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       # taz.de -- Mutter-Tochter Geschichte aus dem Tschad: Wo Frauen einander helfen
       
       > Mahamat-Saleh Harouns Film „Lingui“ beobachtet das kluge Savoir-vivre
       > einer Mutter und ihrer Tochter im Tschad. Dort darf der Film nicht
       > laufen.
       
   IMG Bild: Maria (Rihane Khalil Alio) und Amina (Achouackh Abakar Souleymane) in „Lingui“ ​
       
       Das schöne Wort „Lingui“ steht im Sprachgebrauch der Menschen im
       zentralafrikanischen Tschad für selbstverständliche Hilfsbereitschaft und
       Solidarität. So erklärt der [1][Regisseur Mahamat-Saleh Haroun] geduldig
       den Titel seines neuen Films, seit er bei den Filmfestspielen in Cannes die
       europäische Premiere feierte.
       
       Nichts Exotisches, kein magischer Kitzel für die Schaulust postkolonialer
       Afrika-Enthusiasten liegt in seinem Interesse. „Lingui“ erzählt vielmehr
       eine bodenständige Geschichte, ein realistisches Fallbeispiel für die
       stille Kraft gegenseitiger Hilfe unter Frauen, die Mahamat-Saleh Haroun im
       Land seiner Eltern schätzt.
       
       Dem Film eilt voraus, dass er die heikle Frage kriminalisierter Abtreibung
       in einem muslimisch geprägten afrikanischen Land thematisiere. Aber
       anstelle eines großen Dramas, das vorgeprägte Erwartungen anspricht, nimmt
       der Film uns mit, die Welt der beiden Protagonistinnen Amina (Achouackh
       Abakar Souleymane) und Maria (Rihana Khalil Alio), Mutter und Tochter in
       einem der ärmeren Arrondissements der tschadischen Hauptstadt N’Djamena
       kennenzulernen. Mit ihnen tauchen wir ein in die Gleichzeitigkeit urbaner
       Moderne und archaischer patriarchaler Verhaltensregeln.
       
       Im Alltag von Amina und Maria stoßen und überschneiden sich die Sphären, da
       kommt es auf Initiative und Überlebenskunst an. „Lingui“ beobachtet ihr
       kluges Savoir-vivre genau, besonders in der Eingangssequenz, in der die
       vielleicht 35-jährige Amina ihrer Arbeit nachgeht.
       
       ## LKW-Reifen zu Grillkörben
       
       Ihr Atem ist zu hören, Schweiß läuft in Großaufnahme über ihr Gesicht, dann
       erst erkennt man, mit wie viel Geschick und Muskelkraft die Frau in Jeans
       und T-Shirt einen Lkw-Reifen aufschneidet und entkernt und den recycelten
       Stahldraht sodann als Material für ihr Produkt nutzt, eine Sorte kunstvoll
       getriebener und geflochtener Grillkörbe. Ich wollte, dass sich Filme
       hierzulande mit ähnlich souveräner Ruhe und Neugier der Handarbeit widmen
       würden. „Lingui“ gibt ein Bild dieser selbstbestimmt arbeitenden Frau,
       bevor der erste Dialogsatz zu hören ist.
       
       Wenn Amina zum Straßenverkauf aufbricht, ist sie in die traditionelle
       bodenlange Kleidung der tschadischen Frauen gekleidet. Auf dem Kopf
       balanciert sie einen Turm aus übereinandergestellten Grillkörben, von
       Weitem ein Blickfang wie eine wandelnde Skulptur in der staubigen Hitze.
       Momente, in denen die Frauen traditionelle Kleidung tragen, wechseln mit
       Szenen in knapper moderner Kleidung.
       
       Es gibt afrikanischen Pop im Kopfhörer und eine Party von Marias Freundin
       am Swimmingpool, aber auch das einsame Gebet der Mutter außerhalb der für
       sie unzugänglichen Moschee. Amina muss sich die patronisierende Kontrolle
       durch den Imam gefallen lassen, bricht jedoch, wo sie kann, das Rauchverbot
       für Frauen.
       
       ## Gemeinsame Strategie
       
       Sie bekommt es mit dem pubertären Trotz ihrer 15-jährigen Tochter zu tun.
       Maria will nicht das Außenseiterleben der Mutter wiederholen. Vor Marias
       Geburt unverheiratet vom Vater des Kindes verlassen, lebt sie verstoßen von
       der eigenen Familie. Es kommt ans Licht, dass Maria schwanger ist und
       deshalb ihren Platz in der Schule verlor. Zunächst erschrocken über den von
       ihrem Glauben verbotenen Wunsch der Tochter, abzutreiben, entwickeln die
       beiden jedoch bald eine gemeinsame Strategie, um gegen die ablaufende Uhr
       Hilfe zu finden.
       
       Wie in all seinen im Tschad gedrehten Spielfilmen spart der in Paris
       lebende Autor und Regisseur auch in „Lingui“ nicht an Szenen, die ein
       Schlaglicht auf die Scheinheiligkeit der urbanen Mittelschicht werfen. Da
       gibt es die Schuldirektorin, die betrübt feststellt, dass einige Mädchen
       schwanger wurden, sie aber kurzerhand aus dem Vorzeige-Lyzeum entlässt –
       ein indirekter Hinweis auf die mangelnde Aufklärung der Jugendlichen im
       Land.
       
       Da gibt es den Arzt, der für eine Million tschadischer Francs, ein Vermögen
       für die Frauen, den Eingriff vornehmen würde, wenn er nicht eine
       Polizei-Razzia befürchten würde. Und da ist Aminas Schwager in Anzug und
       Krawatte, der die Beschneidung für seine kleine Tochter verlangt und die
       bestellten Jubel-Frauen mit Geldscheinen überhäuft, jedoch getäuscht wird:
       Amina sorgt für einen ungefährlichen Fake der Exzision.
       
       ## Bevormundung und Übergriffigkeit
       
       Der Nachbar schließlich, der der alleinstehenden Amina anzügliche Avancen
       macht, die sie souverän pariert, stellt sich als exemplarisches Beispiel
       für die Bevormundung, Übergriffigkeit und Gewalt heraus, gegen die sich die
       Frauen zu Wehr setzen müssen, sogar in einem Akt der Selbstjustiz.
       
       „Lingui“ ist ein aufrührerisches Plädoyer. Die Hommage an die lebensklugen
       Frauen des Tschad kann im Land jedoch kaum gesehen werden, nicht nur wegen
       der restriktiven religiösen Regeln und der [2][politisch brisanten
       Situation]. In N’Djamena gibt es kein Kino mehr – oder vielmehr eins erst
       in Zukunft, das nicht zuletzt aufgrund von Mahamat-Saleh Harouns
       internationalem Ruhm wiederaufgebaut wird. So bleibt „Lingui“ vorerst ein
       realistischer Traum.
       
       13 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Claudia Lenssen
       
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