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       # taz.de -- Getreidemangel im Libanon: „Die Leute müssen ja essen“
       
       > Bislang hat der libanesische Mühlenbesitzer Bachar Boubess auf Weizen aus
       > der Ukraine gesetzt. Nun erschwert der Krieg seine Geschäfte.
       
   IMG Bild: Irgendwie geht der Betrieb weiter, obwohl es an so vielem mangelt
       
       Beirut taz | Ohrenbetäubender Lärm herrscht in der Weizenmühle von Bachar
       Boubess. Stromgeneratoren summen, Weizenkörner rauschen durch Rohre aus der
       Decke in die Maschinen, in denen das Getreide gegen Metallwalzen rieselt.
       Der Schrot wird in sogenannten Sichten gesiebt und prasselt dann in den
       nächsten Mahlstuhl. Die Körner durchlaufen insgesamt fünf geriffelte Walzen
       und sieben Feinriffel- und Glattwalzen. Immer wieder werden sie gemahlen,
       gesiebt, verfeinert, bis sie Mehl ergeben, das in 20 Meter tiefen Silos
       lagert und schließlich durch große Trichter in Säcke gelangt.
       
       Im Kontrollraum zeigt ein digitaler Graph an, wie viel Weizen jedes Gerät
       mahlt. 2.000 Kilogramm schaffen die Maschinen aus der Türkei, 9.000 Kilo
       die aus der Schweiz. 11 Tonnen pro Stunde mahlen die Apparate alle zusammen
       an diesem Dienstag. Manchmal geht die Leistungskurve steil nach unten, wird
       flach. Entweder, es wurde absichtlich etwas umgestellt – oder der Strom ist
       mal wieder ausgefallen. In einem unteren Stockwerk stehen zwei riesige
       Generatoren. Die braucht es, weil der Staat kaum noch Strom liefert.
       Privatwirtschaftliche Anbieter gibt es nicht, und so sind selbst
       beschaffte, mit Diesel betriebene Motoren nötig. Doch die Generatoren
       dürfen nicht pausenlos durchlaufen, sie würden überhitzen.
       
       ## An Stromausfälle ist man gewöhnt, an Lieferprobleme nicht
       
       Viele Herausforderungen haben die Getreidemühlen im Libanon dieser Tage zu
       meistern. Das Stromproblem ist eine davon – der Krieg in der Ukraine eine
       andere. Seit mehr als 20 Jahren importieren Bachar Boubess’ „Modern Mills
       of Lebanon“ Weizen aus der Ukraine. Warum gerade von dort, erklärt der
       Geschäftsführer so: „Erstens: Ukrainisches Weizen hat die richtigen
       Backeigenschaften für das libanesische Brot. Zweitens ist es
       wettbewerbsfähig im Preis, deutscher oder russischer Weizen ist teurer. Und
       drittens können wir aus der Ukraine kleinere Mengen kaufen, während wir aus
       anderen Ländern große Schiffe beladen müssen.“
       
       Als Russland am 24. Februar in die Ukraine einfiel, lag ein frisch
       beladener Frachter mit ukrainischem Weizen bereits in der Türkei. Die 3.000
       Tonnen kamen bei Bachar Boubess noch an, doch die nächste Lieferung fiel
       dann schon aus. Alternativen für ukrainischen Weizen gebe es viele, sagt
       der Mehlproduzent: Bulgarien, Rumänien, Ungarn oder Moldawien könnten in
       den Libanon liefern. „Das hat nicht denselben Preis und nicht dieselbe
       Qualität – aber die Leute müssen essen.“
       
       Deutscher Weizen sei qualitativ hochwertig, aber viel zu teuer.
       „Französischen, amerikanischen, kanadischen, australischen, argentinischen
       oder – [1][worüber alle gerade sprechen – indischen Weizen] gibt es auch“,
       setzt der Mühlenbetreiber die Lieferantenliste fort. „Aber mit Getreide von
       dort haben wir bisher keine Erfahrung.“
       
