URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Hirn von der Leine
       
       > Sanfter Spötter mit niedersächsischer Sachlichkeit: Dietrich zur Nedden
       > ist tot. Nachruf auf einen Meister der stöbernden, beiseitedenkenden
       > Ironie.
       
   IMG Bild: Die Gründer der „Fitzoblongshow“: Dietrich zur Nedden (l.) und Michael Quasthoff
       
       Wenn das Gehirn zum Zentralorgan im Leben und im Sterben eines denkenden
       Menschen wird, bleibt fast nur noch die Ironie, um die vermaledeite Lage zu
       meistern. Und Dietrich zur Nedden war ein Meister der milden Ironie und des
       stöbernden Beiseitedenkens. Und er hatte einen Hirntumor. Der eines Tages
       auftauchte, wuchs, beschossen und skalpelliert wurde, für eine Weile
       verschwand, wiederkam und weiterwuchs. Ein Zustand, den er verhalten
       lächelnd allen, die er kannte, mitteilte, denn er lebte und arbeitete
       jahrelang mit seinem nur in Tomografie-Bildern sichtbar werdenden
       Begleiter. Bis der Tumor seinem Hirn keinen Platz mehr gab. Am Montag starb
       der Journalist, Schriftsteller und Wahrheit-Autor Dietrich zur Nedden in
       seiner Heimatstadt Hannover. Er wurde 60 Jahre alt.
       
       Nur logisch, dass sein letztes Buch von 2020 den Titel „Diesseits: Ein
       Hirnroman“ trug. Ein letzter autobiografischer Versuch, die tödliche
       Übernahme durch die „Fleischtomate“, wie er es nannte, erzählerisch zu
       bannen. Im Roman berichtet sein Alter Ego von der Verzweiflung, der Liebe,
       vor allem aber auch von der Komik angesichts der morbiden Situation: „Bunte
       Blitze verhedderten sich mit einem Flimmern.“ Ein starker Geist verheddert
       sich durch die Schwäche des Körpers, befreit sich jedoch aus den
       Fallstricken eines unlösbaren Konflikts durch seine Gedankenfetzen, mit
       denen alles Mögliche zusammengeführt werden kann, selbst die abseitigsten
       Dinge. Die Freiheit des Erzählers besteht darin, das Jenseits zu belächeln
       und lieber von einem Gedanken zum nächsten zu springen und daraus ein
       komisches Prinzip zu formen: den Beiseitespott.
       
       Dietrich zur Nedden war ein sanfter Spötter mit niedersächsischer
       Sachlichkeit. Erst einmal absolvierte er deshalb ein solides Studium der
       Geschichte, Soziologie und Germanistik und arbeitete als Redakteur eines
       Stadtmagazins, bevor er sich 1987 entschloss, freier Autor zu werden. Eines
       seiner großen Themen war der Fußball, was dazu führte, dass er bald darauf
       für einige Jahre Pressesprecher des beliebten Vereins SC Freiburg wurde.
       Als enger Freund des Trainers Volker Finke irritiert und amüsiert von der
       Glitzerwelt des Fußballs, schilderte er gern, dass diejenigen, die ihn
       sonst in seiner Heimatstadt nicht beachtet hatten, plötzlich zu grüßen
       begannen, weil er ab und zu mit dem populären Trainer Finke um den Maschsee
       in Hannover spazierte.
       
       Freundschaft war eines seiner großen Lebensthemen – vor allem die mit
       seinem Jugendfreund Michael Quasthoff, der ebenfalls in Hannover aufwuchs,
       um dort zum Spötter, Schreiber und Wahrheit-Autor zu werden. Der Dritte im
       Bund war Michaels Bruder Thomas Quasthoff, der später ein weltberühmter
       Bassbariton werden sollte, mehrere Grammys gewann und heute als Professor
       für Gesang an der Musik-Hochschule „Hanns Eisler“ in Berlin lehrt.
       
       ## 
       
       Ein robustes Triumvirat, aus dem eine der wichtigsten Lesebühnen
       Deutschlands hervorging, die „Fitzoblongshow“, eine „musikalisch
       unterfütterte literarische Nummernrevue“. Es wurden auf der Bühne komische
       Texte gelesen, Lieder vorgetragen und Gäste aus dem Humor-Genre präsentiert
       – nach dem gesungenen Motto des „Oblong-Songs“: „Hier wird frikassiert und
       spekuliert, reflektiert, Haha-Habermas / Try it Baby and see: Anything goes
       / Dadn-Dáda, Dadn-Dadá … “
       
       Wer einmal die Gelegenheit hatte, mit auf der Bühne der Oblongs zu stehen
       und vor allem bei der vorweihnachtlichen Endjahresaufführung mit allen
       Gästen der Saison gemeinsam dieses Lied und andere zu singen, weiß, wie der
       Himmel des Humors aussieht. Und erst recht, wenn es bei der
       After-Show-Party im legendären Lokal Vater&Sohn zur Nachbearbeitung mit
       Rauchen, Trinken und Frikadelle essen ging.
       
