URI: 
       # taz.de -- Rücktritt der Bundesfamilienministerin: Das laute Schweigen der Grünen
       
       > Anne Spiegel wollte das Amt der Familienministerin nicht aufgeben. Die
       > Spitzen-Grünen verzichteten aber darauf, sie öffentlich zu stützen.
       
   IMG Bild: Mit einem Statement vor laufenden Kameras wollte sich Spiegel am Sonntagabend freikämpfen
       
       Husum und Frankfurt/ Main taz | Der Montag, das kann man zumindest sagen,
       verläuft für die Grünen nicht nach Plan. Der Bundesvorstand der Partei hat
       sich in Husum versammelt, um in einem Hotel nahe der Nordsee zu tagen.
       PR-Termine sind vorgesehen, unter anderem mit den
       Spitzenkandidatinnen für Schleswig-Holstein, wo im Mai ebenso gewählt
       wird wie in Nordrhein-Westfalen. Schöne Bilder, gute Laune, Rückenwind für
       den Frühling: So war das gedacht.
       
       Aber daraus wird erst mal nichts. Krisensitzungen und Telefonate laufen
       schon seit Sonntag. Vorstand, Kabinettsmitglieder, die Familienministerin
       selbst: In wechselnden Runden berät die Partei über die Krise. Es sind
       offenbar zähe Gespräche, auf jeden Fall bringen sie den Zeitplan
       durcheinander. Der Klausurstart verzögert sich um eine halbe Stunde, um
       eine Stunde, um zwei Stunden.
       
       Es ist schließlich 14.37 Uhr, als weit weg, in Berlin, Anne Spiegel eine
       Pressemitteilung verschicken lässt: „Ich habe mich heute aufgrund des
       politischen Drucks entschieden, das Amt der Bundesfamilienministerin zur
       Verfügung zu stellen“, schreibt sie darin. Am Ende der Mail, unterstrichen,
       ein Hinweis: „Es besteht keine Möglichkeit für O-Töne bzw. Interviews.“
       Bloß nicht noch mal Bilder wie am Vorabend.
       
       Ricarda Lang und Omid Nouripour warten noch mal eine knappe Viertelstunde
       ab, bevor sie in Husum aus dem Tagungshotel treten. Im Halbkreis sind vor
       dem Gebäude schon die Kameras aufgebaut. Die beiden Parteivorsitzenden
       wirken müde, sie halten sich kurz. „Hinter uns als ganze Partei liegen
       schwierige Stunden“, sagt Lang. „Der Schritt, jetzt zurückzutreten, ist bei
       aller großen Härte und so schwierig diese Entscheidung auch war, richtig“,
       sagt Nouripour.
       
       ## Seit Wochen in der Kritik
       
       Aus seinen Worten lässt sich ablesen, dass sich Anne Spiegel aus der
       Partei in den Stunden zuvor viel hat anhören müssen – so lange, bis der
       Druck irgendwann doch größer wurde als ihr enormer politischer Ehrgeiz.
       „Große Härte“: Das kann man über Spiegels letzte anderthalb Tage im Amt
       sagen.
       
       Schon seit Wochen stand die Grünen-Politikerin in der Kritik. Grund waren
       zunächst Fehler beim Krisenmanagement während der Flut in Rheinland-Pfalz,
       wo sie als Landesumweltministerin zuständig war. Am Sonntagmorgen erreichte
       der Druck ein neues Level, nach dem die Bild berichtet hatte, dass Spiegel
       zwei Wochen nach der Flut für vier Wochen in den Urlaub fuhr. Der Zeitung
       sagte sie zunächst, sie habe sich aus Südfrankreich zumindest per Video in
       Kabinettssitzungen zuschalten lassen. Stimmte nicht, was die ganze Sache
       noch schlimmer machte.
       
       Mit einem Statement vor laufenden Kameras wollte sich Spiegel schließlich
       am Sonntagabend freikämpfen. Ein missglückter Versuch: [1][Eine Politikerin
       am Rande ihrer Kraft] stand da vor den Kameras, so erschöpft wie
       aufgewühlt. Anne Spiegel berichtete von privaten Problemen, über die sie
       bisher nicht öffentlich gesprochen hatte: den Schlaganfall ihres Mannes,
       die Härten der Pandemie für eine Familie mit vier Kindern und die Grenzen,
       an die sie alles zusammen neben ihren politischen Spitzenämtern brachte –
       im letzten Sommer und jetzt offensichtlich noch mal. Am Ende des Videos
       blickt sie suchend zur Seite, weiß nicht, wie sie ihre Erklärung beenden
       soll, versucht es dann mit einer Entschuldigung.
       