       Bachar Boubess sitzt an einem langen Schreibtisch in seinem Büro, von dem
       aus er auf die beigefarbenen Betonsilos nebenan schauen könnte, wären die
       lichtdurchlässigen Vorhänge nicht zugezogen. Der Geschäftsführer wirkt
       gelassen, dabei wechseln sich sein Handy und Telefon während des Gesprächs
       mit dem Klingeln ab. Am nächsten Tag soll eine Fracht Weizen aus Bulgarien
       kommen. „Das letzte Mal, als wir ukrainischen Weizen gekauft haben, haben
       wir 335 US-Dollar pro Tonne bezahlt. Wegen des Kriegs liegt der Vertrag auf
       Eis. Für die nächste Fracht aus Bulgarien haben wir 499 Dollar hingelegt.“
       Eine Preissteigerung von 49 Prozent. „Das Gute ist: Normalerweise kommt die
       Ernte im Juni, Juli. Und wenn geerntet wird, gibt es viel Ware. Wir hoffen
       also, dass die Preise bald wieder sinken werden.“
       
       Im Libanon wird Weizen vom Staat subventioniert. Für die Weizenmühlen
       bedeutet das Extraarbeit: Boubess wendet sich mit einer vorläufigen
       Rohstoffrechnung an seine Bank, die leitet die Anfrage [2][an die
       Zentralbank] weiter. Dort liegt sie ein paar Wochen, bevor eine erste
       Bestätigung an Boubess’ Bank zurückgeht. Wenn das Schiff angekommen ist,
       muss der Minister für Wirtschaft und Handel den Eingang per Unterschrift
       bestätigen. Die Originalrechnung und andere Dokumente gehen wiederum an die
       Bank der Mühle, die sie an die Zentralbank weiterleitet.
       
       Nach drei oder vier Wochen, so Boubess, stimmt die Zentralbank für
       gewöhnlich zu. Dann kann er endlich zu seinem Geldinstitut gehen und dort
       libanesische Pfund (Lira) zu einem vergünstigten Umrechnungskurs in
       US-Dollar tauschen, um die Ware zu bezahlen. Der Mühlenbesitzer tritt dabei
       immer in Vorkasse. Ob neue Lieferungen weiterhin subventioniert werden,
       weiß Boubess nicht. Denn der Libanon ist bankrott, bald wird die
       Zentralbank ihre Zahlungen wohl einstellen müssen.
       
       Alternativen zum Weizenmehl gäbe es durchaus: Kokosnuss-, Leinsamen-,
       Mandelmehl zum Beispiel. „Vom Nährwertprofil her ist Weizen aber das
       Beste“, sagt Boubess. Und die Alternativen sind wiederum zu kostspielig für
       die meisten Verbraucher*innen. 1.000 Gramm Weizenmehl kosten 14.000 Lira,
       während für die gleiche Menge Kokosnussmehl 65.000 fällig sind. Weit über
       die Hälfte der libanesischen Bevölkerung dürfte in Armut leben,
       verlässliche Statistiken dazu gibt es nicht.
       
       ## Löhne stagnieren auf erbärmlichem Niveau, Preise steigen
       
       Seit Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2019 hat die Lira jedenfalls 90
       Prozent ihres Wertes eingebüßt. Dennoch bekommen etwa staatliche
       Angestellte ihre Gehälter weiterhin im alten Umrechnungskurs ausgezahlt.
       Eine langjährige Lehrerin an einer staatlichen Schule verdient rund 2,5
       Millionen Lira, die inzwischen umgerechnet nur noch knapp 110 US-Dollar
       wert sind. Einfacher gesagt: Der Lohn blieb all die Zeit gleich – obwohl
       die Preise dramatisch steigen.
       
