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       # taz.de -- Erdgasförderung in den Niederlanden: Auf schwankendem Terrain
       
       > Eigentlich sollte der Gashahn in Groningen wegen der dadurch ausgelösten
       > Erdbeben abgedreht werden. Doch jetzt wird neu verhandelt.
       
   IMG Bild: Risiko Erdbeben: ein abgestütztes Haus in der Region Groningen
       
       Groningen taz | Den Haag am 31. März. Andächtig lauschen die Abgeordneten
       im niederländischen Parlament der Ansprache [1][Wolodimir Selenskis]. Der
       ukrainische Präsident fordert mehr Waffenlieferungen, bittet um eine
       Mitgliedschaft in der Europäischen Union und einen Boykott von russischem
       Öl und Gas. „Seien Sie bereit, die Energie aus Russland zu stoppen! Das ist
       entscheidend, um zu verhindern, dass Russland weiter in Europa Krieg führen
       kann.“
       
       Loppersum, Provinz Groningen, 1. April. Am Abend wackelt unter dem Dorf die
       Erde. Bewohner*innen berichten von einem explosionsartigen Knall und
       von Häusern, in denen alles zittert. Die Stärke auf der Richterskala: 2,7.
       Wobei dieser Wert wenig über den Effekt aussagt, denn Erdbeben in Groningen
       finden nur etwa drei Kilometer unter der Oberfläche statt. Es sind keine
       tektonischen, sondern sogenannte induzierte Beben. Ihre Ursache: die
       Erdgasförderung unter der Provinz.
       
       Eigentlich brauchen die Niederlande die Rede Selenskis nicht, um an eine
       besonders heikle Frage erinnert zu werden. Wenn es darum geht, die
       Abhängigkeit von Russland zu verringern, ist es dann nicht naheliegend, den
       Beschluss zu revidieren, den die Regierung 2019 nach jahrelangen Protesten
       traf: nämlich nach 2022 den Gashahn in [2][Groningen] zu schließen und
       Ausnahmen höchstens in besonders kalten Wintern zu erlauben?
       
       Das Gasfeld im Nordosten der Provinz, 1959 entdeckt und seit 1963 in
       Betrieb, ist mit einer Kapazität von ursprünglich rund 2.800 Milliarden
       Kubikmetern das größte Europas. Etwa 450 Milliarden Kubikmeter sind noch
       übrig. Doch die Erdbeben, ausgelöst durch die unterschiedliche Dichte der
       Gesteinsschichten im Boden, nahmen in den 2010er Jahren derartig zu, dass
       die Sicherheit der Bewohner*innen nicht mehr gewährleistet war, zumal
       zukünftig Beben der Stärke 4 oder 5 vorausgesagt wurden. Selbst bei
       eingestellter Förderung wird erwartet, dass die sogenannten Gasbeben noch
       Jahre anhalten.
       
       ## Gas trotz Erdbebenrisiko weiter fördern
       
       Als der damalige niederländische Wirtschaftsminister Stef Blok kurz nach
       Neujahr ankündigte, die geplante Fördermenge für das laufende Gasjahr – bis
       Oktober 2022 – von 3,9 Milliarden auf 7,6 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen,
       protestierten in Groningen weit über 10.000 Menschen mit einer
       Fackeldemonstration. „Auch wenn Putin ein Arsch ist, Hände weg von unserem
       Gas!“, war auf einem Transparent zu lesen. Auch wenn man zu jener Zeit noch
       nicht von einem russischen Angriff auf die Ukraine ausging: Dass die Frage
       nach dem Groninger Gas wieder auf die Agenda käme, zeichnete sich ab.
       
       Durch den Krieg ist das Thema nun in der Diskussion. Anfang April
       appellierte die „Vereinigung für Energie, Milieu und Wasser“, die
       Interessenvertretung industrieller Energie- und Wasserverbraucher, mehr
       einheimisches Gas zu fördern, um zu verhindern, dass Fabriken schließen
       müssten oder essenzielle Produkte wie Sauerstoff für Krankenhäuser nicht
       mehr ausreichend bereitständen. Zudem ist die Regierung bis 2030 an
       Gaslieferungsverträge mit den Nachbarn Deutschland, Belgien und Frankreich
       gebunden.
       