       Rund sieben Minuten dauerte dieser Auftritt, und es war bedrückend, dabei
       zuzusehen: Weil das Statement schlecht vorbereitet war. Weil es Anne
       Spiegel offensichtlich schlecht ging. Und, auch, weil die
       Familienministerin dort schon am Sonntagabend sehr alleine dastand. Nach
       dem Bericht der Bild am Morgen herrschte bei den Grünen den ganzen Tag über
       Stille. Öffentlich erklang bis zum Abend keine einzige prominente Stimme,
       die ihr zur Seite sprang. Die sechs wichtigsten Grünen – Habeck, Baerbock,
       die Fraktionschefinnen Dröge und Hasselmann, dazu Lang und Nouripour –
       schwiegen auch den ganzen Montagvormittag noch. Intern sollen sie Spiegel
       allerdings schon am Vortag einstimmig zum Rücktritt geraten haben,
       irgendjemand lancierte das am nächsten Tag auch noch an die Bild. Viel
       deutlicher als durch dieses Schweigen kann man einer Parteifreundin nicht
       das Misstrauen aussprechen.
       
       ## Gruseliger Chatverlauf
       
       Im krassen Kontrast dazu: Die Unterstützungswelle, die nach Spiegels
       Auftritt vom Sonntag unter Grünen aus der zweiten Reihe startete. Volle
       Solidarität, hohe Moral. „Mütter können es nur falsch machen“, twitterte
       die Abgeordnete Nina Stahr. „Diese Debatte hat auch eine massiv
       frauenfeindliche Qualität“, schrieb ihr Kollege Sven-Christian Kindler. Und
       der Europaabgeordnete Michael Bloss: „Wenn die CDU es schafft, sie
       abzuschießen, können wir das mit Politik und Familie auch ganz lassen.“
       
       Nicht komplett falsch lagen sie damit. Die komplette Geschichte ist dann
       aber doch noch vielschichtiger – angefangen mit Spiegels Krisenmanagement
       während der Flut. Die Irritationen über ihr Verhalten damals konnte sie mit
       ihrem Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen
       Landtags vor wenigen Wochen nicht auflösen. Dass ihr Ministerium noch am
       Nachmittag vor der Katastrophe in einer Pressemitteilung die trügerische
       Entwarnung verbreitet hatte, im Land sei „kein Extremhochwasser“ zu
       erwarten, konnte sie nicht wirklich erklären.
       
       Das besonders stark betroffene Ahrtal kam in dieser Pressemeldung gar nicht
       vor, wohl aber die umfangreichen Maßnahmen zum präventiven
       Hochwasserschutz, die sich in dieser Nacht als unzureichend erweisen
       sollten. Eine spätere Warnung des Landesamts für Umwelt erreichte am Abend
       zwar einen von Spiegels Staatssekretären, aber nicht die Einsatzleitungen
       des Katastrophenschutzes.
       
       In die parlamentarische Untersuchung sind die Ministerin und ihr damaliger
       Stab ohnehin mit einer gewaltigen Hypothek geschlittert. Aus den Akten des
       Untersuchungsausschusses war ein gruseliger Chatverlauf an die
       Öffentlichkeit gelangt. In den Stunden, als im Ahrtal noch Hubschrauber im
       Einsatz waren, um Menschen mit Seilwinden von Dächern und Bäumen zu retten,
       sorgten sich die Ministerin und ihr Pressesprecher wohl vor allem um
       Imagefragen. Sie tauschten sich über das richtige „Wording“ für die
       Öffentlichkeitsarbeit aus.
       
       ## Am Ende nicht mehr tragbar
       
       Wäre es nur das gewesen: Als Bundesministerin, neun Monate später, hätte es
       Spiegel wohl ausstehen können. Auch die Urlaubsreise, zwei Wochen nach der
       Flut angetreten, hätte – angesichts der privaten Umstände – vielleicht
       durchgehen können. [2][Erschwerend kam nun aber die falsche Behauptung
       gegenüber der Bild-Zeitung hinzu]; und ein ähnlicher Fall aus
       Nordrhein-Westfalen, wo CDU-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser gerade
       erst zurückgetreten ist – wegen eines Urlaubs rund um die Flutereignisse.
       Die beiden Fälle sind nicht eins zu eins zu vergleichen, die Latte für
       Spiegel war durch diesen Rücktritt aber gesetzt.
       
       Auf jeden Fall: Für die führenden Grünen war die Ministerin am Ende nicht
       mehr tragbar, schon gar nicht jetzt vor den beiden wichtigen
       Landtagswahlen. Sie werden sich jetzt aber wohl mit neuen Fragen
       konfrontiert sehen: Lief es bei der Besetzung wie bei der Kür von Annalena
       Baerbock zur Spitzenkandidatin 2021? Nicht gut vorbereitet war ihre
       Kandidatur, auf mögliche Angriffspunkte hatte die Partei sie nicht gut
       genug untersucht. Als die erste Welle der Kritik auf sie einschlug, wegen
       Plagiaten und Lebensläufen, reagierten die Grünen konfus.
       
       Bei der Zusammenstellung des Kabinetts im November, von Konflikten
       begleitet, nach anstrengenden Monaten des Wahlkampfs und der
       Koalitionsverhandlungen, fehlte die Sorgfalt dann wohl schon wieder. Dass
       Spiegel möglicherweise die falsche Besetzung ist oder dass man sich
       zumindest eine Strategie für den Fall überlegen müsste, dass Vergangenes
       wieder hochkommt – es fiel den Grünen offenbar nicht auf.
       