       Als Michael Quasthoff im Jahr 2010 verstarb, führte zur Nedden auch als
       Erinnerung an seinen kongenialen Partner die Show mit wechselnden
       Co-Moderatoren fort – bis zum 25. Jubiläumsjahr 2018, als Fitzoblong zum
       letzten Mal sein ulkiges Unwesen im Geiste seiner zwei namensgebenden
       Figuren trieb: des kleinen Ritters „Oblong Fitz Oblong“ aus der Augsburger
       Puppenkiste und des „Oblomow“, des literarischen Inbegriffs eines
       Faulpelzes, den das umtriebige Duo sich als Mahnung herbeizitiert hatte.
       Faul wäre man gern gewesen, aber der Antrieb, die allgemeinen Zustände und
       die dafür verantwortlichen Personen zu verlachen, war dann doch zu groß.
       
       ## Dienstältester Kolumnist
       
       Eher nebenher, so schien es, war zur Nedden für diverse Zeitungen und
       Radiosender tätig, vor allem für den NDR, wo er unter anderem das Gedicht
       des Tages auswählte. Für die Wahrheit war er der dienstälteste Kolumnist.
       Rund 25 Jahre lang schrieb er seine Kolumnen über den „Strafplaneten Erde“,
       berichtete von den merkwürdigen Vorkommnissen auf der Expo 2000 in Hannover
       oder betrieb, wie in einem seiner ersten Wahrheit-Stücke, exquisite
       Sprachforschung, als er 1996 ein Wort suchte, in dem „zwei Umlaute
       unmittelbar hintereinander“ erscheinen. Und er entdeckte es tatsächlich:
       die „Tüötten“. So wurden früher die weit hinauswandernden Leinen-Händler
       aus Mettingen genannt.
       
       Ein abseitiger Ort in Niedersachsen, ein bizarres Wort, ein verschüttetes
       Kuriosum – hier sammelte sich bereits alles, was zur Neddens Witz
       ausmachte. „Und Sie haben bei der Lektüre Ihrer Zeitung endlich wieder
       einmal etwas gelernt“, schloss der Autor seine Kolumne mit feiner Ironie.
       Denn ein Lehrer wollte er nie sein, obwohl wir Wahrheitistas viel von ihm
       gelernt haben. Danke dafür.
       
       Dietrich zur Nedden war, der Kalauer sei auch anlässlich seines Todes
       abschließend erlaubt, ein Hirn, das von der Leine gelassen wurde. Im
       „Hirnroman“ fragt der Autor sich selbst und die Leser: „Ist er tot? Das
       Geheimnis lässt sich bis auf Weiteres nicht entschlüsseln.“ Sein Geheimnis
       ist, dass seine komischen Gedanken für alle Zeiten weiter frei flottieren
       werden.
       
       6 Apr 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Ringel
       
       ## TAGS
       
   DIR Hannover
   DIR Humor
   DIR Komik
   DIR Comedy
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Sprache
   DIR Philosophie
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Stahl
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Eminenz des Humors
       
       Achim Frenz ist tot. Der langjährige Direktor des Frankfurter Museums für
       komische Kunst Caricatura verstarb im Alter von 66 Jahren. Ein Nachruf.
       
   DIR Sprachforscher über Stimmen: „Mündlichkeit ist sehr flüchtig“
       
       Bei welcher Emotion wir am klarsten artikulieren und warum Frauen heute
       tiefer sprechen also vor hundert Jahren, erklärt der Sprachforscher Walter
       Sendlmeier.
       
   DIR Die Wahrheit: Philosophieren über Getränke
       
       Montaigne, Bier und der Fußball: Schön, wenn so unterschiedliche Dinge im
       Namen der Philosophie doch so nahe beieinander liegen.
       
   DIR Die Wahrheit: Mythen der Südstadt
       
       Endlich haben die Kinos wieder auf. Aber der Film ist gar nicht das
       Wichtigste. Sondern der Weg zum Kino und der Weg zurück. All die
       Abschweifungen…
       
   DIR Die Wahrheit: Anmerkungen zum Tränenblech
       
       Wenn der Blick ins Ungefähre schweift, stößt er mitunter auf stahlharte
       Tatsachen – wie das Gelände gegenüber, auf dem Stahl produziert wird.