen mit den finanziellen
       Ressourcen ausstatten, um die Wälder zu schützen – mit ihren Wertesystemen
       und dem Besten aus der westlichen Wissenschaft. In Kanada kann das außerdem
       zur Versöhnung beitragen. Der Kolonialismus wollte die „Indianer“ loswerden
       und ihnen ihr Land nehmen. Es gibt jetzt die Möglichkeit, die Geschichte
       aufzuarbeiten.
       
       4 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Nuu-chah-nulth
   DIR [3] /IPCC-Bericht-des-Weltklimarats/!5835264
   DIR [4] /Agrarwissenschaftlerin-ueber-Naturschutz/!5792831
   DIR [5] /Studie-zu-Klima--und-Artenschutz/!5708240
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Waack
       
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