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       # taz.de -- Kritik an der Altkanzlerin: Merkels lautes Schweigen
       
       > Auch die ehemalige Regierungschefin erlag der Illusion eines friedlichen
       > Europas. Dass ihre Politik der Beschwichtigung falsch war, streitet sie
       > ab.
       
   IMG Bild: Damalige Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007
       
       Butscha, Borodjanka, Mariupol – ukrainische Städtenamen, die für
       [1][Massenmorde] stehen. Hätte man die Barbarei verhindern und diesen Krieg
       voraussehen können? Die Frage, ob diese Tragödie abwendbar gewesen wäre,
       und die Frage nach der deutschen Rolle darin werden lauter. Der ukrainische
       Botschafter Andrij Melnyk gibt [2][Bundespräsident Frank-Walter
       Steinmeier], der lange die Russlandpolitik mitbestimmte, eine
       Mitverantwortung und beschuldigt die ehemalige [3][Kanzlerin Angela Merkel]
       der Fehlkalkulation.
       
       Steinmeier gab in dieser Woche zu, sich in Putin geirrt zu haben, und nennt
       die Gaspipeline Nord Stream 2 einen Fehler. Doch diese Fehler waren auch
       Merkels Fehler, sie werfen ein anderes, trüberes Licht auf ihre Amtszeit.
       Merkel ließ dieser Tage verkünden, sie stehe zu ihrer Entscheidung im
       Zusammenhang mit dem Nato-Gipfel 2008. Auf dem Gipfel in Bukarest warb der
       amerikanische Präsident George W. Bush dafür, die Ukraine und Georgien in
       die Nato aufzunehmen.
       
       Deutschland und Frankreich waren dagegen – aus Rücksicht auf Russland. Im
       Nachhinein ist es einfach zu sagen, diese Entscheidung sei falsch gewesen,
       denn wäre die Ukraine Nato-Mitglied, hätte Russland sie zu überfallen wohl
       kaum gewagt. Doch vergangene Entscheidungen lassen sich nie allein ex post
       bewerten, sondern nur im Kontext der historischen Verhältnisse.
       
       Im Jahr zuvor hatte Putin seine Brandrede auf der Münchener
       Sicherheitskonferenz gehalten, vor der monopolartigen Machtstellung der USA
       gewarnt und die Nato-Erweiterung als „provozierenden Faktor“ bezeichnet.
       Womöglich hätte es ihm als Vorwand ausgereicht, die Ukraine schon damals zu
       überfallen, wenn die Mitgliedsländer dem schnellen Nato-Beitritt zugestimmt
       hätten. Hätte, wäre – wir wissen es nicht, weil wir die Folgen unserer
       Entscheidungen eben nicht voraussagen können.
       
       Tatsächlich war es wohl ein strategischer Fehler, dass die EU sechs Jahre
       später nicht härter reagierte, als Putin die Krim annektierte und damit
       begann, die russischen Separatisten im Donbass mit Waffen zu versorgen.
       Statt Sanktionen verhängte die EU damals nur Sanktiönchen. Man ließ Putin
       billig davonkommen, weil das Verlangen nach billiger Energie größer war als
       die Sorge davor, sich zu eng an einen Autokraten zu binden, der seine
       Wirtschaft mit den Energie-Euros auf Krieg trimmte.
       
       ## Nord Stream 2 trotz Krim-Annexion
       
       Die Merkel-Regierung spielte eine Schlüsselrolle bei dieser
       Beschwichtigungspolitik. Ein Jahr nach der Annexion der Krim winkte sie
       trotz internationaler Warnungen den Bau von Nord Stream 2 durch – auch auf
       Druck des damaligen SPD-Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel – und ließ zu,
       dass deutsche Unternehmen ihre Gasspeicher an den russischen Staatskonzern
       Gazprom verhökerten. Die günstige Energie und der Wohlstand, den sie
       sicherte, schlugen die Bedenken.
       
       Und die Mehrheit der Deutschen sah es ja ebenso. Kaum jemand empörte sich
       über die Abhängigkeit von Russland, sondern lieber über die skeptischen
       Grünen und zu hohe Preise. Merkel, die Strategin, die Staatslenkerin, hätte
       es eigentlich besser wissen müssen. Doch sie glaubte eben auch daran, dass
       nationale Aufgaben und wirtschaftliche Interessen kompatibel seien und man
       es Unternehmen überlassen könnte, beide wahrzunehmen.
       
       Die der DDR-Planwirtschaft Entkommene scheute vor staatlichen Vorgaben
       zurück. Ein Kardinalfehler, wie sich auch bei anderen nationalen
       Großaufgaben zeigte. So ließ der Merkel’sche Nachtwächterstaat zu, dass
       der Ausbau der erneuerbaren Energien stockte, weil Sonnenenergie zu teuer
       und Windkraft zu streitbehaftet war. So versandete die Digitalisierung,
       weil die Anbieter kühl kalkulierten, dass sich zusätzliche Funkmasten in
       der Uckermark oder der Eifel nicht rentieren.
       
       So driftete die Gesellschaft weiter auseinander, weil jede Arbeit besser
       sein sollte als keine und Wohnen vor allem ein Markt und kein Grundrecht.
       Merkel, die die Dinge zusammenhalten wollte, hat weder die deutsche
       Gesellschaft noch den europäischen Kontinent zusammenhalten können. Sie
       wird ihren Anteil an Russlands Krieg sehen, aber sich wohl kaum dazu
       äußern. Es war nie ihre Art, die Dinge aus dem Off zu kommentieren.
       
       9 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Massaker-im-ukrainischen-Butscha/!5843393
   DIR [2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-04/frank-walter-steinmeier-russland-politik-fehler
   DIR [3] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/russland-politik-101.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
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