       Misslich für die Partei, tragisch für die Familienministerin, die am Ende
       keine vier Monate im Amt war. „Voller Vorfreude und Tatendrang“ war sie im
       Dezember gestartet. Sie arbeite zu Themen, für die sie „brenne“, sagte sie
       zu ihrer Amtseinführung. Sie habe sich viel vorgenommen: die
       Kindergrundsicherung, einen Gleichstellungscheck von Gesetzesvorlagen im
       Kabinett, die Abschaffung des Paragrafen 219a.
       
       ## Unvollendete Aufgaben für andere
       
       Nicht viel später allerdings machte eine Covid-Erkrankung Spiegel einen
       ersten Strich durch die Rechnung. Am 24. Februar wurde sie positiv
       getestet. Als in einer aktuellen Stunde im Bundestag über die
       Flutkatastrophe auch über Spiegel selbst debattiert wurde, konnte sie nicht
       anwesend sein. Noch vier Wochen später schrieb sie in einem Statement, die
       „schweren Covid-Symptome“ hätten ihr seitdem nicht erlaubt, Termine
       wahrzunehmen. Noch immer leide sie an Symptomen.
       
       Immerhin aber nahm sie nach und nach die Arbeit wieder auf. Gemeinsam mit
       Bundesarbeitsminister Hubertus Heil brachte sie zunächst den Sofortzuschlag
       auf den Weg, den Vorläufer der Kindergrundsicherung: Mit tatsächlich nur 20
       Euro monatlich sollen von Armut betroffene Kinder ab Juli unterstützt
       werden. Seitdem sie wieder im Dienst war, arbeitete Spiegel unter anderem
       zur Ukraine, richtete eine Koordinierungsstelle zur Aufnahme ukrainischer
       Waisenkinder ein, kümmerte sich um deren Aufnahme.
       
       Die unvollendeten Aufgaben: Um sie wird sich nun jemand anderes aus der
       Partei kümmern müssen. Einfach wird die Auswahl wieder nicht. Proporze
       sollten berücksichtigt werden, das Geschlecht, der Parteiflügel. Schnell
       soll es gehen. Aber einen Kopf dafür haben am Montag noch nicht alle in der
       Partei.
       
       11 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ruecktritt-von-Ministerin-Anne-Spiegel/!5845195
   DIR [2] /Flutkatastrophe-an-der-Ahr/!5848444
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Schmidt-Lunau
   DIR Tobias Schulze
       
       ## TAGS
       
   DIR Anne Spiegel
   DIR Flutkatastrophe in Deutschland
   DIR Urlaub
   DIR GNS
   DIR Familienministerin
   DIR Familienministerium
   DIR Ostern
   DIR Rücktritt
   DIR Anne Spiegel
   DIR Flutkatastrophe in Deutschland
   DIR Anne Spiegel
   DIR Flutkatastrophe in Deutschland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Rücktritt von Familienministerin Spiegel: Ehemänner und Kinder unerwünscht
       
       Weiterhin ringen Frauen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der
       Fall Anne Spiegel wirft ein neues Licht auf ein altes Problem.
       
   DIR Ostern und die positive Fehlerkultur: Sorry sagen reicht nicht mehr
       
       Fehler zugeben und hoffen, damit durchzukommen, trendet unter
       Politiker*innen. Doch gerade an Ostern gilt: Keine Beichte ist umsonst.
       Vergebung kostet.
       
   DIR Nachfolgerin für Anne Spiegel: Kein Ostern ohne Ministerin
       
       Die Grünen wollen schnell eine neue Familienministerin finden. Einiges
       deutet auf Katrin Göring-Eckardt hin. Für die Parteilinken wäre das bitter.
       
   DIR Rücktritt von Ministerin Anne Spiegel: Zwischen den Krisen
       
       Die zurückgetretene Familienministerin Spiegel erklärte ihren Urlaub mit
       persönlichen Gründen. Muss während privater Krisen eine Auszeit möglich
       sein?
       
   DIR Flutkatastrophe an der Ahr: Spiegel bittet um Entschuldigung
       
       Ihren vierwöchigen Urlaub zehn Tage nach der Flutkatastrophe bezeichnet die
       Bundesfamilienministerin als „Fehler“. Kanzler Scholz spricht ihr sein
       Vertrauen aus.
       
   DIR Familienministerin Anne Spiegel: Sie sollte zurücktreten
       
       Anne Spiegel hat in ihrer Rolle als Umweltministerin in Rheinland-Pfalz bei
       der Ahr-Katastrophe versagt. Sie sollte zu ihrer Verantwortung stehen.
       
   DIR Flutkatastrophe im rheinland-pfälzischen Ahrtal: „Apokalypse“ war nicht absehbar
       
       Malu Dreyer kann im Mainzer Untersuchungsausschuss die Vorwürfe der
       Opposition parieren. Die fordert aber weiter Anne Spiegels Rücktritt.