       Eine Packung des typischen libanesischen Fladenbrotes ist inzwischen auch
       deshalb so teuer, weil ja nicht nur das Mehl, sondern auch Hefe, Öl, Benzin
       und Arbeitskraft drinstecken. Letztere ist mittlerweile ein echtes Problem
       für den Mühlenbesitzer Boubess. Früher beschäftigte er ausländische
       Arbeiter*innen aus Bangladesch oder Syrien. Doch für viele sind die
       Löhne zu niedrig, um ihren Lebensunterhalt noch davon zu bestreiten,
       deshalb bleiben sie weg.
       
       Allen Schwierigkeiten zum Trotz werden Mehl und Brot aber nicht aus den
       Regalen verschwinden, sagt Boubess. In seinem Betrieb habe er noch
       subventionierten Weizen für ungefähr 20 weitere Tage auf Lager. „Zusammen
       mit dem Weizen, den wir bereits zugekauft haben, kommen wir mit unseren
       Vorräten über die nächsten 40 oder 45 Tage.“ Doch die Qualität des Mehls
       und damit des Brotes werde spürbar abnehmen. Außerdem prophezeit er weitere
       Preissteigerungen von bis zu 30 Prozent. Dabei sei die Inflation ein noch
       größeres Problem als der Krieg in der Ukraine.
       
       Ortswechsel zum Hafen von Beirut: Dort sind zerquetschte Container,
       verkohlte Autos, das ausgebrannte Stahlgerüst eines einstigen Warenlagers
       zu sehen, ein rotes Schiff liegt umgefallen in einem mit Wasser gefüllten
       Krater. Daneben ragt zerfetzter Beton in den Himmel. Als hier am 4. August
       2020 ungesichert gelagertes Ammoniumnitrat detonierte, zerstörte die
       Explosion auch das zentrale Weizensilo am Hafen. Die massiven Betonwände
       des in den 1970er Jahren errichteten Baus hatten die Druckwelle
       gewissermaßen abgefedert und so den Westteil der Stadt vor zusätzlichen
       Schäden bewahrt. Seither mahnt die Siloruine [3][an das verheerende
       Unglück], in ihrem Innern: verkokelter Weizen.
       
       ## Alles aufgeben? Nein, das kommt nicht in Frage
       
       Auch Bacha Boubess hat Getreide bei der Explosion verloren. Dass das Silo
       nicht wieder aufgebaut ist, hat weitere wirtschaftliche Konsequenzen für
       sein Unternehmen: „Wir mieten jetzt einen Kran mit Greifer, der direkt auf
       den anlandenden Schiffen positioniert wird und sie entlädt.“ Am Hafen muss
       dann ein Lkw bereitstehen, der die Ladung direkt in das Silo von Modern
       Mills of Lebanon transportiert. Sollte selbiges noch voll sein, müssen die
       Lieferschiffe in der rund 70 Kilometer entfernten Stadt Tripoli andocken,
       um den Weizen dort zwischenzulagern.
       
       Im Büro von Boubess stehen Bilderrahmen mit Fotos seiner Frau und seiner
       Kinder, an einer Wand hängt ein Foto seines Vaters. „Ich bin die zweite
       Generation, mein Sohn ist die dritte“, erklärt Boubess. 1965, mitten im
       libanesischen Bürgerkrieg, hat sein Vater die Firma gegründet. Nun arbeitet
       Bachar Boubess dort schon seit 42 Jahren, sein Sohn Karim soll ihm als
       Geschäftsführer folgen. „Das Mehlmahlen liegt mir im Blut. Im Grunde habe
       ich meine Kindheit in der Mühle verbracht.“
       
       Wieso macht er trotz aller Widrigkeiten weiter? „Manchmal denke ich,
       vielleicht wäre es besser für uns, das Geschäft zu schließen und unser
       Leben zu genießen. Aber wir haben 70, 80 Leute, die für uns arbeiten, und
       mein Sohn mag das Geschäft und möchte es gerne weiterführen. Es ist eben
       ein Familienunternehmen“, sagt Bacha Boubess. Und: „Es ist wirklich
       schwierig, es einfach zu schließen – und dann zu vergessen.“
       
       10 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Neumann
       
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