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       # taz.de -- Zwischen Glück und Schuldgefühlen: Die Notwendigkeit von Ignoranz
       
       > Die Welt scheint in den letzten Jahren und Monaten noch düsterer geworden
       > zu sein. Manchmal hilft es dann, kurzzeitig alles auszublenden.
       
   IMG Bild: Menschen bewegen sich am 11. April hinter Barrikaden – Shanghai ist im Lockdown
       
       Mir ist aufgefallen, dass ich kaum noch jemanden kenne, der sich nicht für
       [1][das eigene Glücklichsein] schämt. Jede Form von Glück ist betroffen:
       Das große Glück, in Sicherheit zu leben, genug zu essen zu haben, keine
       Soldaten fürchten zu müssen. Das kleinere, nicht unwesentliche Glück, in
       einer bezahlbaren Wohnung zu leben, vielleicht mit Balkon, Badewanne und
       einem Kontostand, der keine monatlichen Angstzustände auslöst. Das Glück,
       ein paar Minuten die Aprilsonne im Gesicht zu spüren. Und sich die Welt
       leicht zu denken, wenn auch nur ein paar flüchtige Momente lang.
       
       Mir ist aufgefallen, dass ich niemanden kenne, der die Welt als leicht
       bezeichnen würde. Zu Recht. Vermutlich sind sie alle Realist*innen.
       Depressive, optimistische, resignierte Realist*innen. Ein paar sind nicht
       nur eines und ein paar andere sind sogar alles davon. Was sie eint, [2][ist
       das schlechte Gewissen], das sie einholt, sobald sie vor der Welt kurz die
       Augen verschließen oder lieber in die Wolken gucken statt in die Zeitung.
       
       Wir fragen „Wie geht es dir?“ und die einzig moralisch tragbare Antwort
       scheint: „Gut, also in Anbetracht des Zustands der Welt.“ Oft ist das „gut“
       gelogen. Aber neulich ging es mir wirklich gut, obwohl mein Kopf versucht,
       sich auf keinen Fall an die Bilder und Wörter des Krieges zu gewöhnen, und
       obwohl mein Herz in Shanghai liegt, wo D alte Lebensmittelmarken von 1956
       betrachtet, während er für sich und seine Frau eine große Kartoffel kocht.
       Ich wusste um diese Gleichzeitigkeiten. Ich habe mich entschieden, kurz
       wegzugucken.
       
       Mir ist aufgefallen, dass ich zwischendurch Scheuklappen tragen muss. Es
       ist schädlich, in der Hässlichkeit der Menschheit zu versinken. Wer die
       Wahl hat, darf sich nicht der Aussichtslosigkeit ergeben. Schulden wir das
       nicht denen, die weder Wahl noch Aussicht haben?
       
       Es gibt ein kurzes Gedicht von Hilde Domin, es liegt seit Sonntagabend in
       meinem Posteingang. Wer es könnte / die Welt / hochwerfen / daß der Wind /
       hindurchfährt. Ich habe mir einen Riesen vorgestellt, für den Planeten bloß
       Spielbälle sind. Er wirft den Merkur, den Jupiter, sogar die Erde. Sie ist
       das Schwerste, was ihm je begegnete, obwohl der Jupiter 318-mal mehr wiegt.
       Aber auf dem Jupiter leben keine Menschen und Schwere ist nicht gleich
       Gewicht.
       
       Es gibt einen hölzernen Turm, auf einem Pass in den Schweizer Bergen. In
       dem Turm gibt es eine hochfahrbare Bühne und auf der Bühne steht ein
       Flügel. Neulich habe ich zugehört, wie jemand auf dem Flügel spielte, auf
       fast 2.300 Metern über dem Meeresspiegel, draußen uralte Felsen. Da war die
       Welt kurz wie hochgeworfen. Wie gut, sich zu erinnern, dass Menschen auch
       unsagbar Schönes schaffen können.
       
       Mir ist aufgefallen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Kurz- und
       Langzeitignoranz. Die erste erhält uns, die zweite tut das Gegenteil.
       
       12 Apr 2022
       
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