       Jesse Frederik, der Ökonomieexperte der Online-Zeitung [3][De
       Correspondent] und alles andere als ein Fürsprecher fossiler
       Energiequellen, plädierte zwei Wochen nach Beginn der russischen Invasion
       dafür, den niederländischen Gashahn wieder zu öffnen und die Menschen in
       der Region dafür zu entschädigen. Selbst bei Nutzung sämtlicher, also auch
       schmutzigster verfügbaren Energiequellen, rechnete er vor, gelänge es
       nicht, einen Ausfall russischen Gases zu kompensieren.
       
       Im EU-Vergleich sind die Niederlande weit weniger abhängig von Russland als
       etwa Deutschland. 15 Prozent beträgt der Anteil der Importe, weniger als
       die Hälfte des europäischen Durchschnitts von 34 Prozent. Deutschland hängt
       zu 55 Prozent aller Importe am russischen Gas. Dennoch sind die
       Niederländer, seit die Groninger Förderung drastisch reduziert wurde, vom
       Netto-Exporteur zum -Importeur geworden und damit nicht nur abhängiger,
       sondern auch anfälliger bei Preissteigerungen.
       
       ## Loppersum, das Zentrum des Erdbebengebiets
       
       Ende Februar fanden zwei Drittel der Teilnehmer*innen einer Umfrage
       eines TV-Magazins, die Lage rechtfertige es, vorübergehend wieder mehr Gas
       in Groningen zu fördern. In eine ähnliche Richtung verweist ein von der
       Groninger Regionalzeitung [4][Dagblad van het Noorden] publiziertes
       Stimmungsbild: 83 Prozent wollen den Import von russischem Gas beenden, 61
       Prozent den hiesigen Gashahn wieder aufdrehen, bis zur Höchstmenge von 12
       Milliarden Kubikmeter jährlich, welche die staatliche Minenaufsicht für
       sicher hält – vorausgesetzt, dass alle Gebäude entsprechend verstärkt sind.
       
       Merel Jonkheid, Sprecherin der Groninger Bodenbewegung, kritisiert die
       Umfrage als „irreführend“, denn bisher seien erst 14 Prozent von 27.000
       anfälligen Gebäuden begutachtet. Bis alle vollständig erdbebensicher seien,
       würden noch Jahre ins Land gehen, bemerkt sie. Öffne man den Gashahn
       wieder, verändere das zudem die Bewertungsgrundlage, denn Beben würden dann
       häufiger und schwerer. In einem Artikel im NRC Handelsblad folgert sie:
       „Das Gasproduktionsproblem ist keines, das sich mit mehr Geld lösen lässt.
       Es ist ein Sicherheitsproblem.“
       
       Der zuständige Staatssekretär für Minenbau, Hans Vijlbrief, machte Anfang
       April bekannt, dass die Fördermenge des laufenden Jahres 4,5 Milliarden
       Kubikmeter nicht überschreiten solle. Damit schließt er sich einer
       Einschätzung der Minenaufsichtsbehörde an, die von einer erhöhten
       Gasförderung abrät. „In der heutigen Situation ist die Sicherheit der
       Einwohner unzureichend gewährleistet“, heißt es dort. „Bei Tausenden
       Häusern besteht bei einem schweren Erdbeben Einsturzgefahr.“ Anzunehmen,
       dass das Thema damit vom Tisch ist, ist freilich naiv.
       
       Wer sich in Loppersum, das als Zentrum des Erdbebengebiets gilt, umhört,
       bekommt einen Eindruck von seiner Komplexität. „Vor dem Krieg sagte ich:
       Der Gashahn muss geschlossen werden. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher“,
       sagt eine Frau. „Letzte Woche war gutes Wetter. Jetzt müssen wir die
       Heizung wieder hochdrehen, da fühlt sich das schon anders an.“ Eine rüstige
       Rentnerin fordert: „Die Leute hier müssten zumindest kompensiert werden.“
       Kopfzerbrechen bereitet ihr, woher Ersatz für russisches Gas kommen soll.
       „Es ist ja nicht so, dass alle eine Wärmepumpe hätten.“ Dass das Emirat
       Katar nun als Lieferant in den Fokus rückt, findet sie „komplett
       lächerlich“.
       
       12 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=HvVM7bswJhI
   DIR [2] /Gasgewinnung-in-den-Niederlanden/!5834114
   DIR [3] https://decorrespondent.nl/
   DIR [4] https://dvhn.nl/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Müller
       
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